Goldhagen-Debatte, II. Akt

Daniel J. Goldhagens Studie über die antisemitischen Deutschen beruhe auf "Quellentricks". Forschung und Spiegel-Forschung im Widerstreit.

Sie haben es schon lange geahnt, doch nun ist es endlich erwiesen: Goldhagen lügt, wo er geht und steht. Er ist ein "Quellentrickser", der es aber selbst durch diesen perfiden Betrug nicht schafft, eine konsistente Argumentationskette zu konstruieren, und sich statt dessen in einem absurden "Erklärungs-Mischmasch" verheddert. So lautet das Fazit eines Spiegel-Artikels der vergangenen Woche, der sich affirmativ mit einem Aufsatz des New Yorker Politologen und Palästina-Experten Norman Finkelstein beschäftigt, in dem dieser Goldhagens Buch als "nutzlos" und als "Betrug" bezeichnet.

Vor einigen Wochen druckte der Spiegel ein Interview mit Christopher Browning, in dem dieser mitteilte, er rechne sich gegen Goldhagen keine Chance mehr auf den Lehrstuhl für Holocaust-Forschung an der Havard-Universität aus, da er kein Experte "und kein Jude" sei, wobei letzteres zwar nicht das entscheidende Auswahlkriterium sei, aber doch halt irgendwie wichtig. Nun führt das Blatt also einen weiteren Zeugen gegen Goldhagen vor, der in dessen Erfolg vor allem "ein Symptom für die Fragwürdigkeit des neuen Faches "Holocaust Studies" und seine politische Motivation" sieht.

Um seine These vom "eliminatorischen" und "exterminatorischen" Antisemitismus der "'ganz normalen' Judenmörder" - wie es im Spiegel mittlerweile wieder statt der "ganz gewöhnlichen Deutschen" heißt - gegen das angeblich so "überwältigende Gewicht der Forschungsergebnisse" aufrecht zu halten, fahre Goldhagen eine "'Dreizack'"-Strategie der Schadensbegrenzung: stillschweigendes Eingeständnis, Abschwächung und Verdrehung". So Finkelstein. Immer wieder könne Finkelstein zeigen, daß Goldhagen "seine Quellen verdreht". So der Spiegel. Apropos verdrehen.

Finkelstein zeige, daß Hitler gar nicht die Endlösung propagiert habe, wie Goldhagen behaupte. Ein anderes Ergebnis von Finkelstein sei, daß Hitler eine entscheidendere Rolle für den Antisemitismus der Deutschen gespielt haben müsse, wenn dieser sich nach Kriegsende so "rasch auflöste", wie Goldhagen sagt. Conclusio: Hitler hat die Deutschen mit dämonisch-telepathischer Kraft zu Vollstreckern gemacht, denn gesagt hat er ja nichts, und als er tot war, hörte diese Kraft mit einem Schlag auf, denn dann gab es ja keinen Antisemitismus mehr.

Manche würden das für eine leicht widersprüchliche Konstruktion halten, für den Spiegel ist Goldhagen durch sie ein Jahr nach Erscheinen seines 700-Seiten-Wälzers endgültig "ins Abseits geraten". Womit der Weg endlich frei wäre, um die Vergangenheit zu "bewältigen" und "uns" endlich "wieder" ganz "unverkrampft" als "selbstbewußte Nation" geben zu können. So weit, so schlecht. Ist Goldhagens Buch wissenschaftlich wirklich so wertlos wie Finkelstein und Spiegel suggerieren?

Ein Jahr zurück: Ein kollektiver Aufschrei geht durch die deutsche Historikergilde, als dieser "Scharfrichter" (Rudolf Augstein) mit "bilderstürmender Arroganz" (Hans-Ulrich Wehler) und "Zorn von alttestamentarischem Atem" (Jost Nolte) sie aus ihren liebgewonnen Detailstreits aufschreckte, indem er an den Grundannahmen ihrer Gedankengebäude kratzte, ohnehin nur motiviert durch sein biographisches "Rachebedürfnis" (Henryk M. Broder). Anders übrigens jetzt bei Finkelstein. Ihm gereicht in den Augen des Spiegel seine Biographie zum Vorteil, denn er verbinde "mit seiner Attacke sicherlich keinerlei Ambitionen", da er selbst Jude sei, und seine Eltern in Auschwitz bzw. Majdanek waren. Ergo: Gute Juden denken wie der Spiegel, schlechte wollen Rache.

