Soll die Linke trauern?

Neues zum "Schwarzbuch des Kommunismus".

"'Die Linke will nicht trauern', hat Jorge Semprœn erklärt; nach diesem Buch muß sie es - und wir alle." Mit diesem Satz wirbt der Piper-Verlag für die deutsche Ausgabe des "Schwarzbuches des Kommunismus". Offensichtlich mit Erfolg, denn bis jetzt sollen schon 100 000 Exemplare ausgeliefert sein, nachdem die Bild-Zeitung eine Serie zum und aus dem "Schwarzbuch" gebracht hat.

Auch Linke und Ex-Linke haben sich schon eine Meinung gebildet und fordern zur kollektiven Trauer auf. So Christian Semler von der staatstragenden taz, der sich in Hauser-Manier von den "linksradikalen Kritikern" distanziert, die in der "Presse mit radikal linkem Anspruch" (damit ist natürlich nicht die taz, sondern sind konkret und Jungle World gemeint) die "Verbrechen im Namen des Kommunismus" (was für ein Deutsch!) "bagatellisieren" würden.

Während Semler die "Schwarzbuch"-Autoren Stéphane Courtois und Nicolas Werth sowie ihren geistigen Übervater Fran ç ois Furet, der das Vorwort zum "Schwarzbuch" schreiben sollte, gegen die Angriffe der bösen deutschen Linksradikalen (womit ich auch gemeint bin) verteidigt, geht Ulrike Ackermann, Mitarbeiterin des Hamburger Instituts für Sozialforschung, aus dem eigentlich ein "Institut für Totalitarismusforschung" geworden ist, in ihrer geradezu hymnischen Rezension des "Schwarzbuches" in der Süddeutschen noch einen Schritt weiter.

Sie wünscht sich, "daß der neue, nun von französischer Seite ins Land getragene Streit an einigen immer noch virulenten Denkverboten rührt, die bereits den deutschen Historikerstreit drei Jahre vor der Wiedervereinigung noch vehement geprägt hatten". Damit kann nur Ernst Nolte gemeint sein, der mit Unterstützung dieser deutschen und französischen Ex-Linken den Historikerstreit doch noch zu gewinnen scheint.

Dies ist der politische Aspekt der "Schwarzbuch"-Diskussion. Welches ist der wissenschaftliche? Bringt das "Schwarzbuch" überhaupt neue Argumente, über die sich zu streiten lohnt? Die bisherige Debatte hat sich auf das Vorwort von Stéphane Courtois konzentriert, in dem dieser den nationalsozialistischen "Rassen-Genozid" mit dem kommunistischen "Klassen-Genozid" vergleicht und zu dem Schluß kommt, daß der "Klassen-Totalitarismus" viermal schlimmer als der "Rassen-Totalitarismus" gewesen sei, weil "die Kommunisten" 100 Millionen Menschen umgebracht hätten, während dem Nationalsozialismus 'nur' 25 Millionen zum Opfer gefallen seien, wobei die meisten Opfer des nationalsozialistischen "Vernichtungskrieges" im Osten von vornherein ausgeklammert bleiben. Diese elende Aufrechnerei soll hier nicht weiter kommentiert werden.

Davon haben sich auch einige Mitarbeiter des "Schwarzbuches" öffentlich distanziert. Doch wenn sie damit suggerieren, daß es sich beim "Schwarzbuch" insgesamt um ein seriöses geschichtswissenschaftliches Werk handelt, so ist dem energisch zu widersprechen. Handelt es sich doch um keine politische Geschichte der kommunistischen Parteien und Regime, keine Sozialgeschichte der Länder des "real existierenden Sozialismus" und schon gar nicht um eine theoriegeleitete Strukturgeschichte der bolschewistischen, stalinistischen, maoistischen etc. Regime.

