39. Das Jahrhundert der Deutschen

Fortgesetzte Erzählungen

Personen: Einige Herren. Ort: Hotel Deutscher Kaiser in Hofacker, eine Kleinstadt im Weserbergland unweit von Kassel. Zeit: Sonntagvormittag.

"Das 20. Jahrhundert geht jetzt auch bald zu Ende."

"Hm, ja, öh."

"Ein paar Jährchen noch, dann ist es vorbei."

"Ja, ging unheimlich schnell diesmal, geradezu fett, wie meine Tochter sagen würde."

"Das Jahrhundert der Deutschen."

"Und man hat kaum was von gehabt."

"Kaum was."

"Ein paar von uns haben schon was von gehabt."

"Anwesende ausgenommen."

"Der Untergang der Titanic zum Beispiel. Man könnte meinen, das war gestern. Dabei sind es bald hundert Jahre ..."

"Achtzig."

"Der Untergang der Titanic, Herr ..."

"Aber irgendwie typisch für unser ..."

"Genau."

"... Jahrhundert. Nicht ..."

"Der Untergang der Titanic, Herr Stroessel ..."

"... nicht der Blutsonntag von Sankt Petersburg, nicht das Erdbeben von Messina, nicht der Erste Weltkrieg, sondern ..."

"Was hat das denn damit ..."

"Ich behaupte, wenn wir im sechzehnten ..."

"Womit?"

"Herr Stroessel, der Untergang ..."

"... Jahrhundert gelebt hätten ..."

"Wenn ich mir anschaue, wie manch einer, gleich '49 ..."

"Da war das Jahrhundert, aber auch schon halb ..."

"Halb voll oder halb leer, das ist hier die Frage."

"... das wäre uns überhaupt nicht aufgefallen."

"Wie können Sie das behaupten?"

"Aber, liebe Leute!"

"Das kann ich!"

"Sie dürfen sich nicht von der Literatur, Herr Stroessel ..."

"Wie wahr."

"Dem übrigens eine literarische Tradition der Mythologisierung gröbsten Unfugs ..."

"Aber das sage ich doch. Der Untergang der Titanic ...ist das Menetekel auf die Hybridkultur ..."

"Ich sage nur: Enzensberger!"

" ... vom angeblichen Jahrhundert der Deutschen ..."

"Der Untergang der Titanic, Herr Stroessel, ist ..."

"Der Mensch gehört zum Überbau, meine Herren, da stellt sich einiges anders dar, psychologisch betrachtet."

" ... schon wieder 'n großes Auto, Geschäfte laufen, entnazifiziert ... Ich dagegen, als Landwirt ..."

"Lokalrunde! Lokalrunde!"

"Als Landwirt ..."

"Eine Runde auf Herrn von Horwitz, Herr Diebel!"

"Wieso auf mich? Er hat angefangen."

"Diebel!"

"Entnazifiziert!"

"Aber hallo!"

"Thomas, mein Freund ..."

"Sie haben entnazifiziert gesagt ..."

"Das war nicht politisch ..."

"Wer politisiert, zahlt eine Runde, damit basta. Diebel!"

"Im Wiederholungsfall ..."

"Er spricht vom Ersten Weltkrieg, vom Zweiten, ein Wunder, daß er nicht wieder von Auschwitz anfängt, aber wenn ich mal sage entnazifiziert ...!"

"Herr Knopp, ich schwöre Ihnen ..."

"Das ist nicht politisch."

"Wenn Auschwitz nicht politisch war."

"Keine Widerrede. Auschwitz war ein stinknormaler Demozid, wie er sich in diesem Jahrhundert dutzendfach ereignet hat. Überall auf der Welt."

"Ach, Kinder, letzte Woche mußte ich einen ausgeben, nur weil ich gesagt haben soll, Sepp Herberger wäre schon in den dreißiger Jahren ... Motze, mein Freund! Der Herr hier will eine Bestellung aufgeben!"

"Was noch dazu stimmte ..."

"Blödsinn, Sepp Herberger war ..."

"Und was sagen wir zum Ersten Weltkrieg?"

"Ritter, Tod und Teufel."

"Nicht schon wieder!"

"Da sind wir reingeschlittert."

"Ist herrschende Meinung."

"Einfach reingeschlittert? Ohne Kriegsziele?"

"Genau wie die anderen. Die Engländer, die Franzosen, die Belgier, und wie sie alle hießen."

"Aber, meine Herren, das war doch keine Schlitterpartie. Erinnern Sie sich nicht an den Jubel? Das war eine Befreiung. Eine waschechte Befreiung."

"Herr Habermas, bitte!"

"Ich war noch nicht auf der Welt. Ich konnte nicht jubeln, aber wenn Herr Habermas ..."

"Alberner Einwand."

"Herr Wurz, der Erste Weltkrieg ..."

"Na ja, wir Deutschen vielleicht wohl doch schon ein bißchen mehr als ... Aber im großen ganzen, vor allem ex nunc, wo der Pulverdampf der Geschichte ..."

