Roman Herzog-Rede

Würde bleibt

Mit der Bestimmung verbindlicher Werte tun sich unsere Wertkonservativen schwer, und so fielen auch dem Bundespräsidenten Herzog, der sich ein "wertorientiertes" Bildungssystem wünscht, neben der Toleranz nur "Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin" ein. Der Religionsunterricht sei unentbehrlich, erklärte er in seiner großen Rede zur Bildungspolitik. Außerdem werde man alle Fachbereiche "Grenzüberschreitungen aus den Geisteswissenschaften und der Kunst aussetzen müssen, vor allem aus der Ethik und umgekehrt".

Wozu eine höhere - zumal eine juristische - Bildung den Menschen befähigt, und wie es der Ethik ergeht, wenn Juristen sich ihrer annehmen, die nebenamtlich im Evangelischen Arbeitskreis der CDU sitzen, davon gab Herzog bereits 1966 als Professor für Staatsrecht fabelhafte Proben. Für das "Evangelische Staatslexikon" kommentierte er damals den Grundgesetzartikel 102, der - zumindest im Verständnis des Laien - die Todesstrafe abschafft. Aber der Laie ist meistens ahnungslos, und deshalb gibt es Juristen: "Wollte man nämlich das Wort 'Todesstrafe' so verstehen, wie es dem herkömmlichen strafrechtl. Sprachgebrauch entspricht, so wäre damit nur die Tötung zum Zwecke der Übelzufügung ('Repressalie') für eine begangene Straftat verboten; die Tötung zum alleinigen Zwecke der Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter, die das Strafrecht gerade nicht unter den Begriff der Strafe, sondern unter den davon scharf geschiedenen Begriff der Maßregelung rechnet, wäre damit von Art. 102 GG nicht verboten."

Das aber habet zum Trost: Es entspreche der herrschenden Lehrmeinung, "daß Art. 102 GG die Tötung nicht nur als Strafe i.e.S., sondern auch als Sicherungsmaßregel, d.h. ganz allg. als staatl. Reaktion gegen Delikte ausschließt. Ob darüber hinaus ganz allg. die planmäßige Tötung namentl. bestimmbarer Personen mit Art. 102 GG unvereinbar ist, (...) ist bisher nicht geklärt."

Um die Todesstrafe zumindest als Maßregel wieder einzuführen, braucht es also nur ein verständiges Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Wie aber steht es mit ihrer Wiedereinführung als Repressalie? "Ein Verbot, die Todesstrafe durch Verf.änderung wieder einzuführen, besteht nicht ... Der Versuch, die Unantastbarkeit des Art. 102 GG damit zu begründen, daß jede Todesstrafe notwendig ein Verstoß gegen die Menschenwürde sei, schlägt fehl. Einmal dürfte es sehr schwerfallen, diese These allg. zu begründen, und zum anderen beweist gerade die Stellung des Art. 102 GG im Verf.gefüge, daß hier nicht ausnahmslos mit Art. 1 GG (Menschenwürde) argumentiert werden kann."

Der Laie hat, wie alles andere, also auch den ersten Artikel des Grundgesetzes vollkommen falsch verstanden. Die Unantastbarkeit der Würde bedeutet nicht, daß der Staat die Würde nicht antasten darf, sondern daß er sie im Gegenteil gar nicht antasten kann. Denn sie ist schlechterdings unantastbar, wie die Seele unsterblich ist. Wie seine Seele überlebt auch die Würde den Delinquenten unangetastet. Man könnte ihn teeren, federn und in einer Jauchegrube ersäufen, ohne gegen den Artikel 1 zu verstoßen, der keine Norm errichtet, sondern eine Tatsache feststellt.

Und darauf kommt halt nur, wer rechtzeitig mit den einschlägigen Bildungsbrocken kollidiert und fortan die Grenzen von Ethik mutig überschreitet.