Statt dessen haben sich die Autoren auf eine detaillierte Beschreibung und statistische Erfassung der "Verbrechen" konzentriert, die tatsächliche oder auch nur angebliche Kommunisten in den verschiedenen Ländern begangen haben. Dies geschieht in einer sehr emphatischen, aber doch ermüdenden Weise. Die ständige und geradezu stereotypische Beschreibung von Massakern und Folterungen, die durch Zeugenaussagen ergänzt werden, die in den Text eingestreut sind, wirkt nicht aufklärend, sondern abstoßend. Dies soll nur an einem Beispiel, bzw. an einem ständig wiederkehrenden Motiv näher erläutert werden.

Gemeint sind Berichte über Fälle von Kannibalismus in kommunistisch regierten Ländern. Der Kannibalismus-Vorwurf ist in der Geschichte wiederholt gemacht, aber ebenso oft entschieden zurückgewiesen worden. Darüber gibt es eine ziemlich umfangreiche historische und vor allem ethnologische Forschung. Die Mitarbeiter des "Schwarzbuches" hätten sie berücksichtigen oder doch zumindest etwas kritischer gegenüber den Berichten über Kannibalismus sein sollen.

Dies beginnt bereits mit Nicolas Werth, der in seinem umfangreichen Beitrag über "Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion" den Bericht eines italienischen (faschistischen!) Diplomaten aus dem Jahr 1933 völlig unkommentiert zitiert, in dem es heißt, daß man in Charkow Leichen gefunden habe, die keine Leber mehr gehabt hätten. Sie seien als "Füllung der pirojki (kleine Pasteten)" verwendet worden.

Jean-Louis Margolin druckt in seinem Beitrag über China einen langen Zeitzeugenbericht ab, aus dem hervorgeht, daß 1959 bis 1961 während der großen Hungersnot zur Zeit des "Großen Sprunges nach vorn" Eltern ihre Kinder ausgetauscht hätten, um sie anschließend zu verspeisen. Diese Nachricht wird nicht etwa in Frage gestellt, sondern es wird, als ob es sich um eine feststehende Tatsache handeln würde, auch im Text davon berichtet, daß es derartige "Abkommen auf Gegenseitigkeit" gegeben habe, "bei denen man die Kinder austauschte, um sie zu essen". Nicht genug damit, teilt Margolin ferner mit, daß sich während der Kulturrevolution "manche Rotgardisten (...) Menschenfleisch in der Schulkantine servieren" ließen, um schließlich mitzuteilen, daß man "ähnliche kannibalische Bräuche (...) in Südostasien überall" finde.

Mit Verlaub: Eine vergleichbare Bemerkung über die "kannibalischen Bräuche" afrikanischer oder indianischer Völker würde heute auf die berechtigte Kritik keineswegs nur von Ethnologen stoßen. Doch über Kommunisten, vor allem "asiatische" Kommunisten kann man offensichtlich alles sagen. Dabei ist ein derartiger ethnisierender Hinweis auf die barbarischen Bräuche in kommunistischen Ländern keineswegs ein Einzelfall. Fast in jedem Beitrag werden gewisse negative nationale Traditionen erwähnt. Dies gilt keineswegs nur für "asiatische" Länder wie China, wo es nach Margolin einen "traditionell ausgeprägten Hang" zu barbarischen "Ritualen" geben soll, oder für Kambodscha, wo "gewisse Eigenarten der kambodschanischen Nation den Terror der Roten Khmer gefördert haben" sollen. Derartige kulturalistische Unterstellungen findet man auch in den Beiträgen zu den Verbrechen der europäischen Kommunisten.

So hält es Courtois für angebracht, an eine spezifisch "russische Tradition der Unterdrückung" zu erinnern, und Karel Bartosek scheut sich nicht, im Zusammenhang mit der Schilderung der Verbrechen der bulgarischen Kommunisten das Stereotyp, bzw. den "Begriff" von der "balkanischen Barbarei" zu gebrauchen. Der Erklärungswert dieser stereotypisierenden Bemerkungen tendiert gegen Null, zumal die entsprechenden Arbeiten über die jeweiligen "Nationalcharaktere" oder - etwas wissenschaftlicher - kollektiven Mentalitäten nicht rezipiert werden.

