Die Sogkraft der O

Caroline Fischers Studie über das Pornographische in der Literatur verwechselt feministische Kritik mit moralischer Reaktion

Der Allgegenwart von Sexualität in den Medien steht im akademischen Bereich eine seltsame Hemmung gegenüber, sich wissenschaftlich mit dem Thema Pornographie zu beschäftigen. Während die kulturindustrielle Aneignung und Produktion von Intimität längst Teil der Alltagserfahrung geworden ist, kommen Diskurse zur erotischen Bilderwelt in Film und Literatur bisher nur selten zum Zug.

Kritische Analysen, die sich weder auf das fundamentalpuritanische Bilderverbot einstiger PorNo-Kampagnen versteifen noch einem neokonservativen Sexismus das Wort reden wollen, bewegen sich leicht auf unsicherem Terrain. Daher wurde Pornographie im deutschen Sprachbereich bisher kaum zum Gegenstand von Forschung.

Insbesondere in der Literaturwissenschaft wird der Frage nach dem künstlerischen Umgang mit pornographischer Phantasie wenig Bedeutung beigemessen. Untersuchungen zu erotischen Sprachkunstwerken sind rar und dringen weit weniger ins öffentliche Bewußtsein als die Auseinandersetzung über die visuelle Darstellung von Sex.

Vor diesem Hintergrund bedeutet Carolin Fischers Kompendium über die "Gärten der Lust" zunächst einmal eine vielversprechende Herausforderung. In ihrer umfangreichen Studie, die sich zugleich als "Geschichte der erregenden Lektüren" versteht, setzt sie sich mit den erotischen Werken der Weltliteratur von der Antike bis zur Gegenwart auseinander. Ihr geht es in ihrer Arbeit um die Beschreibung eines Genres, nämlich um die Darstellung erotischer Erzählkunst und der ihr eigenen Ästhetik. Was sie interessiert, sind die Schemata, Regeln und Stereotypen der verschiedenen Werke sowie ihre besondere sprachliche Kreativität. Sie analysiert die erotische Wirkung von Sprache und das schöpferische Potential ihrer jeweiligen Ikonographie.

Dabei spannt Fischer den Bogen ihrer Untersuchung von Sapphos Liebeslyrik und Ovids "Ars amatoria" bis zu Arsans "Emmanuelle" und Pauline Réages "Geschichte der O". Grenzerscheinungen wie etwa die Werke Henry Millers und Anäis Nins werden bei ihr ebenso behandelt wie etwa die "Kurtisanengespräche" von Pietro Aretino, Boccaccios "Decamerone" oder das babylonische "Gilgamesch-Epos". Exemplarisch verdeutlicht sie die Konstruktionsprinzipien, forscht nach epochentypischer Metaphorik und Struktur sowie nach Parallelen und allgemeingültigen Kriterien.

Daß sie die durch Literatur hervorgerufene sinnliche Erregung als "ästhetische Erfahrung par excellence" begreift, gehört zu den Grundthesen ihrer Studie. "Sind etwa Tragödien und Komödien deshalb schlecht", begegnet sie möglichen Einwänden, "weil sie uns zu Tränen rühren oder zum Lachen bringen? Akzeptieren wir nicht fraglos, daß diese Gattungen physische Reaktionen hervorrufen und intensivste Eindrücke vermitteln?"

Die Themen, die Fischer berührt, sind so vielfältig, wie der komplexe Stoff ihrer Abhandlung erahnen läßt. Entsprechend dreht es sich um Liebe, Tod und Eifersucht, um Verführung, Ehebruch und Misogynie, aber auch um Prostitution, Vergewaltigung, Empfängnisverhütung und Abtreibung. Rezeptionsästhetisch gibt sie anhand der verborgenen Zeichen von Zensur und Diskretion auch Hinweise auf Moralvorstellungen und die unterschiedliche Einschätzung von obszönem Vokabular.

