44. Babuschka

Fortgesetzte Erzählungen

Es begann alles gegen Mittag in der Kölner Südstadt, unten vor Ernestis Kneipe, und als Modder, ich meine den Held dieser Geschichte, Karl-Otto Modjewski, sich an seinem Kaffee die Lippen verbrannte, war die Welt noch in Ordnung gewesen, sozusagen.

Im Hauseingang neben dem Lokal kämpfte Fuzzi, der bekannte ortsansässige Dichter, mit einem riesigen Fernsehkarton, stand da ohne Hosen und Strümpfe und verfluchte die Menschheit, die ihm nicht half, sein Eigenheim artgerecht zu falten, und im Lokal genossen schon die ersten Gäste ihre panierten Tintenfischringe, hielten sie mit den Zähnen fest, zogen sie in die Länge und ließen sie wieder zurückschnappen.

Modders rechtes Auge ruhte nostalgisch auf Adriano, einem Italo-Rheinländer, der mit einem glatzköpfigen Kunstmaler die Würfel in ein griechisches Brettspiel schaufelte, um einen zu finden, der sein Bier bezahlte.

Ernesti kam raus, ein halbvolles Glas in der Hand und reichte es Fuzzi, der bei ihm Lokalverbot hatte.

"Wo willst'en hin?" fragte er mitfühlend, als er Modders Köfferchen sah.

"Die alte Heimat besuchen, aber heut' abend bin ich wieder daheim." - "Verfahr dich nicht", sagte Ernesti weise.

"Ich werd' das Kaff schon finden", sagte Modder. "Da vorne an der Ampel rechts, die zweite links und dann immer geradeaus."

Aber die Sache war nicht so einfach, und das hätte ich ihm vorher sagen können, eine Frau spürt so was sozusagen, das hat man einfach im Blut.

Die alte Heimat ist hauchdünn und spröde wie ein altes Wespennest, das fünfzig Jahre an einem Dachbalken gehangen hat. Wir hatten mal eins in einer halbverfallenen Feldscheune. Es war etwa so groß wie ein Fußball, aber so leicht wie eine Handvoll Gänsefedern, ein zerklüftetes, poröses, hellgraues Etwas, das man kaum anzufassen wagte, weil es so zerbrechlich wirkte, und eine Struktur wie das Leben als solches sozusagen. Ein wabenartiges ödes Gebilde und unbewohnbar wie der Mond.

Es war jedenfalls so, als Modder noch dem undefinierbaren Geschmack der rötlichen Fischrogenpampe ein paar Stiefmütterchen widmete, hatte er sich bereits heftig verfahren. Er passierte den Teich von Lammerden, der Teich lächelte und lud zum Bade, da mündete die Straße urplötzlich in einem endlosen Tunnel, und als er wieder rauskam, lag links die Anhöhe, auf der früher das Barackenlager stand.

Modder fühlte sich verschaukelt. Wo kam plötzlich dieser Tunnel her? Er bog rechts in den Waldweg, der zum Schloß Wilhelmstal führte, vorbei an den Calden ("Lurzen Pauten vorutgesatt") und näherte sich Hofacker von hinten sozusagen. Der kegelförmige Berg mit der Burgruine war jedenfalls noch da.

Während er auf den Nudelauflauf wartete, besuchte er erstmal den Friedhof. Sein Vater war natürlich längst eingeebnet, aber dafür traf er eine Menge alter Bekannter. Der größte Teil der Bevölkerung schien inzwischen verstorben zu sein, und Modder war klar, daß er schon bald der letzte Überlebende sein würde.

Etwas schwerfällig schon schritt er den Berg hinauf und wieder hinunter und durchquerte den Gutshof. Das Schloß gehörte jetzt einer Agentur namens Sponsor Partners, Art Consulting, Special Events. Modder bat eintreten zu dürfen mit der Begründung, daß das Haus früher seinen Schwiegereltern gehört habe und suchte nach dem Zimmer, wo er als Junge den Hölderlin geklaut hatte, den Raum, wo er mit Tita seinen zweiten Sohn gezeugt hatte, das Schlafzimmer, wo sie den Fleck an der Wand übertüncht hatten, aber es war alles umgebaut. Auch die landwirtschaftlichen Gebäude waren weg.

