Origami aus Stahl

Das Kultur- und Kongreßzentrum Luzern des französischen Architekten Jean Nouvel

Den stärksten Eindruck macht das Dach. Scharfkantig und schier unglaublich weit auskragend, durchstößt es in 21 Metern Höhe den Luftraum vor Luzerns neuem Kultur- und Kongreßzentrum. Das spektakuläre Dach - gleichsam das Markenzeichen des in der vergangenen Woche teileröffneten, malerisch am Ufer des Vierwaldstättersees gelegenen Komplexes - ist ein Meisterwerk, beeindruckend durch seine kühne Konstruktion und seine wundersam wandelbare Erscheinung.

Wirkt es aus der Nähe mal wie ein schwebender Flügel, mal wie ein gigantisches, flachgelegtes Fallbeil, so läßt es aus der Ferne bald an eine Schiebermütze, bald an einen japanischen Papierschirm denken. Und dabei dient es vielen Zwecken, nicht bloß dem Witterungsschutz und als Schattenspender. Es bindet das dreiteilige, aus Konzerthaus, Stadthalle sowie Kunstmuseum und Kongreßzentrum bestehende Gebäude zusammen. Es sorgt, indem es die Traufkante der Nachbargebäude aufnimmt, für seine städtebauliche Integration.

Es beschirmt, die Horizontale des Sees betonend, den Bau vor der majestätischen Gebirgskulisse. Und wer sich darunterstellt, kann erkennen, daß seine topfebene, mit großen Aluminiumplatten verkleidete Unterseite als riesige Projektionsfläche ausgebildet ist. Auf ihr spielen, je nach Witterung, Tages- und Jahreszeit Farbe und Intensität wechselnd, Lichtreflexionen, die das tonnen-schwere Stahlgebilde bisweilen fast entmaterialisiert erscheinen lassen.

Es ist freilich nicht allein die von dem markanten Flugdach bekrönte Architektur des Franzosen Jean Nouvel, die den Luzerner Neubau so bemerkenswert erscheinen läßt. Die enorme Medien-Aufmerksamkeit, die ihm in den letzten Wochen weit über die Schweiz hinaus zuteil wurde, erklärt sich auch aus seiner Vorgeschichte und aus den Hoffnungen, die sich mit ihm verbinden.

Wenn sich eine Stadt mit knapp 60 000 Einwohnern ein so ambitiöses, rund 200 Millionen Franken teures Kultur- und Kongreßzentrum leistet, dann hat dies, so ernst man diesen Aspekt auch nehmen sollte, nicht nur mit Kulturförderung zu tun. Dahinter steckt eine gute Portion Prestigedenken, vor allem aber ein reges, ja vitales wirtschaftliches Interesse. Luzern lebt, wovon die am Seeufer aufgereihten gründerzeitlichen Hotelpaläste ein beredtes Zeugnis ablegen, seit dem 19. Jahrhundert wesentlich vom Fremdenverkehr.

Doch die Tourismusbranche kriselt. See, Alpenpanorama, romantische Altstadt samt weltberühmter Kapellbrücke, sind angesichts globaler Konkurrenz längst nicht mehr Attraktion genug. Die neue Zauberformel heißt "Qualitätstourismus", und das "Jahrhundertbauwerk" KKL, um das in Luzern so lange gerungen wurde, soll ihn beflügeln. Mit diesem Bau wagt die kleine Stadt den großen Wurf.

Die Raumnot der renommierten Internationalen Musikfestwochen Luzern, die just in diesem Jahr ihr sechzigjähriges Bestehen feiern, stand am Anfang der Planungen. Ein neuer Konzertsaal allein wäre aber beim Luzerner Stimmvolk, das über kommunale Großbauten direkt entscheidet, kaum durchsetzbar gewesen. Erst als man das Projekt um eine Stadthalle, ein Kunstmuseum und ein Kongreßzentrum anreicherte, schien eine zukunftsweisende und mehrheitsfähige Paketlösung gefunden. Bis zu seiner endgültigen Durchsetzung vergingen noch Jahre - Effizienz gehört nicht zu den Stärken direkter Demokratie. Anders freilich wäre es zu der überwältigenden Identifikation der Luzerner mit diesem Bau wohl kaum gekommen.

