Mangelerfahrung am Ventil

"Wir mischen uns ein", das Buch von Bärbel Bohley und Ehrhart Neubert über DDR-Bürgerrechtler in den Zeiten der Postdissidenz, ist das dümmste der Welt.

Den Straftatbestand der "staatsfeindlichen Hetze" mochte man bisher für ein Repressionsinstrument der DDR-Justiz ansehen, mit dessen Hilfe sie jeden, der sich irgend kritisch äußerte, willkürlich einsperren konnte. Wenn man aber liest, was der Widerständler Lutz Rathenow seinem Historiker Ehrhart Neubert schrieb, kommt man ins Grübeln: "Zwei Sachen fallen mir zu mir ein, die ich von überpersönlichem Interesse halte." 1982 saß er noch in Jena und schmiedete "für mich die subversivste Ereigniskette in der DDR, die ich kenne". Denn "kalte Wut und Verzweiflung gebar in mir im Februar den Plan, einen 'offenen Brief junger Christen' an die Kirchenleitung zu fälschen".

Und tatsächlich, dieser von kalter Wut in Lutz und im Februar geborene Plan war erfolgreich: Der zuständige Bischof nahm dazu in der "Tagesschau" Stellung, und wenig später wurden mehrere politische Häftlinge aus dem Jenenser Gefängnis entlassen.

Rathenow entwickelte eine Strategie listiger Desinformation: "Bei entsprechend intensiver Vermittlung (unter Einbeziehung auch des Boulevardjournalismus) kann jeder DDR-Bürger (zu dieser Zeit) jederzeit frei veröffentlicht werden. Diese 'Jenaer' Haltung setzte sich in Berlin langsam und schwer durch. Mein nächster Plan war, eine Kette von Staatskrisen durch kalkulierte Falschmeldungen in der BILD-Zeitung hervorzurufen. Und durch die richtigstellenden Dementis in seriösen Zeitungen, die dann z.B. die Gefahr einer Katastrophe im Atomkraftwerk Greifswald letztlich bestätigten, auch wenn diese noch nicht direkt eintrat. Ich traf mich zweimal mit einem BILD-Redakteur in Berlin. Er lehnte es letztlich ab, erfundene Meldungen zu bringen. Es war für mich dann zu arbeitsaufwendig, Erfundenes als Reales zu verpacken - so blieb es bei dem Versuch, reale Meldungen zu verbreiten."

Und so dankte die DDR seiner Faulheit noch weitere siebzehn Jahre. 1988 wurden in Berlin einige Bürgerrechtler verhaftet, Rathenow aber nicht. Was er wohl falsch gemacht habe, fragte er sich. "Oder war es doch der Schriftstellerbonus, der wieder jemand zum Zögern einhalten ließ ... Ich denke, hier solltest Du in einem Satz (oder zwei) durch den Verhaftungsplan einfach Aufgaben für die Geschichtswissenschaft anklingen lassen."

Fürwahr, ein Forschungsdesiderat ist anzumelden, das manchen Historiker nähren könnte: Wie gelang es Rathenow, als er eines Tages beim Verlassen seines Hauses mehrere verdächtig unauffällige Männer mit bunten Einkaufsbeuteln ausmachte, vor diesen Schergen der totalitären Diktatur in seine Wohnung zu fliehen, um dort ein Interview zu geben? "Dem Deutschlandfunk sagte ich kurz nach 12, daß ich wahrscheinlich unter Hausarrest stünde, sonst würde ich festgenommen. Ein Uhr war es die Spitzenmeldung in den Nachrichten." Wenn das Berija noch erlebt hätte!

Viele mußten unterm SED-Regime leiden. Die am wenigsten litten, führen heute das große Wort. Bärbel Bohley, die berühmte Malerin und Freiheitsheldin, und Ehrhart Neubert, als ehemaliger Pfarrer in der Gauck-Behörde zuständig für Bildung und Forschung, haben nun, um die PDS auf- und die Geschichte neu abzumischen, aus Eigenem und Fremdem das dümmste Buch der Welt zusammengeklebt: "Wir mischen uns ein". Denn "die Möglichkeiten Prominenter und der dazu schreibgewaltigen DDR-Eliten, die eigene Biographie rückwärtsschauend kunstvoll zu komponieren, ist dem Bürger mit Durchschnittsbiographien kaum möglich", stammeln sie in ihrem Gemeinschaftswerk, meinen aber nicht die eigene Unfähigkeit, sich halbwegs korrekt zu artikulieren, sondern das Desinteresse der "Tätergesellschaft" an den unbekannten Opfern.