Er bestellte einen Schnaps und zündete sich eine Quintero an, bevor er bei Ida klingelte. Sie war eine große, üppige Frau, mit aschgrauem Haar, das mit einer Spange im Nacken zusammengehalten wurde, und dicken, kräftigen Armen, die Arno Schmidt schenkelfroh genannt hätte. Sie nötigte ihn, Zwetschgenkuchen zu essen, betrachtete ihn ruhig, während er aß (dort aß, hier trank) aus freundlichen blauen Augen, ohne jede Ähnlichkeit mit der Person, die er als Junge gekannte hatte.

Sie schien seine Hemmungen zu spüren, fragte nach seinen Eltern, seiner Frau, seinen Kindern, und erst als sie anfing, von den alten Zeiten zu sprechen, dem Panzer auf dem Marktplatz zu reden, in dem sie als Kinder poussiert hatten, den Tanzveranstaltungen, bei denen sie Musik gemacht hatten, schien plötzlich das dürre Mädchen mit den fiepsigen Zöpfen und den Salzfäßchen durch ihr feistes und breites Gesicht zu blicken.

Sie sah jetzt aus, wie eine dieser russischen Puppen, in denen noch eine Puppe steckt und noch eine und noch eine, bis sie ganz das Mädchen war, das der Colonel hinter dem Deutschen Kaiser vernascht hatte, das er, Modder, begehrt hatte, auf dessen zarten Busen er tausend Mal einen runtergeholt hatte, und das er nie angefaßt hätte, weil es Ickes Mädchen war, weil Icke sein Freund war und so eifersüchtig, daß er dieses Mädchens wegen den Colonel erschlagen hatte.

Er schaute sie an und begann zu weinen. Sie stand auf, "mein Gott, ich sitze da und rede, und du hast überhaupt nichts zu trinken", und ging hinaus. Als sie zurückkam, die Schnapsflasche in der Hand und ihm einschenkte, war sie wieder ganz die Alte.

Er bestellte abermals Rotwein und ließ sich Klebes Archiv zeigen. Es war wie erwartet. Genau so hatte er sich das Archiv eines Museumsführers und Heimatkundlers vorgestellt, der sein Leben damit zugebracht hatte, einen oder zwei ungeklärte Mordfälle aufzuklären und der einige Tausend Seiten darüber geschrieben hatte, ohne zu wissen, warum und wozu. Lauter langweiliges, uninteressantes Zeug.

Es war lange nach Mitternacht, er war fast besinnungslos, als er mit Ida endlich im Bett lag. Er griff mit beiden Händen in die Speckfalten auf ihren Hüften, schaukelte auf ihrem großen weichen Bauch und ihr Speichel schmeckte nach Rotwein. Ihr Schoß war so weit und geschmeidig, daß er grenzenlos zu sein schien. Aber aus der Tiefe der Ursuppe leuchtete ein Licht, er sah ein fernes Gesicht, und eine Stimme sagte mit viel Hall: "Was ist, Modder? Wolltest du nicht wegfahren?"

"Nie", stammelte er, "nie, Ernesti. Gib mir noch einen Kouros und dann laß mich schlafen."

Er deutete mit dem Kopf auf die Bank in der Kneipe, wo er schon manche Nacht verbracht hatte, wenn er die 96 Stufen in seine Wohnung nicht schaffte. Hier war sein Zuhause. Der gelblich-graue wolkenverhangene Himmel über der Stadt war sein Dach, der verschissene vollgekotzte Bürgersteig der Straße, in der er wohnte, war der Fußboden seines Hauses, Ernestis Kneipe gegenüber war sein Wohnzimmer, die Bank in der Ecke sein Bett und manchmal auch ein Stück von Fuzzis Fernsehkarton im Hauseingang nebenan.

Fuck Hofacker, das muffige Kaff.

Nächste Woche: "Whodunnit 2"