Nicht für Jedermann

Auf den 78. Salzburger Festspielen geht's zu wie auf dem Katholikentag

Die Eröffnungsrede hielt Kardinal König. "Wenn Affären und Skandale, Vertuschtes und Verschwiegenes auf der katholischen Seele des Landes lasten, dann tröstet der Gedanke, daß da einer ist, der weit über die kirchliche Öffentlichkeit hinaus im Ansehen steht."

So kündigte die Salzburger Zeitung Franz König an, und wahrscheinlich tröstete der 92jährige Kirchenmann seine Schäfchen tatsächlich, als er zu Beginn der Salzburger Festspiele noch einmal vor dem Marxismus warnte, um dann auf Sinn und Zweck eines starken christlichen Glaubens hinzuweisen. Wiens ehemaliger Bischof hatte seinen Job erwartungsgemäß erledigt, und es ahnte wohl noch keiner, daß die Festspiele die Erwartung des Festredners weitgehend erfüllen würden.

Festspielintendant Gérard Mortier widersprach dem Prediger zwar kurz darauf in aller Öffentlichkeit, warnte seinerseits vor den "Gefahren des hemmungslosen Kapitalismus" und erklärte ebenso feierlich, die Aufgabe der Festspiele bestehe darin, "über die Kultur den Geist zu öffnen", aber schon die Auftaktveranstaltung, Peter Zadeks Salzburg-Debüt mit der Brecht/Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", verabschiedete sich aus Mortiers mühselig aufgebauter "Werkstatt der Aufklärung". Die permanente Hoffnungslosigkeit ist das neue Thema, und in dieser Situation greift man wieder auf den Mythos zurück. Am Ende des 20. Jahrhunderts, nach fast achtzigjähriger Festspielgeschichte, scheinen Visionen von Heil und Erlösung das Programm zu bestimmen.

Die Bewohner Mahagonnys werden von der Naturkatastrophe verschont, der Wirbelsturm "macht einen Bogen" um ihre Stadt, das Verderben bringt nach Brecht nicht die höhere Gewalt, sondern die handfeste Macht des Geldes. Zadek inszeniert "Mahagonny" als Historiendrama. Der Regisseur will einen Orginal-Brecht und entreißt dem Stück jede Aktualität. Die Sänger treten nicht im Sünden-Babel auf. Ihre Gesten erinnern vielmehr an die Szenen, die man im Großen Festspielhaus sonst gewohnt ist. Ein doppelter V-Effekt sozusagen, der Brechts Oper zur Deko-Orgie degradiert.

"Bei großer Musik ist alles, was auf der Bühne passiert, so viel uninteressanter und banaler als die Musik", behauptet Zadek, doch die Musik Kurt Weills konnte an der Banalität auf der Bühne auch nichts ändern. Zadek hatte ein anderes Ziel. Dennis Russel Davies dirigierte das Radio Symphonieorchester Wien so sorgfältig wie möglich, doch der ordentliche Klang machte alles nur noch schlimmer. Weills Songs wurden einem imaginären Broadway-Museum übergeben.

Wahrscheinlich war und ist Zadek der Meinung, Brechts durchaus vernünftige Botschaft sei verstaubt, weil sie eh nichts bewegen kann. In Salzburg vor dem Geldadel schon gar nicht. Deshalb hält er seine Mottenkisten-Aufführung für gerechtfertigt. Das kann man nun Zynismus oder Realismus nennen. Was tun? Vielleicht hilft beten.

So wie die "Getreuen" in Hal Hartleys "Soon". Der jüngst in Cannes ausgezeichnete Filmemacher aus den USA hat auf der Perner Insel im benachbarten Hallein das konsequenteste Eschatologie-Stück der Festspiele vorgestellt. Vor einer riesigen Wand aus gerahmten Glasrechtecken bereiten sich die Anhänger einer Sekte auf die Ankunft des Erlösers und auf den Endkampf mit den Schergen Babylons vor. In der Gruppe finden sich Propheten, das religiöse Treiben bestärkt die Gruppendynamik: Liebe, Schwangerschaft, Eifersucht, Gott, Wahn und Tod. Mechanisch ziehen Hartleys Schauspieler über das rote Parkett. Was gesagt wird, wird durchs Mikrophon gesagt. Selten wurde das Innenleben einer religiösen Gemeinschaft so präzise beschrieben.

Hartley hält sich mit dem Kommentar zurück. "Musical play" nennt Hartley seine ersten Bühnenarbeit, die er besser "Documentary on stage" genannt hätte. Die sphärischen Sounds von Hartley und Jim Coleman sind nur der lautmalerische Hintergrund für die Darstellung religiöser Opferbereitschaft.

