Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Die Deutschmark als sichere Bank

Robert Kurz irrt: In Krisenzeiten werden starke Nationalökonomien von der Spekulation gestützt, nicht zerstört

Die Krise des Kapitalismus hat mit der Internationalisierung der Finanzmärkte ein neues Stadium erreicht. Über der realen Wertschöpfung hat sich ein globales Gebirge aus fiktivem Kapital gebildet: Nach einer Studie der Weltbank betrug das Weltsozialprodukt im Jahre 1993 ungefähr 23 100 Milliarden (23,1 Billionen) US-Dollar, der am Jahresende offene Bestand am weltweiten Wertpapiergeschäft wird jedoch auf über 60 000 Milliarden (60 Billionen) US-Dollar geschätzt. Das heißt: Dem globalen Wertprodukt stehen seitens des Finanzkapitals Besitztitelansprüche in dreifacher Größenordnung gegenüber. Dieses Gebirge aus "fiktivem Kapital" hat zwei Bestandteile - einerseits die Aufblähung des Staatskredits und die so verursachte Geldentwertung, andererseits die Ausgabe von Wertpapieren bzw. Derivaten ohne reale Deckung. "Logischerweise muß irgendwann die kapitalistische Reproduktion durch eine gewaltsame Kontraktion der entkoppelten Geldmengen auf ihre reale Basis zurückgeführt werden. Es muß dahingestellt bleiben, wie dieser Entwertungsprozeß im einzelnen ablaufen wird. Die kritische Masse dafür ist längst aufgehäuft, und die Initialzündung kann jederzeit durch krisenhafte Ereignisse sowohl im ökonomischen als auch im politischen Bereich erfolgen", schreibt Robert Kurz zu Recht. Er macht allerdings einen Fehler, wenn er als Verlaufsform dieser Kontraktion "einen großen globalen Entwertungsknall, sozusagen eine monetäre Atombombenexplosion" prognostiziert, die alle Nationalökonomien gleichzeitig zerstört.

Vielmehr kommt es durch die Labilität der globalen Wirtschaftsentwicklung zu einer Scherensituation: Schwache Nationalökonomien lösen sich unter den Einwirkungen der Zentrifugalkräfte des Weltmarktes auf (diesen Teilaspekt verallgemeinert Kurz fälschlicherweise), was bis zum Auseinanderbrechen des politischen Überbaus, also zu Sezession und Jugoslawisierung führen kann. Starke Nationalökonomien wie die deutsche werden hingegen vom "vaterlandslosen" Spekulationskapital gestützt. "Fluchtkapital als wichtigstes Investitionsmedium orientiert sich an Staaten mit starker zentralistischer Führung", resümiert der Altmarxist und Finanzexperte Günter Reimann.

Europas erster Geldkrieg

Wie dieses Bündnis funktioniert, verdeutlicht die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem Bericht für 1995/96. Das "vaterlandslose Kapital" hat sich demnach in sogenannten Off-shore-Standorten gesammelt, das sind Finanzplätze außerhalb staatlicher Kontrolle, wie Luxemburg und die Bahamas. Sie entstanden erst zu Beginn der sechziger Jahre, als der US-amerikanische Binnenfinanzmarkt die angewachsenen Dollarguthaben nicht mehr absorbieren konnte. Mittlerweile wird der internationale Kredithunger vor allem dort gestillt: Während die staatliche internationale Kreditgewährung 1994 rund 500 Milliarden US-Dollar betrug, gaben die "vaterlandslosen" Finanzplätze im gleichen Zeitraum mehr als das Zehnfache, nämlich 5 830 Milliarden (5,83 Billionen) US-Dollar, 1995 sogar 7 448 Milliarden Dollar.

Dort tummeln sich Kredithaie und Geldkönige aller Herren Länder, die staatlich nicht zu kontrollierendes Kapital besitzen - über 2 000 Milliarden Dollar, davon 700 Milliarden flüssig. Damit könnten sie selbst gegen einen reichen Staat wie die BRD spekulieren - die Devisenreserven der Bundesbank umfassen "nur" 123 Milliarden Mark -, aber das passiert praktisch nie. Der Grund: Die Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten gehen vor allem in drei Währungen vor sich: Dollar (Kredite in Höhe von 3 123 Dollar), Mark (1 133 Milliarden Dollar) und Yen (938 Milliarden Dollar).

