Mißtraut euren Ikonen

Eisensteins "Panzerkreuz Potemkin", Picassos "Guernica" oder Paul Klees Aquarell "Angelus Novus" - Otto Karl Werckmeister entstaubt die Bildergalerie der Linken

Soeben sind die Feiern zum achtzigsten Jahrestag der Oktober-Revolution vorübergegangen: vier lange "Sergej Eisenstein"-Nächte in den dritten Fernsehprogrammen (Ansagerin: "Heute machen wir Revolution in Bayern Drei!"). Angelegentlich dieses Ereignisses durfte sich der Zuschauer auch noch einmal mit der meuternden Besatzung auf dem Panzerkreuzer Potemkin freuen: Wenn sie am Ende des Films die zaristischen Schwarzmeer-Matrosen als Gesinnungs- und Kampfgenossen erkennt. Das Bild der "Brüder! Brüder!" skandierenden Revolutionäre am Bug des Schiffs ist eine Ikone der Oktoberrevolution - aber auch ein klassisches Motiv linker Selbstvergewisserungs- und Durchhaltekunst: Revoltierende Soldaten, die zusammenhalten, hält nichts mehr auf.

Doch wie allzu oft, so enthüllt nun Otto Karl Werckmeister in seinem Buch "Linke Ikonen", werden die werktätigen Massen auch beim Anblick von Eisensteins Film mit einem Trugbild abgespeist. Denn die revolutionsstiftende Selbstbewußtwerdung des Militärs, die den Kern von Eisensteins filmischer Darstellung ausmacht, hat realiter niemals stattgefunden. Im Gegenteil. Es war gerade die mangelnde Disziplin der Matrosen, ihr zuerst zögerliches, dann überlegtes Handeln, an dem der erste Anlauf zur Revolution kläglich scheitern mußte: Sozialdemokratische Agitation blieb vergeblich, die Abstimmung der Aktionen mit den streikenden Arbeitern in Odessa mißlang.

Eisenstein hat drei Kalamitäten - die schwierige Organisation des revolutionären Subjekts - dem identifikatorischen Effekt geopfert, weil er Lenins Theorie vom Militär als Motor der Revolution folgte. Mit seiner Verklärung der revoltierenden Matrosen zu Filmhelden leugnete er nicht bloß die historische Rolle der Arbeiterklasse. Wie Werckmeister zeigt, verriet Eisenstein dabei das eigene ästhetische Dogma: die Montage als Mittel der Verfremdung zu nutzen. Mit der Schnittetechnik sollte dem Zuschauer sonst die reflexive Distanz zum Gezeigten erhalten bleiben. Am Ende des "Potemkin"-Films wird er, im Gegenteil, überwältigt. So, wie die parallelgefügten Szenen dem Höhepunkt der Geschichte entgegenstreben, befördert die Montage bloß die "bürgerliche" Emotionalität des sich schließenden Darstellungsraums. Die dergestalt erzeugte Identifikation der Zuschauer mit den Revolutionshelden schließt aber politische Bewußtwerdung aus.

Werckmeister interessiert sich für diesen Zusammenhang - zwischen der Inszenierung des soldatischen Helden und dem Rückfall in realistische Darstellungsweisen - , weil er, seinerseits nicht ganz unpathetisch, als Kunsthistoriker dem Pathos der Bilder mißtraut. Ebenso sollte "die Linke" seiner Ansicht nach an der positiven Kraft militärischer Revolten zweifeln: beide lassen sich bekanntlich mal für, mal gegen den "historischen Fortschritt" instrumentalisieren. So, wie Soldaten das eigene Volk mit der gleichen Gründlichkeit verteidigen oder massakrieren - so ist auch Eisensteins Ästhetik der Schocks politisch beliebig zu nutzen. Nicht umsonst hat Goebbels einen "nationalsozialistischen Panzerkreuzer" gefordert.

