Kontinuität durch Verleugnung

Vor 50 Jahren wurde die deutsche Sozialdemokratie Mitglied der Internationalen Sozialistischen Konferenz

In der Begeisterung über die neue Einheit der Partei ging auf dem Hannoveraner Parteitag fast unter, daß die SPD am 1. Dezember ein rundes Jubiläum feiern konnte: Vor 50 Jahren wurde sie auf der Konferenz von Antwerpen ordentliches Mitglied der Internationalen Sozialistischen Konferenz, der Vorläuferorganisation der 1951 gegründeten Sozialistischen Internationale.

Sonderlich glorios wurde die Aufnahme nicht vollzogen, sonderlich Aufregendes passierte in Antwerpen nicht. Es war ein vor allem aus Antikommunismus motivierter Schulterschluß der Sozialisten im Zeichen des heraufziehenden Kalten Kriegs. Die Erinnerung an den Vorgang und die Analyse, wie die sozialdemokratische Geschichtsschreibung diesen Prozeß darstellt, lohnt. Denn im Kreis der internationalen Sozialisten standen während der vorangegangenen strittigen Diskussion auf der Züricher Konferenz am 8. Juni 1947 Fragen zur Debatte, die lange verdrängt wurden und erst im Verlauf der Goldhagen-Kontroverse wieder diskutiert werden, zumindest von Teilen der Linken: die Legende von den massenhaft verführten, eigentlich "guten" Deutschen und der unbescholtenen, widerständigen und "guten" deutschen Arbeiterbewegung.

Schon die Debatte auf der Züricher Konferenz wurde vom Kalten Krieg überschattet. Doch in Zürich hatte der Antikommunismus noch nicht die herausragende Bedeutung, der alles andere untergeordnet wurde. Hier wurde die "deutsche Frage" auf die Tagesordnung gesetzt und als deutsche Frage debattiert - daher scheiterte dieser erste Anlauf der deutschen Sozialdemokratie, wieder internationale Anerkennung zu finden, unerwartet.

In der parteinahen Geschichtsschreibung ist davon nicht die Rede. Dort wird die Züricher Konferenz zumeist nur kurz erwähnt: Gabriele Ilse Scheberan "vergißt" sie in ihrer Auflistung der internationalen sozialistischen Konferenzen schlicht und effektiv. Aus den in Zürich gehaltenen Reden wird nicht nur in der Standard-Darstellung Julius Braunthals, sondern fast durchweg nur ein und derselbe Redeausschnitt des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zitiert, in dem dieser den sozialdemokratischen Widerstand durch eine Anekdote darstellt - tausend Jahre Zuchthaus gegen das als tausendjährig deklarierte Reich: "Am 6. Mai 1945 hatten wir uns in Hannover, im Rücken der Engländer und Amerikaner, in einer Versammlung zusammengefunden, in einem kleinen Kreis von einigen hundert Menschen aus der Widerstandsbewegung. An dieser Versammlung haben wir eine Liste aufgelegt und haben die Anwesenden aufgefordert, einzuschreiben, wie lange sie vom Dritten Reich eingesperrt gewesen waren. Und wie ich mich in dieser Versammlung umsah, da haben tausend Jahre Zuchthaus mich angeschaut."

Diese Passage Schumachers wurde später so gerne zitiert, da in seinen Reden sonst nicht viel über den Widerstand zu finden ist. In Zürich sah sich Schumacher durch die kritischen Fragen verschiedener Delegierter dazu gedrängt, den sozialdemokratischen Widerstand hochzuhalten. Ansonsten versäumte es Schumacher, der als langjähriger KZ-Insasse dazu in der Öffentlichkeit bestens legitimiert gewesen wäre, dafür zu sorgen, daß der Widerstand von Arbeiterinen und Arbeitern gewürdigt würde.

Zu seinen Motiven schrieb Susanne Miller 1994: "Schumacher war von Anfang an darauf bedacht, durch ideologische Offenheit und die Vertretung nationaler Interessen die Basis der SPD zu verbreitern und Spaltungen innerhalb der Partei zu vermeiden, die im Verhältnis zur Gesamtpartei kleine Gruppe der im Widerstand Aktiven herauszustellen, hätte diesem Kurs widersprochen. Für die Gewinnung neuer Wählerschichten, auf welche die SPD unbedingt angewiesen war, um den von Schumacher vertretenen Führungsanspruch seiner Partei erfüllen zu können, wäre eine Betonung des antifaschistischen Widerstands ein Hindernis gewesen."

Genau gegen diese nationale Integrationsstrategie, sich den führerlos gewordenen Deutschen als Führung anzubieten, argumentierten die kritischen Delegierten in Zürich. So forderte der polnische Delegierte Hochfeld von der SPD, "ihre Tätigkeit zu verändern und sie einer tiefgehenden, ruhigen und beharrlichen Erziehung der deutschen Nation in einem antinationalistischen Geist zu widmen, selbst unter Verlust von Popularität und sicherlich um den Preis der reaktionären Stimmen, die die SPD so gierig einsammelt." Vehement griff Hochfeld die "wüste und hitzige Agitation" der SPD "für die Revision der polnischen Westgrenze" an: "Wenn die SPD leidenschaftlich gegen unsere Grenzen demonstriert, demonstriert sie für den Krieg."

