Haus mit Vergangenheit

Plädoyer für ein deutsches Holocaust-Museum.

In welcher Gedenkstätte wird an die Wehrmacht erinnert?

Selbstverständlich in keiner, denn die Konzentrationslager unterstanden nicht der Wehrmacht, sondern der SS. Die Konzentrationslager wurden nicht vom Reichssicherheitshauptamt geleitet, dessen Geschichte in der Topographie des Terrors dokumentiert wird, sondern (seit 1942) vom SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt. Diese "KZ-Zentrale" residierte in einem Gebäude in Berlin-Steglitz (Unter den Eichen 120-135), das zwar vollständig erhalten ist, in dem sich aber keine Gedenkstätte, sondern bis vor kurzem eine Bundesbehörde befand.

Die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Das gefeierte und zur Abwehr des Holocaustdenkmals (und selbstverständlich auch des geplanten Holocaust-Museums) geforderte Gedenken am "authentischen Ort" ist und muß selektiv sein. Einmal, weil es keineswegs an allen "authentischen" Orten Gedenkstätten gibt - das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt ist nur ein Beispiel -, zum anderen, weil sich die, wie sie auf der hilflosen Gedenktafel vor dem KaDeWe genannt werden, "Orte des Schreckens, die wir nie vergessen dürfen", nicht im Geltungsbereich des Grundgesetzes und des Angestelltentarifs befinden, nach dem die eifrigen Mitarbeiter der Gedenkstätten besoldet werden.

Nun kann man einmal einwenden, daß die inländischen "Orte des Schreckens" gefälligst gekennzeichnet werden sollen. Doch dies hat Grenzen. Konzentrations- und Außenlager von Konzentrationslagern gab es am Ende der NS-Zeit in wirklich jeder Stadt und fast schon in jedem Dorf. Wir können nicht das, was vom Großdeutschen Reich territorial übrig geblieben ist, unter Denkmalschutz stellen und zur Gedenkstätte erklären.

Man kann zweitens einwenden, daß man die ausländischen Gedenkstätten besuchen kann, was seit dem Fall des Eisernen Vorhanges auch relativ einfach ist. Natürlich soll man dies. Und derartige Gedenkstättenfahrten haben ihren Sinn keineswegs verloren. Dennoch können auch diese Gedenkstätten, die übrigens viel authentischer sind als unsere, nur einen Ausschnitt dessen dokumentieren, was nun - wir können es nicht mehr ändern - mit dem problematischen, weil religiös konnotierten Begriff des Holocaust bezeichnet wird.

Die meisten Opfer des Holocaust sind weder in den Konzentrations- noch den Vernichtungslagern, sondern in den "weiten Räumen des Ostens" ermordet worden. Ihre Leichen wurden erst verscharrt, dann wieder ausgegraben und verbrannt. Die Einsatzgruppen, die Wehrmacht und die Polizeibataillone haben Akten, aber keine Spuren ihrer Verbrechen hinterlassen.

Durch Gedenkstätten allein - und seien es noch so viele und gute - können wir die Dimensionen des Holocaust nicht begreifen. Dieses Gedenken ist selektiv. Es korrespondiert zudem aus deutscher Sicht mit einer selektiven Wahrnehmung des faschistischen Terrorsstaates, der vom Nordkap bis Sizilien und von Nordafrika bis zum Kaukasus reichte und der fast überall Verbrechen begangen hat.

Die weitaus meisten und schlimmsten Verbrechen wurden zudem nach Ausbruch des Krieges begangen, der von Anfang an, wenigstens im Osten, ein Rassenkrieg war, dessen Dimension wir immer noch nicht ganz wahrnehmen wollen, weil es schließlich unsere Väter und Großväter waren, die in der notorisch "sauberen Wehrmacht" und in anderen Einheiten an diesem Rassenkrieg teilgenommen haben.