Werckmeister verfolgt nun leider die Wertungen Eisensteins nicht systematisch durch die Geschichte der "linken" Ästhetik. Er interessiert sich vornehmlich für die Übertragung seiner Bilder und Theorien in die "dissidenten" Milieus Westeuropas: Noch in der Weimarer Republik sei die pathetische "Mach mit!"-Geste Eisensteins zum identitätsstiftenden Zeichen für linke Intellektuelle geworden, der Widerstand gegen die Zensur des Films mithin zum politischen Tupfer auf einer sonst zweckfreien ästhetischen Praxis. So sei eine dauerhaft haltbare "linke Ikone" entstanden, welche die politische Einfluß- und Tatenlosigkeit der Linken mit ästhetischen Mitteln erfolgreich überspiele: Als solche - und dies ist Werckmeisters eigentliche "provokante" These - sei sie bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Staaten gleichermaßen unreflektiert und wirksam geblieben.

Richtig an diesen Beobachtungen ist, daß erst unter den Bedingungen der Perestroika sowjetische Wissenschaftler das von Lenin geprägte Bild der militärischen Massenagitation ebenso kritisiert haben wie Eisensteins Inkonsequenz in seinen ästhetischen Mitteln. Ein wenig erstaunt ist man dann allerdings, wie umstandslos von der verspäteten Diskussion in der sowjetischen Filmwissenschaft auf fehlende An- und Einsichten in der westeuropäischen Linken geschlossen wird. Auch vor Werckmeisters - zweifellos originellen - Betrachtungen wurde die politische Ambivalenz der Eisensteinschen Montage-Verfahren einschlägig kritisiert, seit zirka 25 Jahren: zuerst bei Christian Metz und seinen Schülern, dann zum Beispiel von den Historikern des frühen Kinos am British Film Institute.

Von diesen Forschungen ist bei Werckmeister deshalb nicht die Rede, weil er ihren wissenschaftlichen Hintergrund, die Revision marxistischer Kulturtheorie in den siebziger Jahren, generell unter Ideologieverdacht stellt. "Poststrukturalismus, Feminismus, Dekonstruktion und Psychoanalyse" mitsamt ihrer Kritik am orthodoxen Marxismus hätten sich schon deshalb disqualifiziert, weil sie auf die "Stringenz der marxistischen Tradition" verzichten.

Dieser bornierte Blick auf die Wissenschaftsgeschichte erklärt die Generalthese, die Werckmeister seinen insgesamt fünf Essays in "Linke Ikonen" voranstellt: daß erst unter den Bedingungen einer vom Staatskommunismus befreiten Welt jene "Ikonen" als solche kenntlich und kritisierbar werden, mit der sich linke Milieus traditionell ihre Dissidenz bescheinigten. Diese Behauptung ist natürlich falsch; wenn man der westlichen "Linken" etwas vorhalten kann, dann wohl doch eher das Übermaß selbstkritischer Zweifel. Allerdings sind die in diesem Band versammelten Essays mit dieser These nur sehr locker verknüpft, so daß Werckmeisters Verschränkungen von kunst-, staats- und militärhistorischem Material lesbar und inspirierend sind.

Ähnlich wie mit dem Emblem der jubelnden Matrosen auf der "Potemkin" verfährt er zum Beispiel mit Picassos "Guernica"-Gemälde. Gegen das notorische Mißverständnis, hierbei handele es sich um ein "pazifistisches Mahnmal", erläutert er detailliert die Funktion des Bildes innerhalb der spanischen Volksfrontpolitik und im Rahmen der Weltausstellung 1937 in Paris. Niemals habe es sich um einen künstlerischen Protest gegen einen Luftangriff gehandelt. Sinn und Zweck von "Guernica" sei gewesen, den Kampfwillen zu stärken. Diese "ursprüngliche Bedeutung" müsse jeder bedenken, der das Bild für gegenwärtige Konflikte umzuwerten gedenke.

Lesenswert ist insbesondere sein Text über Walter Benjamins "Neunte These" zur Geschichtsphilosophie, in der Paul Klees "Angelus Novus"-Figur als Symbol des Historikers gedeutet wird, dem die Hoffnung auf utopische Veränderungen abhanden gekommen ist: rückwärtstaumelnd steigt er über die Trümmerfelder, die die Geschichte ihm hinterlassen hat. Gegen die breite Begeisterung für Benjamins metaphysischen Pessimismus besteht Werckmeister auf einer Kritik der Begrifflichkeit, in der dieser sein Scheitern als kommunistischer Intellektueller zu formulieren versucht. Wie die Verzweiflung des gehetzten Emigranten in Fatalismus umschlägt - und dieser wiederum in messianische Erlösungsphantasien - müsse sicher auch aus den politischen Umständen heraus verstanden werden, unter denen Benjamin schrieb.

