Praktikum bei Stalin

... anschließend Zivildienst im Kulturbetrieb - der Bildungsroman der Poplinken Wenn der Papst wüßte, daß in seiner Organisation

Geschlechtsverkehr simuliert wird, hätte er die Schwangerschaftsberatung nicht verbieten lassen. In der Katholischen Jugendgemeinde (KJG) feierten wir im Club-Raum neben der Messe Petting-Partys. Wir dachten, das sei links. Die anderen Jugendlichen unserer Schule waren Atheisten, hörten Sweet und trugen den Scheitel bis zur Sohle. Wir in der KJG hörten Led Zeppelin, wuschen uns nie die Haare, tranken Sangria aus der Flasche und sausten mit unseren Mofas volles Rohr in die Fußgängerzone, bis die Omas vor Schreck tot umfielen. Gruppenführer Markus las Camus und sah aus wie Sartre, war aber in Ordnung

Später traten wir den Arrows bei, einer in ländlichen Gebieten gefürchteten Rockergruppe. Wir fuhren Motorradrennen auf der Kuhweide, verwüsteten den Mais, hinterließen Furcht und Furchen. Der Chef hieß Big Jim, weil er so klein war. Einmal blieb er im Rübenfeld stecken, und der Bauer mußte seine Honda mit dem Traktor herausziehen. Bauer Öhler wurde Ehrenmitglied

Eine neue Bündnispolitik zwischen Künstlern, Poplinken, Katholiken, Rockern, Sozial-, Kulturarbeitern und anderen Randgruppen wird in letzter Zeit verstärkt diskutiert. "Was ist linke Kunstkritik" (Berlin), "Antifaschismus ist der Kampf ums Ganze" (Berlin) oder "Kunsteingriffe - Möglichkeiten politischer Kultur" (Wien) hießen die Symposien und Kongresse, von der Shedhalle Zürich ganz zu schweigen. Wenn es schon keine Häuser mehr zu besetzen gibt, "dann besetzen wir halt den Kunstbegriff" (Oliver Marchart). Pierre Bourdieu, der sich als einer der wenigen Intellektuellen mit der Erwerbslosenbewegung in Frankreich solidarisiert hat, warnt: "Ohne soziale Bewegung wird die Kultur verschwinden. Es wird kein Kino und keine Avantgardeliteratur mehr geben." Na, hoffentlich. Und die Symposien und Kongresse, auf denen angesichts der zugespitzten sozialen Situation ein neuerwachtes Interesse an politischer Arbeit verkündet wird, wann werden sie verschwinden? Je weiter man nach links kommt, z.B. nach Gollwitz in Brandenburg, desto antisemitischer die Politik von SPD, PDS und KPF

Auch in Big Jim, der einmal zuviel Jim Beam getrunken und im Straßengraben übernachtet hatte, erwachte am nächsten Morgen angesichts der zugespitzten sozialen Lage ein Interesse an politischer Arbeit. Er verprügelte einen zur Lohnarbeit fahrradfahrenden Popper und schrie dabei unentwegt: "Das ist kein Jim Beam!" Vor der KJG hatte es eine Zeit gegeben, in der wir nicht einmal Fahrräder besaßen. Unsere Rebellion bestand darin, durch Affirmation der Verhältnisse subversiv zu sein. Wir traten den Jungpionieren bei und leisteten einen Eid auf den Sozialismus. Wir hörten uns die Kaderschulungen an, defilierten an Feiertagen geschlossen an der Parteiführung vorbei, Fahnen und Spruchbänder schwenkend, und als Belohnung durften wir einmal in der Woche die "Internationale" singen

Ohne es zu ahnen, praktizierten wir das, was der amerikanische Künstler und Kritiker Tom Lawson in seinem Essay "Last Exit Painting" forderte, nämlich die herrschende Ideologie in genau den Formen in Frage zu stellen, für die sie die größte Hochachtung hegte. Einmal, während der für Schüler obligatorischen Kartoffelernte im Spätherbst, legten wir unserer Lehrerin Fr. Anna, einer glühenden griechisch-orthodoxen Kommunistin, zwei tote Mäuse ins Feldbett, die wir mit Kartoffeln kollektiv gesteinigt hatten. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! Vom Schuldirektor zur Rede gestellt, beschuldigten wir uns solidarisch gegenseitig. Die ganze Klasse kam für drei Jahre in den Knast. In der Gefängniszelle tanzten die Ratten, Wasser und Brot gab es nur an Feiertagen, ansonsten Schokolade und Limonade. Wir können bezeugen, daß das "Schwarzbuch des Kommunismus" das Märchenbuch unserer Kindheit war

Jahre später, nachdem uns der Westen freigekauft und in die Geheimnisse der Rebellion eingeweiht hatte, wurde uns klar, daß die Demokratie eine gigantische Schönheitsfarm ist. Wir wollten auch schön sein, gerieten aber auf die schiefe KJG-Bahn, wurden Junkies, Rocker oder Punks. So sehr wir uns auch anstrengten, sie loszuwerden, die Vergangenheit holte uns ein. Die stalinistische Gehirnwäsche saß so tief, daß wir den Kriegsdienst verweigerten und seitdem unseren Zivildienst im Kulturbetrieb leisten, dieser Besserungsanstalt für Arbeitsverweigerer. Der Malteser Hilfsdienst, wo wir kurzzeitig als Fahrer ausgebeutet wurden, eignete sich prima als Drogenkurierzivildienst. Ben bewarb sich als einziger in der Schönheitsfarm. Er zog nach München und wurde Snowboarder