Biker's Little Helpers

Drogenkuriere unterwegs: Ohne Arzt und Apotheker ist bei der Tour de France nichts mehr zu gewinnen

Am 11. Juli bestiegen 189 Männer in Dublin, Irland, ihre Fahrräder und warteten auf den Startschuß zur diesjährigen Tour de France, die sich als Wendepunkt in der Tour-Geschichte herausstellen könnte - doch das war den Teilnehmern zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt. Nach dreitägigem Radeln auf der grünen Insel setzte die Tour-Karawane nach Frankreich über. Bis zur Zielankunft am 2. August in Paris stehen insgesamt 3 850 Kilometer im Sattel auf dem Programm, bei nur einem einzigen Ruhetag. Die diesjährige Tour verlief in den ersten Tagen wie so viele vor ihr. Die Sprinter im Feld machten auf den Flachetappen die Siege meist unter sich aus, die Favoriten für den Gesamtsieg hielten sich vornehm zurück, das gelbe Trikot des Spitzenreiters wechselte häufig den Besitzer. Die ersten Fahrer mußten mit Ausnahme von Mario Cipollini, der nach zwei Etappensiegen einen Sonnenstich vorschützte, um wie schon in den vergangenen Jahren den schweren Bergrennen zu entgehen, verletzungsbedingt aufgeben. Das Starter-Feld wurde von Tag zu Tag ein bißchen kleiner - ein natürlicher Vorgang bei der Tour. Die Medienvertreter konnten ihre immer gleichen Fragen stellen, auf die sie die gewünschten Antworten bekamen. Erstmals gefiel sich dabei die ARD in ihrer Doppelrolle als Berichterstatterin und Co-Sponsorin des Teams Deutsche Telekom mit seinem Spitzenfahrer, Titelverteidiger und Tour-Favoriten Jan Ullrich. Doch spätestens am 17. Juli, als das gesamte vom Uhrenhersteller Festina mit mindestens 12 Millionen Mark jährlich alimentierte Team von der weiteren Tour-Teilnahme suspendiert wurde, änderte sich schlagartig die Szenerie. Dabei hatte der in U-Haft sitzende Festina-Sportdirektor Bruno Roussel noch vor dem Startschuß zur ersten Etappe behauptet: "Wir fahren zur Tour, um zu gewinnen." Ob sich das zu jenem Zeitpunkt in erster Linie auf die fahrerischen Qualitäten seiner Stars Richard Virenque, Alex Zülle und Laurent Brochard oder aber auf Biker's Little Helpers bezog, sei dahingestellt und wird vor Gericht zu klären sein

Nicht mehr geklärt werden muß, wie es zu dem bisher größten bekannt gewordenen Doping-Fall in der Geschichte des Sports gekommen ist: Am 8. Juli ließ sich der Festina-Masseur Willy Voet im Firmenwagen auf seiner Fahrt nach Irland mit einem Kofferraum voller Drogen erwischen. Außer den bekannten Anabolika fanden die französischen Zöllner Dutzende Ampullen des EPO genannten synthetisch hergestellten Hormons Erythropoietin, welches den Anteil der roten Blutkörperchen im Blut erhöht und zur Modedroge unter Ausdauerathleten avanciert ist. Neben diesen Doping-Substanzen gab es noch haufenweise verschleiernde Mittel - denn was nützt das beste Dopingmittel, wenn es nachweisbar ist? Was wie eine beinahe schon klassische Doping-Geschichte am Rande der Tour aussah, formierte sich im Laufe der folgenden Tage zu einem Skandal mit einer hohen und unerwarteten Eigendynamik. Voets Festnahme provozierte zunächst einmal die stereotypen Dementis und Unschuldsbeteuerungen frei nach dem Motto: Doping im Radsport mag ja vorkommen, aber nicht in unserem Team. So war es auch von den Verantwortlichen des Festina-Rennstalls zu hören. Doch nach den Suspendierungen und Verhaftungen von Funktionären der Festina-Mannschaft verloren auch sämtliche Unschuldsbeteuerungen rapide an Wert

Die ersten Geständnisse legen die Vermutung nahe, daß im Festina-Team unter ärztlicher Aufsicht und mit Wissen der sportlichen Leitung systematisch gedopt wurde. Daß diese Methode der Leistungssteigerung auch im Sinne der beteiligten Sportler angewandt wurde, bestätigten mittlerweise auch einige Fahrer des Festina-Teams wie der Ex-Weltmeister Brochard. Die Diskussionen um eine mögliche Disqualifikation der Teams von TVM und Asics sind noch nicht abgeschlossen. Sollte sich erweisen, daß "gegen das Tour-Reglement, die Ethik des Radsports und die Moral, die die Tour trägt, verstoßen" wurde, so die Erklärung der Jury des Internationalen Radsportverbands, ist mit weiteren Ausschlüssen zu rechnen