Daß wir diese geographische und zeitliche Dimension des zum "Dritten Reich" verniedlichten faschistischen Rassenstaates immer noch nicht ganz wahrgenommen haben, liegt auch an einer dichotomischen Sichtweise, die im Westen durch das Begriffspaar "Verfolgung und Widerstand" und im Osten durch "Antifaschismus contra Faschismus" bestimmt war.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Selbstverständlich hat es (deutschen) Widerstand gegeben, und ich kann gewissen Politikern, politisierenden Professoren und gut bezahlten Verfassungsschützern absolut nicht zustimmen, für die "Antifaschismus" ein böser und tendenziell verfassungsfeindlicher Begriff ist. Dennoch war dieser Widerstand gegen Hitler nur ansatzweise und indirekt ein Widerstand für die Juden - von den Sinti und Roma und den sogenannten anderen Opfern des nationalsozialistischen Rassismus erst gar nicht zu reden. Und dies trifft sowohl für den antifaschistischen wie den bürgerlichen Widerstand zu, wobei ich vom sogenannten Kirchenkampf lieber schweige.

Nein, die Epoche - und hier kann man ruhig den "frühen Ernst Nolte" zitieren, die "Epoche des Faschismus" stand nicht im Zeichen von Faschismus und Antifaschismus, sondern des Holocaust und des beispiellosen Rassenmordes generell. Wir haben lange gebraucht, um dies zu erkennen. Und einige, Rechte wie auch Linke, haben immer noch Schwierigkeiten zu begreifen, daß der Holocaust das zentrale Ereignis in diesem Jahrhundert und der Zivilisationsbruch schlechthin war. Daran können alle Leugnungen und aufrechnenden Vergleiche mit dem "Klassengenozid" der Kommunisten ˆ la "Schwarzbuch des Kommunismus" nichts ändern, wobei ich von den noch törichteren Vergleichen zwischen dem NS- und dem "SED-Staat" absehe. Das Verbrechen dieses Jahrhunderts war der Holocaust, und er war nun mal ein "deutsches Projekt" (Goldhagen). Der Holocaust gibt uns die Fragen vor:

Warum im so modern scheinenden 20. Jahrhundert? Warum hier? Warum waren es "die Deutschen"? Warum waren es nicht "die anderen", obwohl viele von ihnen auch antisemitisch, rassistisch etc. waren, ja auch Verbrechen begangen haben? Liegt es an der Geschichte, Kultur, Ideologie etc. "der Deutschen"? Gibt es einen "deutschen Sonderweg"? Wenn ja, wann begann er, und noch viel wichtiger: Wann hat er aufgehört? Ist er überhaupt zu Ende gegangen, weil, wie Goldhagen etwas blauäugig meinte, die Deutschen nun demokratisiert seien? Sind sie das wirklich? Gibt es keinen Faschismus, Rassismus und trotz aller philosemitischen Lippenbekenntnisse keinen Antisemitismus mehr bei uns und auch bei "den anderen"?

Diese und viele andere Fragen sollen nach den Vorstellungen der gleichnamigen "Initiative" in einem "deutschen Holocaust-Museum" gestellt und in einem sicherlich langen Lernprozeß durch Dokumentation und museale Gestaltung beantwortet und zugleich vermittelt werden. Dieses "Holocaust-Museum" soll keineswegs nur den Mord an den europäischen Juden, sondern auch der "anderen Opfer" dokumentieren, was übrigens auch im Holocaust-Museum in Washington der Fall ist.

Es soll keineswegs nur die Zeit von 1933 bis 1945 behandeln, sondern weit in die Geschichte zurückgreifen und 1945 keineswegs aufhören. Es soll zum Beispiel auch eine zentrale Dokumentation der Geschichte und Gegenwart des sogenannten Rechtsextremismus und Rassismus enthalten, die es bisher nirgendwo gibt.

Es soll in der Tat ein "deutsches Holocaust-Museum" sein, das die wirklich wichtigen "Fragen an die deutsche Geschichte" stellt und den Holocaust als das betrachtet, was er war - das Verbrechen dieses Jahrhunderts. Dieses "deutsche Holocaust-Museum" soll eine zentrale Dokumentation und ein Museum, aber kein Ersatz für irgendeine Gedenkstätte sein, obwohl es sich auch mit der Zukunft des Gedenkens beschäftigen soll. Es könnte ein Haus der Zukunft mit viel Vergangenheit sein.

Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und gehört zum Kuratorium des Holocaust-Museums