Der rumänische Delegierte thematisierte die Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber dem Antisemitismus, einer "Grundlage des Nazismus": "Wir denken, daß die deutschen Sozialisten nicht genügend Mut haben, den Antisemitismus zu bekämpfen. Sie geben uns nicht genügend Garantien bezüglich Leuten, die morgen vielleicht das fortsetzen könnten, was die gestern getan haben." M. Jarblum von der Delegation aus Palästina, Vertreter des BUNDes, sprach deutlich die "Verantwortung" des gesamten deutschen Volkes und der deutschen Sozialdemokratie, deren Vorsitzender sich ja leidenschaftlich zur deutschen Nation bekannt hatte, an.

Schumacher wollte alle diese Einwände vom Tisch wischen; ihm ging es um die internationale Unterstützung für seinen nationalistischen Kurs. Übergangen wurden dabei auch die Opfer des Nazismus - mit einer Ausnahme: Wo es opportun war, tauchte die SPD in einer simplen Täter-Opfer-Dichotomie allein auf der Seite der Opfer auf. Die geforderten Grenzrevisionen legitimierte Schumacher ökonomisch und bevölkerungspolitisch.

Auf die Forderung, die SPD solle auf eine strikte Entnazifizierung drängen und nicht die Fehler von Weimar wiederholen, als der Kaiser ging und die Generäle blieben, ließ er sich überhaupt nicht ein. Von Verantwortung der Deutschen und der deutschen Sozialdemokratie wollte der Parteiführer, der die SPD als "unlösbaren Bestandteil" des deutschen Volkes betrachtete, buchstäblich nichts wissen. Er transformierte die Frage nach der Verantwortung in eine nach der (kollektiven) Schuld.

Doch davon war, im Unterschied zur im März 1945 auf der Londoner Konferenz der europäischen sozialistischen Parteien verabschiedeten "Declaration on the German Problem", wo einmal tatsächlich der Begriff "collective guilt" auftaucht, auf der Konferenz überhaupt nicht die Rede. Den nur imaginären Vorwurf kollektiver Schuld konnte Schumacher um so leichter verwerfen (dieser üble demagogische Trick ist ja aus der Goldhagen-Kontroverse noch frisch im Gedächtnis). Als Partei des Widerstands sei die SPD in keiner Weise für die Nazivergangenheit verantwortlich zu machen.

Verständlich, daß M. Jarblum von Schumacher herb enttäuscht war. Jarblum, der gerade von einem Besuch in Auschwitz nach Zürich gekommen war, hatte gehofft, von Schumacher einen "Aufschrei des Gewissens" zu hören, und zu verstehen gegeben, daß er bereit sei zu verzeihen. Nun sah er sich mit fadenscheinigen Argumenten abgespeist.

Der ersten Verleugnung folgte nach Jahrzehnten des Schweigens die zweite. Unseres Wissens als einziger hat Rolf Steininger den Streit um die Wiederaufnahme der SPD zu den Internationalen Sozialistischen Konferenzen auführlicher thematisiert; er hat auch das Tagungsprotokoll in einem Band des Archivs für Sozialgeschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung ediert und kommentiert. Doch Steininger interpretiert die Auseinandersetzung einzig und allein auf der Folie des Kalten Krieges, den er damit - 1979 - interpretatorisch fortsetzt. Welche Argumente gegen die Aufnahme der SPD vorgebracht wurden, erfährt man bei Steininger leider nur in homöopathischer Dosierung. Er bezichtigt Jarblum und die osteuropäischen Delegierten, die Konferenz als "Stunde der Abrechnung und der Aufrechnung" genutzt zu haben. Dabei hätten sich die "Ressentiments, die noch (sic) zwei Jahre nach Kriegsende gegenüber Deutschland vorhanden waren und die sich nun auf die SPD und Schumacher konzentrierten", mit "aller Schärfe" entladen. Was Steininger hier als "Ressentiment" niedermacht, war, um mit dem hierzulande bezeichnenderweise kaum bekannten französischen Philosophen und Résistance-Kämpfer Vladimir Jankélévitsch zu sprechen, der Protest "gegen eine moralische Amnestie, die nur eine beschämende Amnesie" ist.

Diese Amnesie wirkt bis heute. Seit einigen Jahren forscht Steininger über den Umgang mit dem Holocaust nach 1945. Beredt bringt er sich dabei ein. Seine Arbeit sei Gegenstand historischer Verleugnung in Deutschland und Österreich geworden; in der Tat wurde sein auf 1978 im Filmarchiv der US-Air Force gefundenen Filmdokumenten über die Konzentrationslager vom Frühjahr 1945 basierender Dokumentarfilm von 1980 in Deutschland und Österreich nicht ausgestrahlt, während er international große Anerkennung fand: "Man wollte mit diesem Teil der Vergangenheit schon damals eigentlich nichts mehr zu tun haben", schreibt Steininger, wie "nach 1945 (...) Deutsche und Österreicher Auschwitz nicht wahrhaben" wollten.

Das ist alles richtig. Aufrichtig wäre indes, wenn Steininger seinen eigenen Beitrag zur zweiten Verleugnung öffentlich reflektierte. Da er dies nicht tut, die Kontinuitätslinie nicht bis zu sich zieht, um wirklich mit ihr zu brechen, läuft seine Forschung Gefahr, als Teil des akademischen Shoah-Business die Verleugnung nur zu verlängern.