Heute ist noch nicht absehbar, wie viele Fahrer aus welchen Gründen am Ende der Tour Paris nicht erreichen. Klar sind jedoch die Konsequenzen aus den Dopingfällen, die von der Tour-Leitung, dem Radsportverband sowie den sonstigen Sportverbänden gezogen werden. Um dem Ruf nach einem sauberen, sprich dopingfreien Sport zu folgen, werden vermehrt Kontrollen angedroht, die Anti-Doping-Etats und das Strafmaß bei Doping-Vergehen erhöht. Dabei stoßen die deutschen Medien meist ins gleiche Horn

Ein besonderer Eiertanz wird hierbei von den Tour-Kommentatoren der ARD aufgeführt. Es wird permanent versucht, eine klare Trennung von sauberem Sport, verkörpert durch das Team Deutsche Telekom, und schmutziger Doping-Affäre, welche grundsätzlich allen anderen Teams zuzutrauen wäre, herbeizureden. Vor dem Hintergrund der Beteiligung der ARD am Team Telekom ist das zwar verständlich, aber angesichts der bekannten Verküpfung von Tour de France und Drogengebrauch wenig überzeugend

Immerhin gibt es seit Einführung der Kontrollen im Jahr 1966 Doping-Vorfälle bei der Tour de France, ohne daß dagegen ernsthaft vorgegangen wurde. 1967 starb der Brite Tom Simpson auf der 13. Etappe von Marseille nach Carpentras beim Anstieg am Mont Ventoux. Bei seiner Obduktion stellte sich heraus, daß Simpson mit Aufputsch- und Betäubungsmitteln vollgepumpt war, als er vom Rad fiel. Vor exakt zehn Jahren gab es einen während der Rundfahrt positiv getesteten Fahrer, Pedro Delgado, der im gelben Trikot des Gesamtsiegers die Ziellinie in Paris überfahren durfte. Das von ihm zur Verschleierung anderer verbotener Substanzen eingenommene Rheumamittel wurde erst nach Abschluß der Tour vom Internationalen Radsportverband auf den Index gesetzt

Mehrere ehemalige Radsportprofis, darunter die Tour-Sieger Joop Zootemelk und Bernard Thévenet haben inzwischen zugegeben, Dopingmittel benutzt zu haben. Der deutsche Ex-Profi, der mehrmalige Träger des gelben Trikots und des wiederholten Dopings überführte Dietrich Thurau brachte es auf den Punkt: "Wer heute nichts nimmt, der bringt auch nichts." Bestätigt wird diese Auffassung von Sportmedizinern wie Jean-Pierre de Mondenard, einem ehemaligen Tourarzt, der die These aufstellt: "99 Prozent dopen, und 100 Prozent haben die Gelegenheit dazu." Führt man sich die bei der Tour de France von jedem Fahrer zu erbringende Leistung vor Augen, können solche Behauptungen kaum überraschen. Die Tour-Strapazen ohne Einnahme von schmerzstillenden und leistungsfördernden Mitteln zu überstehen, ist kaum möglich. Vor diesem Hintergrund nützen auch verstärkte Doping-Kontrollen oder der Ruf nach einer Doping-Polizei wenig. Es bleibt bei einem Wettlauf zwischen Kontrolleuren einerseits und Pharmaindustrie sowie findigen Ärzten andererseits

In diesem Zusammenhang ist Daniel Blanc, Sportarzt in Lausanne, nur zuzustimmen, der verlangt, "den Leistungssport auch einmal unter einem anderen Aspekt als nur dem polizeilichen anzuschauen". Soll die Tour in der bisherigen Weise fortgesetzt werden, hilft nur die Abkehr von einer bigotten Moralvorstellung, verbunden mit der Freigabe des Dopings. Die Medien und Zuschauer hätten weiterhin ihr Spektakel, die Funktionäre müßten nicht länger den Saubermann mimen, den nimmt ihnen sowieso kaum noch jemand ab. Auch die Hauptbeteiligten, die Radrennfahrer, profitierten davon

Sie könnten sich unter ärztlicher Aufsicht, ohne schlechtes Gewissen und ohne weitere Streik- oder Presse-Boykottandrohungen voll und ganz auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren: das gelbe, grüne, gepunktete oder Firmentrikot heil über die Ziellinie in Paris zu fahren. Ob sie dabei die Einahme von Biker's Little Helper bevorzugten oder nicht, bliebe dann einzig und allein ihnen überlassen. Gefeierte Stars wären sie auf jeden Fall - ganz wie die Rolling Stones oder Heino