Ebenso bedeutsam sei aber der generell unaufgelöste Widerspruch zwischen den theologischen und den marxistischen Teilen seines Werks. Wer Benjamins Unentschiedenheit zwischen diesen Polen als "Lizenz" zum paradoxen Räsonnement brauche, werde seiner Geschichtsphilosophie weder in ihrer Absicht gerecht, noch könne er ihr Scheitern verstehen.

In seiner Mobilisierung der historischen Kontexte gegen den, gerade auch unter "Linken" wieder populären Schreibtisch-Theoretizismus liegen Werckmeisters Stärken, hier äußert sich aber auch seine wesentliche Schwäche. Denn als materialistischer Ästhetiker neigt er dazu, seine Gegenstände lediglich als Dokumente bestimmter historischer Situationen zu betrachten. Ideologiekritik, wie sie Werckmeister betreibt, bleibt der leidigen Widerspiegelungstheorie zumindest insofern verhaftet, als sie den ideologischen Gehalt des Kunstwerks immer in dessen (verfälschendem) Verhältnis zur historischen Wahrheit sucht. Aber ist mit der Aufklärung seiner Entstehungsbedingungen der Sinn eines Kunstwerks wirklich hinreichend erklärt? Wie jene ideologischen "Mißverständnisse", die Werckmeister berichtigen möchte, in der Struktur der Kunstwerke als Kunstwerke - nämlich ihrer wesenhaften Vieldeutigkeit - angelegt sind, entzieht sich seinem analytischen Instrumentarium.

Gleichsam bleiben die Überlegungen, warum und unter welchen Bedingungen sich bestimmte ideologische Lesarten durchgesetzt und gehalten haben, durchweg unbewiesen und blaß. Aus der Gegenüberstellung von ursprünglicher Bedeutung und punktuellen historischen Verfremdungen läßt sich keine Genealogie von Interpretationen rekonstruieren. So bleibt als Pointe meist die Zurechtweisung unbedeutender Figuren aus dem intellektuellen Zirkus der Gegenwart. Aber zu welchem Zweck? Den bramarbasierenden Benjamin-Exegeten Lutz Niethammer hat wohl auch vorher niemand ernsthaft zur politischen Linken gezählt oder anderweitig für einen satisfaktionsfähigen Gegner gehalten. Auch daß sich Günter Grass - den Werckmeister für seine schlecht informierte - Kritik an der "Guernica"-Werbekampagne der deutschen Bundeswehr rügt - vor allem durch sozialdemokratisches "Querdenkertum" im Gedächtnis der Öffentlichkeit hält und weniger durch seinen Kunstverstand beeindruckt, ist keine allzu neue Erkenntnis.

Interessant an solchen Figuren wäre wohl doch eher ihre identitätsstiftende Funktion in bestimmten ex-, post- oder pseudolinken Milieus - und nicht die saturierte bürgerliche Existenz, die Werckmeister hinter ihren "Abweichgesten" enthüllt. Und: Wie auch unterscheidet sich seine eigene soziale Praxis - seit dreizehn Jahren ist er Professor für Kunstgeschichte an der Northwestern University in Evanston/Illinois - von diesen Philister-Existenzen, deren mangelnde Authenzität er, auf bisweilen unangenehme Weise rechthaberisch, wieder und wieder brandmarkt? Werckmeisters Beteuerung, im Gegensatz zu diesen armseligen Gestalten sei er sich "über die Wirkungslosigkeit dessen", was er schreibe, "ganz im klaren", wirkt als Beitrag zur geforderten Selbstkritik linker Denker reichlich pilatushaft.

Otto Karl Werckmeister: Linke Ikonen. Benjamin, Eisenstein, Picasso - nach dem Fall des Kommunismus. Hanser Verlag München, 248 S., DM 36