Als großer Mediator des Projektes gilt der Soziologe und Unternehmensberater Thomas Held. Er erarbeitete das Nutzungskonzept des KKL und sorgte, als Geschäftsführer der Trägerstiftung gewissermaßen Bauherr, mit Engagement und viel diplomatischem Geschick für seine Umsetzung. "Held der Schweiz" nannte ihn Die Zeit, und die Luzerner wissen, weshalb. Held war es auch, der Jean Nouvel, den zwischenzeitlich ausgebooteten Sieger des 1989 ausgeschriebenen Architekturwettbewerbes, 1992 zu einem Wiedereinstieg in das Projekt bewegen konnte, dessen Realisierung dann 1994 begann.

Das Interesse an der Wechselwirkung von Licht und Materie, das Spiel mit der Vieldeutigkeit architektonischer Gestaltungen, das sind die vielleicht wichtigsten Konstanten in der sonst vor allem ob ihrer Unkonventionalität gerühmten Arbeit von Jean Nouvel, der mit dem 1987 fertiggestellten Institut du Monde Arabe in Paris erstmals internationales Aufsehen erregte. Das zeigt sich auch in Luzern, wo ihm, auf einem der schönsten Bauplätze Europas, ein Werk gelang, das vielen Beobachtern als Höhepunkt und Synthese seines bisherigen Schaffens gilt.

Der nach seinen Funktionen in drei große Volumen gegliederte mal vor-, mal rückspringende Baukörper zeigt drei völlig verschiedene Fassaden. Während der gläserne Museums- und Kongreßtrakt in ein abwechslungsreich gestaltetes Metallgitterkleid gehüllt ist und sich die Stadthalle als hermetischer, dunkelgrauer Betonkubus präsentiert, deutet der Konzertsaal schon durch die expressive Plastizität seiner Fassadengestaltung auf seine übergeordnete Rolle hin. Große, unregelmäßig angeordnete und tief in teils abgeschrägten Laibungen liegende Fenster prägen im Zusammenspiel mit dunkel (nachtblau, moosgrün, weinrot) gestrichenen Aluminiumplatten seine äußere Erscheinung.

Im mehrstöckigen Foyer, dessen Hauptreiz in den sorgfältig inszenierten Postkarten-Ausblicken liegt, empfängt den Besucher ein ironisch mit vornehmer Gediegenheit und High-Tech-Anmutung spielendes Ambiente. Unaufdringlich erregt hier die (an das Heck eines Dampfers oder aber an den Resonanzkörper eines überdimensionierten Streichinstrumentes erinnernde) plastische, mit Ahornholz verkleidete Außenform des eigentlichen Konzertsaales die Aufmerksamkeit.

Wer ihn, über schmale, gangwayartige Zugänge betritt, erlebt eine Überraschung, vielleicht auch eine Enttäuschung. Denn der in enger, manchmal auch konfliktreicher Zusammenarbeit mit dem New Yorker Akustiker Russell Johnson entwickelte "Schuhschachtel-Saal" mit seinen vier umlaufenden Rängen wirkt vergleichsweise konventionell. Die auffälligsten Details sind hier neben einem riesigen hölzernen Reflektor, der gleichzeitig als Akustikdecke und Kronleuchter dient, die waffelförmig gestalteten Akustikreliefs aus weißem Gips, die die Wände und die tonnenschweren Tore der sogenannten Echokammer (durch die der Saal bei Bedarf zusätzlichen Schallraum erhält) überziehen.

Im Konzertsaal, für seine fabelhafte Akustik bereits überschwenglich gelobt ("Grandios, dieser Saal, einfach grandios", hieß es in der sonst so zurückhaltenden Neuen Zürcher Zeitung), mag die Musik im Mittelpunkt der Gestaltung gestanden haben. Auf der Dachterrasse über dem Foyer aber, feiert die Baukunst ihren Triumph. Hier gelang Nouvel einer jener seltenen Orte, an denen Architektur und Landschaft sich gegenseitig überhöhen.