Es soll Bürgerrechtler geben, die haben keinen Dichterbonus und kein Parlamentsmandat: "Hier könnten ebensoviele Betroffene mit Namen genannt werden, wie die der mehr oder weniger erfolgreichen." Diese, die Erfolgreichen, aber immer auch Betroffenen, empören sich entweder in Erfurter Erklärungen, daß der Kapitalismus fast so menschenfeindlich ist, wie der "Schwarze Kanal" ihn beschrieb, oder sie haben längst zur CDU gefunden, in deren Auftrag sie die Geschichte fälschen, dem Kommunismus mutig entgegentreten und die "dem Vereinigungsprozeß zustehende Legitimität verstärken helfen".

Die zweite Fraktion der Postdissidenz muß unentwegt "daran erinnern, daß der deutsche Einheitsprozeß einen historischen Ausnahmezustand darstellt, dessen Folgen noch längst nicht ausgestanden sind" (Freya Klier). Im Unterschied zur ersten aber dankt sie ihrem Kanzler für den rundum erfreulichen Zustand des Prozesses. Einst vegetierten die Bürgerrechtler unterm Kommunismus, heute leben sie, wie sonst nur Jehovas Zeugen, in der Wahrheit. 1989 wurde dem "Versuch, in der Wahrheit zu leben" (Vaclav Havel) ein endgültiger Erfolg zuteil, und dasselbe Jahr "brachte das Ende der politischen Ideologien".

Hinterm vermeintlichen Ende aller Ideologien steckt bloß der vorläufige Sieg einer bestimmten, wer sich aber sein halbes Leben lang mit der SED herumplagen mußte, konnte dabei nicht leicht zu der allersimpelsten ideologiekritischen Einsicht kommen, daß die Behauptung, bürgerliche Gesellschaften bräuchten keine Ideologie, selbst ideologisch ist.

Die Bürgerrechtler, so sie in der CDU ihre Heimat gefunden haben, wähnen sich noch immer von Mielkes Männern und anderen Kommunisten umstellt. Daß manch Aufrechter keinen Job findet, dafür sorgen "vermutete Seilschaften in Arbeitsämtern". Die PDS sitzt auf mehreren Festmetern Raubgold. "Wolf Biermann ist inzwischen, besser wieder neu, Zielscheibe von Haßkaskaden der Genossen." Unschuldige Kinder werden mit Staatsbürgerkunde traktiert, "wie in Hohenschönhausen, wo noch immer mehr als 40 MfS-gestählte Lehrer den Schülern ihren spezifischen Glanz verleihen", denn "die Verbeamtungswut sichert den Alt-Kadern das Aushebeln der Demokratie nun fast schon generalstabsmäßig für die nächsten Jahrzehnte ab" (Freya Klier).

Und Gregor Gysi, dem "Stasirentenbeschaffer", wird gar die "Gelegenheit gegeben, in einer evangelischen Kirche in Köln eine Predigt zu halten. Der Eindruck ist nicht zu verwischen, daß die Kirchen geistig noch gar nicht in der Freiheit angekommen sind". Nun spricht zwar die Tatsache, daß auch postkommunistische Sozialdemokraten geistlich in der Kirche ankommen müssen, gegen jene eher als gegen diese, Freiheit aber ist, da läßt Neubert nicht mit sich feilschen, wenn Gysi in keinem Gotteshaus predigen darf.

Sich und Deutschland vorm Unheil zu retten, blieb einigen prominenten Bürgerrechtlern nur noch der Eintritt in die CDU. "Jens Reich sprach von 'unnütz spektakulär orchestrierten Übertritten', wenn deren Entscheidung auch 'ihr unbestrittenes Recht' sei." Allerdings hatte sich diese Partei in der DDR nicht eben rebellisch gebärdet. "Die Ost-CDU mußte sich auf einen allmählichen Prozeß des Ausscheidens belasteter Funktionäre, auf neue Mitglieder einschließlich von Bürgerrechtlern seit 1990 und vor allem auf die Verbindung mit der West-CDU stützen." (Bürgerrechtler seit 1990 sind vermutlich Leute wie Heitmann und Gauck.)