Ähnlich ist die Entwicklung der nationalen Devisenreserven, wovon weltweit bereits heute 20 Prozent in Deutschmark angelegt sind. Die schönsten Zinsgewinne würden sich in Luft auflösen, wenn eine Anleihe, die auf Mark ausgestellt ist, durch einen Kurssturz der Mark einen Wertverlust erleiden würde. Das heißt: Das anonyme vaterlandslose Kapital der internationalen Finanzmärkte ist aus reinem Profitinteresse daran interessiert, die starken Währungen - und die dahinterstehenden Nationalstaaten und Nationalökonomien - zu stützen. "Das von Nationalstaaten unabhängige, heimatlose, non-residente Finanzkapital hat sich vom nationalstaatlich kontrollierten Finanzkapital getrennt. Es kann aber keine Kapitalanlage in einem wirklichen Niemandsland geben." (Günter Reimann)

Die schwachen Währungen sind dem Spekulationsdruck dagegen weitgehend ungeschützt ausgesetzt: So wurde im Herbst 1992 das britische Pfund auf den internationalen Finanzmärkten in Grund und Boden spekuliert, der amerikanische Finanzmagnat George Soros machte dabei eine Milliarde Mark Gewinn. Die Bundesbank deckte das Spiel, indem sie Stützungskäufe für die britische Währung entgegen verbindlicher Absprachen aus der Schmidt-Ära verweigerte. Hintergrund: Großbritannien sollte wegen seiner deutschkritischen Haltung bei der Wiedervereinigung und im Jugoslawienkrieg an den Rand der EU gedrängt werden. Die Süddeutsche Zeitung bilanzierte: "Zwar wird heute nicht Politik mit Panzerschiffen und Kanonen gemacht, aber der Verlauf des 'Ersten Geldkrieges', als Pfund, Lira etc. unter der Wucht der deutschen Mark zusammenbrachen, erinnert fatal an die Zeit nach 1871. Wieder einmal ist Deutschland ein zu großer Brocken im europäischen Gleichgewicht, wieder einmal mehren sich die Zeichen dessen, was man - übertreibend - Neo-Wilhelminismus nennen könnte." (SZ, 1. Oktober 1992)

Der Euro als Camembert-Währung

Waigels Politik trägt der Drohung eines deflationären Schocks Rechnung: Vor allem jenen Nationalökonomien, bei denen umlaufende Geldmenge und reale Wertschöpfung am weitesten auseinanderklaffen, droht der Big Bang - während Staaten, die durch radikales Sparen die Überlast von fiktivem Kapital verkleinern können, zu bevorzugten Anlagemöglichkeiten für internationale Fluchtgelder werden. In den Jahren 1993 bis 1995 versuchte die Bundesregierung, die künftige Euro-Währungsunion zur monetären Basis eines deutsch-dominierten "Kerneuropas" (Schäuble/Lamers) umzudefinieren. Damit könnte - so das deutsche Kalkül - die anstehende Geldentwertung auf die Währungen abgelenkt werden, die nicht zu diesem "Kerneuropa" gehören: Den EU-Staaten, die die Maastrichter Konvergenzkriterien verfehlt und folglich den Sprung in die gemeinsame Währung nicht geschafft, im Extremfall gar das ganze Projekt vermasselt haben, würde das auf den internationalen Finanzmärkten als Beweis ihrer mangelnden Kreditwürdigkeit ausgelegt werden. Ihre Währungen würden kollabieren, der Staatskredit schockartig entwertet und die bis dato von diesem fiktiven Kapital subventionierten Wirtschaftszweige bankrottiert werden.

Mit den Wahlsiegen der Sozialdemokraten in Italien, Großbritannien und Frankreich einerseits, dem Versagen Waigels bei der Schuldenbegrenzung in der BRD andererseits ist das Konzept "Kerneuropa" vorerst gescheitert - man geht jetzt davon aus, daß beim Euro-Start mindestens zehn der EU-Mitgliedsstaaten dabei sein werden. Nun wird es nicht zu einer Neuauflage der Deutschen Mark kommen, sondern zu einer "Camembert-Währung", die ähnlich wie aktuell der thailändische Baath oder der malayische Ringgit die Spekulationen der internationalen Finanzmärkte auf sich zieht. Der Kapitalabfluß aus der künftigen Euro-Zone hat schon begonnen und ist für das stetige Steigen des Dollarkurses seit Ende 1996 verantwortlich, die Turbulenzen werden sich in der Zeit der Währungsumstellung zwischen 1999 und 2002 weiter verstärken. In dieser Konstellation würde ein Abwertungsschock nicht nur eine kleine Gruppe von "Outs" treffen, sondern breitflächiger, wenn auch weniger desaströs die gesamte Europäische Union einschließlich Deutschlands. Die Versuche der ökonomischen Staatsapparate der BRD unter Führung der Bundesbank, die Währungsunion doch noch zu stoppen, werden also weitergehen.