Eigentlich sollte die Ehrung Elfriede Jelineks zum Höhepunkt des Salzburger Theater- und Literaturprogramms werden. Ivan Nagel, zum ersten und letzten Mal Schauspielchef der Festspiele, hatte sich eigens mit intriganten Lokalpolitikern angelegt und mit der ebenso bodenständigen Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler, um sein Jelinek-Konzept durchzusetzen. Mit der Zwölf-Stunden-Performance "Reise durch Jelineks Kopf", mit Lesungen, Ausstellungen und der Uraufführung ihres neuesten Stücks "er nicht als er" sollte das Werk der Dichterin vorgestellt und gewürdigt werden.

Wenn man Nagel glaubt, dann verursachen die Arbeiten der Jelinek Ekelgefühle bei der Rabl-Stadler. Wer wie die Jelinek gegen das Heimatland stänkert, findet in Österreich viele Feinde. Allen voran Haider und seine Schreibkräfte von der Kronen Zeitung. Die Aufregung hat sich allerdings vorerst gelegt: Nagel verläßt die Festspiele, weil er auf den Intrigantenstadel keine Lust mehr hat, und die Jelinek-Show hat die Festspielgäste nicht sehr verstört. Die kamen nämlich erst gar nicht. Das Landestheater, wo gelesen wurde, war oft leer; gerade mal Jelineks Kurzauftritt im kleinen Kabuff unterm Marionettentheater lockte die Fans.

In der Salzburger Uraufführung von Jelineks "er nicht als er" (mit dem mahnenden Zusatztitel "zu, mit Robert Walser") versuchen drei Kulturschnepfen, sich dem Schicksal des Schweizer Schriftstellers Robert Walser zu nähern. Das ist schwer, denn der war ein Meister der Distanz. Nur zäh können die Suchenden mit dem Schriftsteller Kontakt aufnehmen: "Moment, bleiben Sie stehen! Ihnen schaut da die Seele zum Körper heraus, als wär da ein Werk wie eine schlummernde Göttin in Ihnen, die selbst im Schlaf noch fort will."

Man ist im Sprachkampf vor allem mit der Jelinek, weiß nie so genau, ob ihre Walser-Worte nun ernst, ironisch oder lustig gemeint sind, erinnert sich an die mühsamen "Kinder der Toten", die zuvor im Foyer vorgelesen worden waren. Eine Art postgrufter Barock. Jelineks Haß auf die lebendige Welt erscheint aufdringlich religiös, womit sie ihren Gegnern ähnlicher ist, als sie denkt. Da wirkte selbst der Schlingensief befreiend, der zusammen mit seinem Freund Martin Wuttke sich über Jelineks Prosa hermachte.

Die herausragende Leistung der 78. Salzburger Festspiele aber ist ein anderer Gottesdienst: Leos Jan‡ceks "Katja Kabanova". Im Zentrum der Oper steht das Schicksal einer Frau, die das fade Leben mit ihrem Ehemann und die Diktatur der Schwiegermutter nicht aushält. Katja flieht vor der Lebensöde in die Liebe zu Boris. Den Ehebruch hält sie aber nicht aus; verfolgt von den furchtbaren Mitmenschen sucht die fromme Frau schließlich den Tod. Angela Denoke singt die Rolle der Kabanova grandios. Ihre auch in den leisen Phasen kraftvolle Stimme bestimmt das Geschehen - ohne dominant zu sein.

Der Auftritt Denokes ist fast zu perfekt; so eine Katja darf nicht sterben! Doch in dem von Anna Viebrock gebauten Hinterhof wird die Flucht vor dem Stumpfsinn plausibel. Der Mörtel blättert von den Wänden, in der Mitte des Raumes eine verrostete Brunnenanlage. Radikaler kann man den Ost-Muff nicht darstellen. Regisseur Christoph Marthaler läßt die Sänger mit dem Kopf gegen die Mauer herumstehen oder fies aus den Wohnungsfenstern glotzen. Manchmal tanzen sie auch oder machen Streiche.

Marthalers Personendirigat paßt optimal zu der sich aufbäumenden, aber jedes Motiv abbrechenden Musik von Jan‡cek. Eines ist nach Marthaler aber klar: Wer überlebt, hat es nicht unbedingt besser. Die Musik allein übernimmt eine messianische Funktion. Die Tschechischen Philharmoniker unter der Leitung von Sylvain Cambreling spielen das Innenleben der Katja heraus: Mit jedem Takt erreicht ihre Sehnsucht nach Erlösung das begeisterte Publikum.

Nun treffen sich in Salzburg nicht die armen Leute aus dem Osten. Die Ohnmacht im gleichförmigen Alltag war aber auch den Anwesenden bekannt. Den sonst so gelangweilt wirkenden Zuhörern und Zuschauern in Salzburg gefiel diese prächtig inszenierte Messe, welche die lähmende Dauer-Katastrophe gefeiert hat.