Man könne doch, wandten politische Gegner ein, vor der PDS nicht ausgerechnet zu den Blockflöten fliehen. Nun hieß es kategorisch werden. Die CDU war seit je die Partei des Widerstands: "Die Bürgerrechtsbewegung ist auch in historischer Hinsicht eine angemessene Verbindung mit der CDU eingegangen. Der Widerstand gegen Hitler hat 1945 ja auch den Beistand der Alliierten benötigt, um in Westdeutschland die Demokratie aufzubauen."

Demnach schufen entweder Thälmann, Bonhoeffer und Stauffenberg posthum die westdeutsche Demokratie, oder Globke, Lübke, Kiesinger, Filbinger und all die andern waren Widerständler, die ihre Hinrichtung in Plötzensee versäumt hatten. Die SPD hingegen vereinigte sich einst im Osten mit der KPD, und deshalb muß man ähnliches jederzeit befürchten. Nur die SDP und ihre "ostdeutschen Gründer haben mit ihrem Schritt 1989 die SPD möglicherweise davor bewahrt, daß sich die West-SPD mit der PDS zusammenschloß".

Der CDU gebührte, punktum, die Legitimität des Widerstandes. "Allerdings gab es, besonders auch im Osten, manche Zurückhaltung, die vor allem von Alt-Mitgliedern der Ost-CDU artikuliert wurde. Dennoch wurde auch in diesen Kreisen der Legitimitätszuwachs angenommen. Positionskämpfe mit harten Bandagen überschritten nicht das in allen Parteien übliche Gerangel um Plätze und Mandate. Mehrere Bürgerrechtler wurden in der Folge als Bundestagskandidaten aufgestellt". Die Weigerung der grünen Partei, abgehalfterten Dissidenten auf ewig Listenplätze zu reservieren, hat mit alldem nichts zu tun.

Welche Impulse darf sich unser zivilgesellschaftlicher Diskurs fürderhin von den ehemaligen Umstürzlern erhoffen? Drei Gedanken leuchten besonders ein. Erstens: "In einer Art Volksaussprache sollte ein Ventil geschaffen werden, um den Unmut der Bevölkerung aufzufangen."

Zweitens: "Der Bezug auf Europa als Kultur- und Wertgemeinschaft ist durch unsere lange Mangelerfahrung daran und den starken Ostbezug zum Teil viel ausgeprägter als in der institutionell und ökonomisch reduzierten altbundesdeutschen Auseinandersetzung" (Wolfgang Templin).

Drittens: "Das fordert die Klärung der Verständigung über das gegenwärtige Politikverständnis heraus und muß sich mit dem des letzten Jahrhunderts auseinandersetzen". Ob die Verständigung über das Verständnis und die Klärung derselben nun aber "sich einander bedingen und ausschließen" (Günter Nooke) oder umgekehrt, wird erst die Verständigungsklärung selbst erweisen.

Ein Ende dieses Prozesses ist bisher nicht abzusehen. Sein erbärmlicher Zustand bleibt deshalb eine Mangelerfahrung am Ventil, das unseren Unmut auffangen könnte. Solange Laiendarsteller, die aus ihrem Verfolgungswahn einen Beruf machen, von allen Kanzeln predigen, sind wir geistig in der Freiheit noch gar nicht angekommen. Nehmen wir dennoch den Debilitätszuwachs als eine Prüfung! Denn "westliche linke Intellektuelle und auch Teile der westlichen Politik (...) schufen politische Texte und Literaturen, deren Ausmaß schon zeigt, wie tief der süße Stachel des frommen Selbstbetrugs im Zustand der Angst vor der eigenen Courage sitzt." Das sollte uns zu denken geben.

Bärbel Bohley, Ehrhart Neubert: Wir mischen uns ein. Ideen für eine gemeinsame Zukunft. Herder, Freiburg 1998, 191 S., DM 17,80