Die "Bocksgesänge" der sich auf Identitätssuche befindlichen "selbstbewußten Nation" schwollen an. Persönliche Difffamierungen und der konstruierte Vorwurf einer Kollektivschuld-These bei Goldhagen, die einen "Quasi-Rassismus" (Hans-Ulrich Wehler) gegenüber dem "deutschen Volk" impliziere, reichte den Kritikern aus, um all seine Ergebnisse gleich mit vom Tisch zu fegen. Ton und Methode hielten die deutschen Kritiker in ihrer Beurteilung der wohlwollenden amerikanischen Rezeption problemlos durch - nur "Nicht-Historiker" und "jüdische Kolumnisten" (Augstein) wie Volker Berghahn, Omar Bartov oder Gordon Craig seien dort am Werk gewesen. Wie schon zuvor im Historikerstreit und später in der Diskussion um die Wehrmachtsausstellung: An der Reaktion auf Goldhagen ließ sich einiges ablesen "über das historische Bewußtsein dieser Republik" (Herbert Ullrich). Aber leistete Goldhagen lediglich einen Beitrag im Kampf um die Geschichte? Verdanken wir ihm nur, daß er auf die Rechtswendung der deutschen Geschichtswissenschaft hingewiesen hat, wie sie sich besonders deutlich auf dem Deutschen Historikertag im Herbst letzten Jahres in München zeigte, als Goldhagen schlicht ignoriert wurde. Oder hat seine Arbeit nicht doch einen bleibenden wissenschaftlichen Wert, obwohl die Überheblichkeit der Historiker drohte, genau diesen zu verkennen?

Mit seiner These vom Holocaust als "deutschem Projekt" griff Goldhagen öffentlich einige in der deutschen Ideologie bisher fest verankerte, mit dem Schutz scheinbarer Natürlichkeit versehene Mythen an. So beging er, wie Dan Diner feststellte, den semantischen Tabubruch, die Täter statt "Nazis" "Deutsche zu nennen, um ihnen schon in der Grammatik ihre Identität zurückzugeben. Ihre Handlungen nannte Goldhagen "willentlich" und "bewußt". Die Vollstrecker der deutschen Historiker - von Intentionalisten wie Funktionalisten - hatten hingegen nicht gewollt, was sie dann taten, sondern Hitler bzw. die Strukturen hätten sie gezwungen, nicht ein "eliminatorischer" Antisemitsmus. Nur: Goldhagen denkt den Holocaust nicht ohne Hitler, ohne den NS-Staat und ohne die Gesellschaft, er hält sie lediglich für weniger entscheidend als die Prägung der Deutschen durch die antisemitische politische Kultur.

Dies entging auch Raul Hilberg, als er sich im Frühjahr überraschend spät - und in Deutschland weitgehend unbemerkt - zu Wort meldete. In der von Claude Lanzmann, dem Macher des Holocaust-Films "Shoa", herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes nahm der Verfasser des dreibändigen Standardwerkes "Die Vernichtung der Juden in Europa" kritisch Stellung zu Goldhagens Thesen. Die widersprechen Hilbergs Theorie, die im amoralischen, unmenschlichen Charakter von diktatorischen Bürokratien den Hauptfaktor für den Holocaust sieht. Dementsprechend stimmt Hilberg mit Goldhagen nur insofern überein, als daß "nicht nur Mörder, sondern freiwillige Mörder" am Werk gewesen seien, die zudem für ihre Taten "in ihrer großen Mehrheit nicht speziell für diese Aufgabe designiert" waren. Ansonsten wirft er Goldhagen vor, dieser berücksichtige nicht ausreichend das "unter dem Namen Nazi-Deutschland bekannte" Konglomerat aus zahlreichen Organisationen, profitierenden Firmen und dem bürokratischen Apparat, in denen nach Ansicht Hilbergs mit "Klarsicht" und "Begriffsvermögen" ausgestattete "moderne Individuen" wirkten, die keineswegs alle Antisemiten gewesen seien. Zudem bagatellisiere Goldhagen zwei Faktoren: "die Vollstrecker waren nicht alle Deutsche, die Opfer waren nicht alle Juden."

Wie Wolfgang Wippermann schon anmerkte, hätte Goldhagen über den Antisemitismus hinaus radikaler auf das "umfassende rassistische Programm" eingehen müssen, das im Holcaust verwirklicht wurde. Auch der Hinweis von Andreas Helle in der Zeitschrift Leviathan auf Forschungsbedarf hinsichtlich der Vermittlung zwischen der "individuellen Autonomie der Täter einerseits und ihrer kulturellen Programmierung andererseits" ist berechtigt. Die Täter konnten nicht frei und gleichzeitig determiniert sein. Letzteres alleine würde tatsächlich ein Alibi für die Deutschen bedeuten.

