Wen wollen wir verraten?

Gute Feinde, schlechte Freunde - Die Hoffnungen der Intellektuellen auf den Ruck nach links.

Vor zwanzig, aber auch vor zehn Jahren noch riefen aus der Studentenbewegung kommende und in der Tradition der KPD sich wähnende kommunistische Zirkel vor jeder Wahl dazu auf, die Namen der SPD-Kandiaten anzukreuzen. Nicht weil - darauf wurde großer Wert gelegt - die Sozialdemokraten das kleinere Übel im Vergleich zu den Unionsparteien seien. Im Gegenteil: Die SPD galt - hier war man mit Lenin ff. einig - als größtes Hindernis auf dem Weg zur proletarischen Revolution. Klingt kompliziert, ist aber so einfach wie die zugehörige Parole: "Die Sozis stützen wie der Strick den Gehängten." Sollte heißen: Der Sozialdemokratismus blockiert die revolutionäre Mission des Proletariats deshalb so effizient, weil seine Vertreter als "Agentur der Monopolbourgeoisie" in der Arbeiterklasse zu Hause sind. Solange die SPD parlamentarisch in der Opposition ist, reichert sie ihren kapitalkonformen Reformismus bei Bedarf, etwa bei Arbeitskämpfen, um klassenkämpferische Parolen an, um das Proletariat in dem Glauben zu wiegen, seine Interessen seien bei den Sozialdemokraten bestens aufgehoben. Ein opportunistischer Betrug, der auffliegen muß, sobald die SPD Regierungsverantwortung übernommen hat: Nun zeigen die korrupten Gewerkschafts- und Parteifunktionäre in der Kumpanei mit dem Kapital ihr wahres Gesicht, und die Arbeiterklasse erkennt, daß sie eine eigene Partei braucht - eine kommunistische

Daß diese Strategie nie funktionierte, hat viele Ursachen. Von Interesse ist hier die seltsam anmutende Tatsache, daß das Wahlkreuz für die Sozialdemokraten Zwecke erfüllen sollte, die nicht nur manchem Absender, sondern vor allem dem Adressaten der politischen Macht zum Teil erklärtermaßen völlig fremd sind. Ähnliche Konstellationen gibt es immer noch. In der Mai-Ausgabe des Kölner Popmagazins Spex reflektiert René Martens über die Liaison zwischen dem britischen Pop-Establishment und den Spitzen der New Labour Party Tony Blairs: Das im Wahlkampf noch innige Verhältnis sei rasch zerbrochen, als sich Blair an die Umsetzung seines neoliberalen Programms machte. Insbesondere der Arbeitszwang für junge Leute bis 25 regte die Musikszene auf, man fürchtete eine Einschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten arbeitsloser junger Künstler

Ein Szenemagazin schrieb: "Unsere Musik, unsere Kultur, unser kollektiver Schweiß", sind benutzt worden, "um dieser widerlich reaktionären New Labour Regierung ein Stück radikaler Glaubwürdigkeit zu verleihen. Eine Glaubwürdigkeit, die sie kein bißchen verdient hat." Oder doch? Pop-Freund Blair tut zur Zeit nichts anderes als seine vagen programmatischen Ankündigungen mit jener innovativen Kreativität zu konkretisieren, die seine Pop-Freunde noch vor wenigen Monaten so bewunderten

Ähnliche Verhältnisse kann sich Martens in Deutschland vorstellen: "Je stärker Popstars und Sozis vor dem 27. März kungeln, desto vehementer könnten sich die Musiker schon kurze Zeit nach der erfolgreichen Wahl von 'ihren' Volksvertretern abwenden - und sich vielleicht sogar links von ihnen positionieren, wie sich in Großbritannien (...) ansatzweise gezeigt hat. Eine Wahl Schröders könnte nicht nur dafür sorgen, daß die Kulturszene nach links rückt. Wenn die SPD zum Hauptgegner würde, besteht Anlaß zur Hoffnung, daß die gesamte Linke einen Energieschub erhält. Traditionell konnte sich nur unter sozialdemokratischen Verhältnissen eine linke Sammelbewegung bilden, denn Sozialdemokraten sind eben die besseren Feinde (...)". Martens setzt nach dem gleichen Muster wie die Studentenstrategen der proletarischen Revolution auf die Frustration abgemeierter SPD-Anhänger, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, daß eine "Sammelbewegung" solcher Gestalten der Horror schlechthin wäre. Ein Zusammenschluß von Enttäuschten, die nicht einmal ein Parteiprogramm zu lesen verstehen und ganz überrascht sind, wenn ihre bornierten Klientelinteressen dem Gemeinwesen untergeordnet werden, dem sie doch unbedingt angehören wollen, würde den Ruin der Linken eher beschleunigen als aufhalten

