Die Herrschaft der Mutter

Heide Göttner-Abendroths und Kurt Derungs Studie zu matriarchalen Gesellschaften

Gibt es Geschlechtsverhältnisse jenseits des Patriarchat? Ja, freilich, können wir beim heutigen ethnologischen Forschungsstand sagen. Doch fangen hier die Probleme erst an. Eleanor Leacock zum Beispiel rechnet für die Prähistorie mit geschlechtsegalitären Gesellschaften, in denen kaum signifikante Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern feststellbar wären. Wegen der trotzdem allgegenwärtigen geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Beobachtung, daß Männer und Frauen häufig in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Machtressourcen innehaben, sprechen Ilse Lenz und Ute Luig lieber von geschlechtssymmetrischen Gesellschaften. Andere Forscher reden von matrifokalen oder matristischen Gesellschaften.

Gegen all diese Begriffsvorlieben kämpft seit vielen Jahren Heide Göttner-Abendroth an, die geltend macht, es habe in der Menschheitsgeschichte eine allgemeine soziale Entwicklungsstufe des Matriarchats gegeben, gekennzeichnet durch Matrilinearität (Abstammungsrechnung nach der Mutter), Besuchsehe (des im übrigen bei seiner Mutter wohnenden Ehemannes im Haus seiner Gattin), durch eine an Ausgleich orientierte Ökonomie und konsensuelle Entscheidungsfindung, und schließlich durch eine in vegetativen Kreisläufen denkende Religiosität, gipfelnd in der Verehrung einer großen Göttin.

Nun legt Göttner-Abendroth zusammen mit Kurt Derungs einen Sammelband vor, der eine Reihe ethnographischer Belegtexte (teilweise Klassiker ihres Fachs) und theoretische Erörterungen zu diesem Ansatz vereinigt. Wir erfahren Details über die brasilianischen Canela-Indianer (Mehringer/Dieckert) und Xingu (Feinberg), über die Irokesen (Schlesier, Schumacher), über die polynesischen Trobriander (Reich, Malinowski), die südchinesischen Mosuo (Göttner-Abendroth), die Altvölker Taiwans (Derungs), die indonesischen Minangkabau (Benda-Beckmann, Rentmeister), die Khasi in Assam (Becker, Bertrand sowie von Ehrenfels), und schließlich über diverse Ethnien in Südindien und auf Ceylon (Bechert). All dies ist überaus spannend zu lesen, und zwar auch darum, weil es vielfach Göttner-Abendroths Idealtyp wirklich nahekommt.

Und dennoch verfehlt dieses wirklich lesenswerte Buch sein Ziel. Denn bei aller Sympathie für die geschilderten Völker leuchtet zumindest dreierlei nicht wirklich ein. Erstens, wieso es sich um "Matriarchate" handeln soll, um Gesellschaften also, in denen die Frauen (als Mütter) doch immerhin "vorherrschen" müßten. Vielmehr zeigt sich immer wieder eine typische Rollenteilung, nach der zwar der Haushaltsverband weiblich ist, die Außenrepräsentanz aber von Männern - typischerweise dem "Mutterbruder" - wahrgenommen wird. Ein System von "checks and balances", das wohl am ausgeklügelten in der komplizierten Verfassung der Irokesenliga vorliegt.

Zweitens wird nicht plausibel (ebensowenig wie in Göttner-Abendroths auf vier Bände angelegter Reihe "Das Matriarchat"), daß es sich um eine universelle Entwicklungsstufe handeln soll. Hier grüßt Gevatter Evolutionismus, der noch stets der vorfindlichen institutionellen Vielfalt Gewalt antun mußte, um ein höchst gegenwärtiges Ziel zu unterstützen. Göttner-Abendroth ist hier immerhin zugute zu halten, daß sie ihr politisches Interesse, das zudem sympathischer ist als jenes des klassischen Evolutionismus, ausdrücklich benennt. Dennoch zeigen nicht zuletzt Arbeiten anderer feministischer Ethnologinnen, daß gerade nichtpatriarchale Gesellschaften mit größerer institutioneller Vielfalt aufwarten, als das hier präsentierte Modell ahnen läßt.

Drittens schließlich wird die Gleichung, die im Buchtitel aufgemacht wird, nicht eingelöst. Ja: Es gibt jenen matrifokalen Gesellschaftstyp, den Göttner-Abendroth "Matriarchat" nennt; und ja: es gibt herrschaftsfreie Gesellschaften. Aber sind die beiden Mengen identisch? Christian Sigrist, an dessen Theorie der "Regulierten Anarchie" die Forscherin anknüpft und der im zu besprechenden Band ebenfalls mit zwei Textfragmenten vertreten ist, hat seine Theorie herrschaftsfreier Gesellschaften ausschließlich an patrilinearen Gesellschaften gewonnen, bei denen von Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern nur schwerlich die Rede sein konnte. Und Göttner-Abendroth konzipiert umgekehrt "matriarchale Staaten", wo doch Staat das Kriterium für Herrschaftlichkeit darstellt. So wird auch, namentlich bei den indischen Fallstudien, häufiger von "mutterrechtlichem Thronfolgerecht" in Monarchien berichtet. Es drängt sich also der Schluß auf, daß "Matriarchat" und "Herrschaftsfreiheit" zwei Kategorien sind, die quer zueinander liegen. Der Status von Frauen in "Anarchien" ist sicher durchschnittlich besser als andernorts; und die Herrschaftsdichte in matrifokalen Gesellschaften ist durchschnittlich gewiß geringer als sonst; eine Gleichsetzung entspringt aber eher einem Wunschdenken als der Empirie.

Eines der Charakteristika von "Matriarchaten" ist, Göttner-Abendroth folgend, das Fehlen einer dualistischen Moral, die streng zwischen "Gut" und "Böse" trennt. An ihre Stelle treten Vorstellungen von zyklischem Wechsel und Wiederkehr - zum Beispiel zwischen Hell und Dunkel, Tag und Nacht. Aber wie weit muß man, wenn man beide Seiten als notwendig ansieht, beide auch moralisch gleich bewerten? Göttner-Abendroth selbst liefert ohne Absicht aufschlußreiches Anschauungsmaterial. Sie argumentiert nämlich ihrerseits manichäischer als der Papst: Alles am "Matriarchat" ist harmonisch, friedlich, gut; alles am Patriarchat ist räuberisch, klassenspaltend, böse. An dieser auf heutige Kämpfe zielenden Zuspitzung leidet der Ansatz. Dennoch ein spannendes, empfehlenswertes Buch.

Heide Göttner-Abendroth / Kurt Derungs (Hg.): Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften. Edition amalia, Bern 1997, 296 S., DM 42