Warum es ihr trotz der im Stoff enthaltenen Fülle von spannenden Aspekten nicht so recht gelingen will, ihr Genre aus einer aufklärerischen Perspektive zu beschreiben, hat unterschiedliche Gründe. Zum einen fehlt der emsigen Chronistin der Leidenschaft selbst jene besondere Lust am Text, die mit den Formen des Schreibens auch das Denken problematisiert. Schwerer wiegt jedoch noch ihre fast schon idiosynkratische Abwehr des "doppelten Ballastes", der ihrer Ansicht nach aus "konsumkritischen und feministischen Vorurteilen" erwächst. Was sie darunter versteht, sind vor allem Thesen zur "Vorherrschaft des Patriarchats" sowie jede Menge Defätismus und Lustfeindlichkeit.

Im blinden Vertrauen auf den Zeitgeist beraubt sie sich jeder kritischen Reflexion und theoretischen Standortbestimmung. So blendet sie den Diskurs zum Verhältnis von Sexualität und Macht ebenso aus wie die Bedeutung von Identitätsgestaltung und kultureller Selbstinszenierung. Sie ignoriert den Zusammenhang von literarisch imaginierter Weiblichkeit und gesellschaftlicher Fabrikation weiblicher Subjektivität. Und im Widerwillen gegen jede Aufklärungskritik am Warenfetischismus schweigt Fischer auch zur Frage nach dem Blick auf den weiblichen Körper und dem Begriff einer fetischisierenden Bildersprache.

Woher rührt nun ihr unübersehbares Desinteresse an kulturhistorischen Schlußfolgerungen und sozialpolitischen Erkenntnissen? Worauf zielt ihr provozierender Sprachduktus und die permanente Rede vom "schwachen Geschlecht", in der selbst die Anführungsstriche mehr Augenzwinkern als Hinterfragen bedeuten? Zieht sie die falschen Konsequenzen aus den Lehren der Differenztheorie oder handelt es sich schlichtweg um frauenfeindliches Rollback? Spontan fühlt man sich bei der Lektüre an die Medienauftritte von Camille Paglia erinnert, die mit ihren biologistischen Thesen zum Geschlechterverhältnis einen Sturm der Empörung in der Frauenszene auslöste. Zwar hütet Fischer sich davor, wie Paglia rückhaltlos die Lust an weiblicher Unterwerfung zu propagieren und die Gewaltverhältnisse in der Sexualität als aufregendes Mysterium der Natur zu verherrlichen. Eher schwärmt sie unschuldig von der "Sogkraft und steigenden Spannung" in Pauline Réages knallhartem Roman "Geschichte der O". Gleichwohl verrät ihr rein geschmäcklerischer Umgang mit erotischer Literatur genau jene Grundhaltung, die auf einer Verwechslung von Feminismus und moralischer Reaktion beruht.

Es ist ein folgenreicher Irrtum. Und in Fischers Abhandlung verdichtet er sich geradewegs zu der Vorstellung, daß noch jede emanzipatorische Einsicht den unbeschwerten Genuß ihrer delikaten Lesefrüchte verderbe. Im vermeintlichen Tabubruch kokettiert sie zwischen den Zeilen mit Gewaltphantasien und beschränkt sich auf den Horizont der textimmanenten Literaturanalyse.

Beschreibend, nacherzählend und plaudernd spaziert sie mal durch die laszive Götterwelt der Antike, mal durch die französischen Salons der galanten Dichtung und vermag doch weder den moralphilosophischen Diskurs eines de Sade noch die Ästhetik des "Ulysses" so recht zu erfassen. Schließlich gerät ihr das Thema "Erotik" zum Anlaß für eine spektakuläre Illumination der Weltlitertur und dem bornierten Statement, daß "wahre Obsession stärker als politische Erdbeben" sei. Und dies ist kein verspätetes Bekenntnis zu der Botschaft "Das Private ist politisch" oder gar eine Ahnung von individueller Überschreitung und politischem Widerstand. Vielmehr ist es Literaturwissenschaft, die wegen ihrer diffusen Unmittelbarkeit reichlich Stoff für eine schwüle Themengeschichte in Cosmopolitan zu bieten hätte.

Eine grundlegende Phänomenologie der literarischen Pornographie und der erotischen Literatur wäre jedenfalls noch zu schreiben.

Carolin Fischer: Gärten der Lust. Eine Geschichte erregender Lektüren. Metzler, Stuttgart 1997, 250 Seiten, DM 49,80