Spex und die K-Studenten gehören zu den Leuten, die an den Sozialdemokraten schätzen, was irrtümlicherweise immer wieder für Verrat gehalten wird, weil sie im (Gegen-)Verrat der vermeintlich Betrogenen - ebenfalls meist irrtümlich - Potentiale für das Fortkommen des Fortschritts sehen. Neben dem Gegenverrat der vermeintlichen Opfer des "konzertierten Volksbetruges" (so der Spiegel letzte Woche über den laufenden Wahlkampf) gibt es noch ein andere Art der Lossagung von der Sozialdemokratie. Es handelt sich hier um eine Art des transzendierenden, des vorauseilenden Verrates, der sich - gerade weil er um die schnöde Politik des SPD Personals weiß - nicht lange mit der Analyse von Wahlprogrammen beschäftigt, sondern selber eines schreibt

Oskar Negt, Soziologieprofessor in Hannover und Schröders "intellektueller Freund" (Spiegel), hat ein Buch geschrieben, das als intellektualisierte Variante des SPD-Wahlprogramms daherkommt. Während es dort heißt: "Zu unserer Steuerreform gehört eine Absenkung der Steuersätze über die gesamte Breite des Tarifverlaufs", schwebt Negt geradezu das Gegenteil vor: "Ohne Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der Reichtumsproduktion" könne "eine Umverteilung von Arbeitsplätzen nicht gelingen." Droht die SPD im Wahlprogramm: "Sollten angebotene Arbeitsplätze ohne wichtigen Grund nicht angenommen werden, so müssen die gesetzlich bestehenden Vorschriften zur Kürzung der Sozialhilfe angewandt werden", schweben Negt im Rückgriff auf André Gorz jenseits von Laubfegen und Ernteeinsatz Tätigkeiten vor, die die Subjekte mit tiefer Befriedigung erfüllen: "An die Stelle kapitalfixierter Arbeit müßten ganz andere Arbeitsnormen treten: beziehungsintensive Tätigkeiten, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens usw., also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen, nicht instrumentell rationalisierbar sind und jenseits der Lohnarbeitsgesellschaft liegen." Auch beim Thema Bildung liegt Negt nicht unbedingt auf einer Wellenlänge mit den Experten der SPD: "Immer sind Bildung, Lernen, Kultur auch Gegeninstitutionen zum kapitalistischen Betrieb gewesen. Man kann sogar sagen, daß diese Institutionen in der bürgerlichen Gesellschaft wesentlich zur Domestizierung des Kapitalprinzips beigetragen haben, damit die begrenzte Rationalität von Markt und Kapitalogik nicht zu weit in die Poren des übrigen gesellschaftlichen Lebens eindringt." Negts "eindeutige Option für die SPD" ist ein Verrat nach Juso-Art: Die sozialdemokratische Nachwuchsgarde geht seit Jahrzehnten mit "Visionen", "Utopien" und "großen gesellschaftlichen Reformprojekten" (Negt) hausieren, hetzt abends am Kneipentisch über die Parteioberen, aber wenn nichts klappt, sind offiziell die schuld, die sich dem Mitmachen verweigert haben. Negts Aufruf zum "Macht und Politikwechsel" wendet sich konsequenterweise an die "politischen Intellektuellen, die Sinnproduzenten und Sinnvermittler", die "Berufsintelligenz", und macht damit vorbeugend schon mal jene dingfest, die ein Scheitern seiner weitergehenden Ansprüche mit zu verantworten hätten: "Ob sich etwas zum Besseren ändert, hängt nie allein von einem Regierungswechsel ab, sondern auch vom Willen und Bewußtsein jener privilegierten Schicht von Menschen", zu der auch die "Linksintellektuellen" gehörten, welche die "Kritik im Handgemenge fürchten" und "sich am liebsten in intellektuell geschützten Räumen" bewegten, die von ihnen keine Entscheidung fordern würden. Darüber sollte Negt eigentlich froh sein. Würden besagte Personen tatsächlich "Gebrauch von ihrer Vernunft machen" und sich auf das Programm der SPD einlassen, würde ihnen ein kategorischer Imperativ zum Votum für die CDU entgegenspringen. Die ersten Sätze des sozialdemokratischen Wahlprogramms lauten: "Deutschland ist ein starkes Land. Aber es hat eine schwache Regierung."

Oskar Negt: Warum SPD? 7 Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel. Steidl-Verlag, Göttingen 1998, 141 S., DM 10