Im krassen Widerspruch zu den ebenso ausführlichen wie emphatischen Beschreibungen von allen möglichen Untaten und Folterungsmethoden stehen die jeweiligen nüchternen "Bilanzen" über die Zahl der erschossenen, bestialisch zu Tode gefolterten, lebendig begrabenen etc. Opfer "des Kommunismus". Fast jeder Mitarbeiter hat abschließend den Versuch gemacht, die Zahl der Gefolterten und Getöteten möglichst exakt zu ermitteln. Margolin begründet dies mit der apodiktischen Behauptung, daß "quantifizieren auch begreifen" bedeute.

Dies ist erstens zu bezweifeln und liegt zweitens auch gar nicht in der Absicht des Herausgebers Stéphane Courtois, dessen erklärtes Ziel es ist, die "Verbrechen des Kommunismus" vor ein imaginäres Tribunal zu bringen, wobei der Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß als Vorbild und Beispiel dienen soll. Ist dies Aufgabe der Historiker? Kann eine derartige "Anklageschrift" gegen den immer und überall verbrecherischen Kommunismus als ein geschichtswissenschaftliches Werk charakterisiert werden? Christian Semler hat lobend von "vergleichender Terrorforschung" gesprochen. Doch was ist dies? Kann man Terror losgelöst von nahezu allen politischen und sozialen Strukturen beschreiben? Dieser - unzweifelhaft vorhandene - Terror fiel doch nicht einfach so vom Himmel, sondern hatte Ursachen. Doch sie werden systematisch ausgeblendet.

Dafür nur ein Beispiel: Nicolas Werth klagt die Deportationen von Angehörigen der Völker an, die von Stalin im und nach dem Zweiten Weltkrieg der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt wurden. Mit der Frage, ob dieser Verdacht berechtigt war, beschäftigt er sich nicht. Ja, er blendet den gesamten Verteidigungskrieg gegen den deutschen Überfall völlig aus, um schließlich fast zu bedauern, daß die Sowjetunion ihn gewonnen hat: "Die Tatsache, daß die Sowjetunion für den Sieg über den Nazismus den höchsten Tribut an Menschenleben bezahlt hatte, verschleierte den eigentlichen Charakter der stalinistischen Diktatur und beseitigte das Mißtrauen, das man seinerzeit dem Regime gegenüber gehabt hatte."

Ich finde diese Unfähigkeit und Unwilligkeit, um die 30 Millionen Opfer des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges zu trauern, erschreckend und abstoßend. Noch abstoßender, ja skandalös ist der folgende Satz, mit dem Courtois der "internationalen jüdischen Gemeinde" unterstellt, den Holocaust zu funktionalisieren: "Im Unterschied zur jüdischen Tragödie - die internationale jüdische Gemeinde hält die Erinnerung an den Völkermord wach - war es den Opfern des Kommunismus und ihren Angehörigen lange Zeit verwehrt, das Gedächtnis des tragischen Geschehens in der Öffentlichkeit zu pflegen, da jegliche Erinnerung oder Rehabilitationsforderung verboten war."

Dieser Satz ist nicht nur skandalös, sondern auch noch falsch, weil die "Erinnerung an den Völkermord" an den Juden keineswegs nur von den Juden, sondern auch von vielen Angehörigen der "Täternation" (Saul Friedländer) wachgehalten wird. So soll es bleiben. Auschwitz und nicht Kolyma war der "Zivilisationsbruch" und die Katastrophe dieses Jahrhunderts. So sehen es die Juden, und so sollten wir es auch sehen, weil alle Juden Opfer und viele Deutsche Täter waren. An dieser Holocaustfixierung sollten wir festhalten. Ex-Stalinisten und Ex-Maoisten (wie Courtois und Semler) ist es jedoch unbenommen, über ihre Fehler nachzudenken und um die Opfer ihrer einstigen Idole zu trauern.