" ... aus den rauchenden Köpfen der Historiker ..."

"Lesen Sie Thomas Mann. Ein unvorstellbarer Jubel!"

"O what a lovely war."

"Sepp Herberger war ..."

"Und der Zweite, was sagen wir zum Zweiten?"

"Der Zweite? Der Zweite was?"

"Der Zweite war ... wie soll ich sagen ... der Zweite ..."

"Ohne den Ersten kein Zweiter."

"Der Schandfriede von Versailles, Herr Schindehütte ..."

"Also, ich will mal sagen, überspitzt formuliert, vielleicht ein bißchen ..."

"Das will heute keiner mehr wahrhaben."

" ... wenn wir den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hätten, hätten wir die Fußballweltmeisterschaft 1954 nicht gewonnen und Sepp Herberger ... Ist Ihnen mal aufgefallen: vierundfünfzig, fünfundvierzig? Wie oft sich in diesem Jahrhundert solche Zahlenspiele ereignet haben? Vierzehn hat der Erste Weltkrieg angefangen, einundvierzig der Rußlandfeldzug, achtzehn war der Erste zu Ende, einundachtzig hatte die sozialliberale Koalition abgewirtschaftet."

"Das war zweiundachtzig!"

"Was ist mit dem Sparwassertor?"

"Sepp Herberger ..."

"Also, jetzt lassen Sie doch endlich mal Ihren albernen Sepp Herberger aus dem Spiel, Herr Debius."

"Herberger war Jahrgang achtundneunzig."

"Na und?"

"1989 ist die DDR zusammengebrochen."

"Worden, wollten Sie sagen."

"Herberger ist siebenundneunzig geboren, sonst hätte er achtundneunzig vielleicht noch mal Libero spielen müssen."

"Wieso?"

"Zusammengebrochen worden."

"Also gut, den Zweiten Weltkrieg haben wir verloren, aber was bedeutet das? Was will die Geschichte uns damit sagen?"

"Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn wir ihn gewonnen hätten?"

"Wieso? Er hat ihn doch nicht verloren."

"Ich auch nicht."

"Meine Eltern sind vertrieben worden."

"Was sagen Sie denn dazu, Herr Klebe? Sie sind so schweigsam heute vormittag."

"Sie wissen ja, ich bin Dialektiker."

"Mein Gott, wer ist das schon?"

"Im Süddeutschen wird noch viel Dialekt gesprochen, wie ich kürzlich festgestellt habe. Wir waren über Pfingsten ein paar Tage im Markgräfler Land. Feine Gegend, gute Weine."

"Zu den schlimmsten Folgen des Zweiten Weltkriegs gehört die Amerikanisierung des gesamten Lebens, wenn Sie mich fragen, bis hinein ins sprachliche Bewußtsein. Haben Sie mal ..."

"Herr Habermas, wem sagen Sie das ..."

" ...Ich sage manchmal, zu meiner Frau ..."

"O nein, diese Amerikanismen! Entsetzlich! Bei uns in der Firma, ich sage Ihnen, kein Briefing, kein Meeting, kein Round-table-Gespräch, wo nicht jedes zweite Statement nur so strotzt vor Anglizismen, Provider , Controller, Dispatcher ..."

"Pommes frittes."

"Wissen Sie, was Pampers auf Türkisch heißt?"

"Das fing an mit den Getränken, wo man plötzlich Drinks sagte ..."

"Herr Schneidewind! Der ist gut, den müssen Sie noch mal erzählen! Herr Schindehütte!"

"Aber nur, wenn er nicht politisch ist. Mein Schwiegersohn in spe ist aus Antalya."

"Sind das die, die im Meisental wohnen? Da, wo die Kleingärten sind."

"Ja, genau."

"Sagten Sie vorhin Dialektiker oder Diabetiker?"

"Keins von beidem."

Epilog. Knopp und Stroessel auf dem Nachhauseweg.

"Ist doch immer irgendwie, so ein ..."

"Vermutlich."

"Galilei wußte schon, warum er am Sonntag nicht zum Frühschoppen ging, sondern lieber zu seiner Geliebten."

"Während die Frau kochte."

"Wahrscheinlich."

"Aber der Debius ist eben auch unheimlich gewandt, rein rhetorisch."

"Der Klebe aber auch."

"Sowieso. Der immer. Praktisch immer. Der hat das wahrscheinlich schon mit der Muttermilch eingesogen. Irgendwer sagte, er sei Diabetiker. Stimmt das?"

"Ick weeßet nich'!"

"Nur der Wurz war so still."

"Wegen seiner Frau vermutlich."

"Fehlt ihr was?"

"Sie krebst so vor sich hin."

"Das hab' ich gehört. Entsetzlich."

"Schicksal."

"Ja, da kann man nichts machen. Na, dann: Guten Appetit."

"Ihnen auch. Was gibt's denn?"

"Hebes un Hoas."

Nächste Woche: "Die Revolution von 1830"