Einen erhellenden und kenntnisreichen Beitrag lieferte Dieter Pohl unter dem Titel "Die Holocaust-Forschung und die Thesen von Goldhagen" in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte. Pohl weist auf eine Reihe von Forschungslücken hin, die Goldhagen, trotz methodischer Probleme und eines zu großen Erklärungsanspruchs, aufgedeckt habe, und wo nicht fülle, so doch mit einer Reihe wertvoller methodischer, theoretischer und faktischer Anregungen versehe. Ähnlich äußert sich Volker Pesch in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Da mit "'klassischen' Theorien und Methoden ja tatsächlich keine plausible Erklärung geliefert worden" sei, dürfe man sich Goldhagens Ansätzen nicht verschließen, sondern müsse sich mit der Konzeption und den Ergebnissen seines Buches auseinandesetzen.

So betont Goldhagen nach Pohl zurecht, "die Forschung habe, mit Ausnahme Herbert Jägers (in seinem Buch "Verbrechen unter totalitärer Herrschaft" von 1967, G.U.), die sogenannten tatnahen NS-Verbrecher, als die Mordschützen und Bewacher, vernachlässigt." Er hebt zudem hervor, daß Goldhagen deren Zahl belegbar nach oben korrigiert sowie die "Legenden" von der geheimgehaltenen Endlösung und eines "Befehlszwangs" entgültig zerstört hat. Die "tatnahen Vorgänge" zu betonen und mit institutionellen und sozialen Faktoren zu verknüpfen, sei "vom Ansatz her überzeugend".

Neues liefere Goldhagen vor allem hinsichtlich "der Darstellung des Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich", der bisher immer als "selbsterklärend" angenommen wurde. Zwar sei der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts als Vorläufer der NS-Ideologie "seit langem Konsens", doch werde dies "zu selten explizit ausgesprochen", und müsse gerade für die Phase von 1919-1933 und in seiner kausalen Beziehung zum Holocaust noch deutlicher herausgearbeitet werden. Dadurch erhalte die "Kontinuitätsdebatte" neue Virulenz.

Daß individuelle antisemitische Einstellungen die Morde stärker motiviert haben als institutionelle Einbindungen und eine autoritäre Mentalität der Täter, hat für Pohl "eine hohe Plausibilität". Goldhagens Beobachtung, daß die Täter bewußt gehandelt und verstanden haben, warum sie mordeten, sei wichtig und zwinge zum weiteren Nachdenken.

Für das wenig beachtete Gebiet der Tätermotivation biete "das Buch - zum Teil grundlegende - theoretische und empirische Anregungen". Genauso Pesch, der Goldhagen zutraut, "den Impuls für eine theoretische und methodische Neuorientierung in der NS-Forschung" zu geben, in der die "Erfahrungen" und das "Bewußtsein" der Menschen eine größere Rolle spielt als bisher. Schon im letzten Jahr regte Ingrid Gilcher-Holtey eine Methodendiskussion an und forderte, die Debatte um die Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus endlich weiterzutreiben.

Nachdem die Reaktion auf Goldhagen zunächst einiges über das "Innenleben" der "Nation" offenbarte, bequemt sich die Fachwelt nun doch noch anzuerkennen, daß sie nach durchstandener Debatte nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Detailforschung ist sicher wichtig, doch sollten auch wieder die Erklärungen des ideologischen Ganzen hinterfragt werden, anstatt den Holocaust zu historisieren. Goldhagen selbst Historisierung vorwerfen können nur jene, die Antisemitismus und Rassismus in Deutschland für marginal oder sogar ein-für-alle-Mal ausgerottet halten, wie es Goldhagens euphemistischem Deutschlandbild von heute entspräche. Die Diskussion um Motivation und Bewußtsein der einzelnen Täter muß mehr in den Mittelpunkt rücken, obwohl, oder gerade, weil deren Generation im Begriff ist auszusterben.

Derweil kam es am Montag zu einem publizistischen Duell zwischen Finkelstein und Goldhagen. Während der Spiegel einen Auszug aus Finkelsteins Aufsatz "Daniel Jonah Goldhagens verrückte Doktorarbeit" nachlegte, konterte Goldhagen in der Frankfurter Rundschau: Finkelstein, der "antizionistische Ideologe", so Goldhagen, betreibe einen "neuen Vermeidungsdiskurs".

Der zweite Akt der Goldhagen-Debatte hat begonnen.