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Der Klassiker als Antisemit?

Die undogmatische Linke idealisiert den "jungen" Marx zu Unrecht. Erst im "Kapital" überwindet er die Irrtümer seines Textes "Zur Judenfrage"

"War Marx ein Antisemit?" lautete die zugespitzte Fragestellung, die Edmund Silberner nach dem Ende des Nationalsozialismus mehrfach aufgeworfen hat und die auch heute bei der Suche nach Spuren antisemitischer Entgleisungen in der Linken wiederholt wird. Bei der Suche nach einer Antwort stößt man auf Marx' Frühschrift "Zur Judenfrage", fertiggestellt 1844. Darin tritt Marx, selbst jüdischer Herkunft, gegen Bruno Bauer für die bedingungslose rechtliche Gleichstellung der Juden ein. Neben unmittelbar politischen Fragen versucht er aber auch eine historisch-materialistische Herleitung der "Judenfrage"; er bezeichnet das Judentum als "soziale Charaktermaske", seine "chimärische Nationalität" sei die "Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen". In diesem Sinne sei das "praktische, reale Judentum" nichts anderes als "Schacher und Geld", dieses Judentum habe sich in der kapitalistischen Gesellschaft verallgemeinert, die Christen seien selbst "zu Juden geworden". Dies ist zwar kein Antisemitismus, da er den Juden keine angeborenen rassischen oder religiösen Eigenschaften andichtet, sondern das Judentum als Variable der ökonomischen Entwicklung definiert, die von der soziologischen Position in der Gesellschaft und nicht von der Ahnenlinie abhängt. Fragwürdig bleibt aber, warum Marx dennoch "Schacher und Geld" als das "empirische Wesen des Judentums" verallgemeinert. Seine Schlußfolgerung - "Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum" - ließe sich jedenfalls ohne größere Anstrengung als Rechtfertigung zumindest der Zwangsmissionierung von Juden oder des Verbots ihrer Religionsausübung mißdeuten.

Marx' entscheidender Fehler liegt jedoch auf einer anderen Ebene: Selbstverständlich wollte Marx aufzeigen, daß nicht das Judentum, sondern das Geld die moderne Gesellschaft beherrscht - doch genau hier beginnt eine verkürzte Kapitalismus-Kritik, an die der Antisemitismus anknüpft. Dieser unterscheidet zwischen "raffendem" und "schaffendem" Kapital, das eine seien die "jüdischen" Wucherer und Händler, das andere die "arischen" Handwerker und Fabrikanten.

Die Konzentration auf die "raffende" Zirkulation, die die "schaffende" Produktion gegen jede Kritik immunisiert, wird freilich durch tagtägliche Erfahrung scheinbar gestützt: "Der Fabrikant hat seine Schuldner, die Arbeiter, in der Fabrik unter den Augen und kontrolliert ihre Gegenleistung, ehe er noch das Geld vorstreckt. Was in Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn sie sehen, was sie dafür kaufen können. (Ö) Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die andern auf sich. Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein", schreiben Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung".

Auch diese Demaskierung des "gesellschaftlich notwendigen Scheins" geht auf niemand anderen als Marx zurück, der die Fehler aus seiner Frühschrift in seinem Hauptwerk, dem "Kapital", korrigierte. Nukleus der Kapitalgesellschaft ist nicht das Geld, sondern die Ware, Quelle der Ausbeutung nicht Handel, Markt und Geldverleih, sondern mehrwertschaffende Arbeit.

An der gesellschaftlichen Oberfläche ist dies - wie gezeigt - nicht erkennbar. Das Augenmerk bleibt an der Zirkulationssphäre hängen; die gesichtslosen und auswechselbaren Charaktermasken, die es dort real vorfindet, werden durch die Juden substituiert, die jahrhundertelang in dieser Sphäre eingeschlossen waren. Die Struktur des Antisemitismus ist also durch die Struktur der Warengesellschaft präformiert, aus deren Vorgeschichte er auch seine Haßobjekte entnimmt.

Der von der undogmatischen Linken viel gerühmte "junge" Marx war nicht in der Lage, die gefährlichsten Mythen und Fetische des Kapitalismus zu dechiffrieren. Erst aus der im "Kapital" entwickelten Perspektive läßt sich erkennen, daß Antisemitismus als "notwendiger Schein" von der Warengesellschaft ständig neu erzeugt wird - auch bei ihren Opfern. Dies bedeutet: Wie das kapitalistische System strukturell antisemitisch ist (was die Staatslinke nicht wahrhaben will), so ist es das antikapitalistische Ressentiment potentiell (wovon die Linksradikalen schweigen). Erst wenn aus dem "romantischen" Ressentiment gegen den Kapitalismus, das eine gemeinsame Wurzel mit der nationalsozialistischen Revolte hat, eine wissenschaftliche Kritik im Sinne des "Kapital" wird, ist die antisemitische Möglichkeit blockiert.

Obwohl das "Kapital" so die Grundlagen für eine Analyse des Nationalsozialismus und der Judenvernichtung bereitstellte, wurden die Marxisten dieser Aufgabe nie gerecht, haben sich ihr kaum gestellt. Vorgeschichte, Determinanten und Realität der "Endlösung" erschließen sich eher aus den Aufzeichnungen der Opfer der Katastrophe. Von dort wird jeder Versuch, das emanzipatorische Projekt zu rekonstruieren, seinen Ausgang nehmen müssen.