Philosophen in Gelb

Präzises Abbild der US-Provinz: Die Simpsons auf Pro Sieben

Betriebswirtschaftlich gesprochen ist das, was die Pro Sieben AG derzeit an Performance hinlegt, beachtlich bis sensationell: Zuschauerquoten, Kapitalrendite ... alles top of the pop. Dementsprechend war die neu-emittierte Aktie am Einführungstag dann auch -zigfach überzeichnet und notierte vom Start weg enorm hochkarätig und von da an mit riesigen Kurssprüngen immer hübsch aufwärts. Die Kehrseite bzw. der Grund des Erfolges: Ein so knallhart kalkuliert populistisches Programm hat und traut sich kaum ein anderer Sender. Das fängt mit der schier unerträglichen Kiesbauer an und endet bei der allabendlichen Softerotik noch längst nicht. Zwischen Sitcom-Hölle und Trickfilmen aus der Mottenkiste - die Simpsons. Immer werktags um 17.25 Uhr, jeweils eine kostbare halbe Stunde lang.

Beharrlich stemmen sich die Simpsons sowohl gegen Bugs Bunny und Konsorten, die über das Stadium der perpetuierten Tex Avery-Deformationen nie hinausgekommen sind als auch gegen Al Bundy und anverwandte Albernheiten aus dem amerikanischen Ohnsorg-Fundus. Mehr noch: Beides wird in einer durchschnittlichen Simpsons-Folge wie beiläufig zitiert und mit einer Süffisanz seziert, daß einem warm ums Herz wird. Die Simpson-Familie - Bart, Lisa, Maggie, Homer, Marge und der Hund Knecht Ruprecht - vorzustellen, erübrigt sich wohl; jeder kennt sie zumindest von T-shirts. Interessanter ist, wie es ihr und ihrem Schöpfer Matt Groening gelingt, alle bekannten Genres von Cartoon und Sitcom zu sprengen, dabei ein präziseres Bild des Provinz-Amerikas unter der Bush-Regentschaft zu zeichnen, als es der gesamten Soziologie bislang gelungen ist, und obendrein noch extrem witzig zu sein.

Zunächst wären da mal die Figuren: Neben den Simpsons selbst, die die prototypische White-Trash-Familie der rezessionsgeplagten Früh-Neunziger abgeben, gibt es in Springfield, dem stinknormalen Nest irgendwo im mittleren Westen, dessen Name vermutlich auf die Ur-Sitcom "The Springfields" zurückgeht, eine Reihe anderer Charaktere, die einerseits naturgemäß ins Groteske übersteigert sind, andererseits aber so gebrochen und vielschichtig auftreten, daß sie mehr mit klassischemTheater verbindet als mit den eindimensionalen Figuren, die für gewöhnlich den Family Soap-Kosmos bevölkern. Montgomery Burns etwa, der senile, skrupellose und niederträchtige Inhaber des Kernkraftwerkes, in dem Homer arbeitet; stets umschwänzelt von seinem speichelleckenden Lakaien Smithers. Einer der zahlreichen running gags ist, daß sich Burns nie an den Namen von Homer Simpson erinnern kann. Aber noch weniger als seine Beschäftigten interessieren ihn Sicherheitsbestimmungen für Kernkraftwerke etc.; auf Bettler läßt er seine Dobermänner los, und den dreiäugigen Fisch, der im Kühlteich gefunden wird, gibt er als "Wunder der Natur" aus. Auf den ersten Blick ein richtiges Arschloch also.

Burns dagegen sieht sich selbst als der idealtypisch paternalistische Unternehmer, dem Amerika seinen Reichtum zu verdanken hat; hält sich für populär und gütig und wird natürlich von Smithers bestärkt. Das rückt ihn in die Nähe ganz realer Zeitgenossen, namentlich - und die Ähnlichkeit der Physiognomie unterstreicht das - Ross Perrot. Oder Krusty , der Clown. Auf dem Bildschirm im Bildschirm ist er der Star aller Kinder von Springfield. In Wahrheit ist Krusty nur Marionette eines Konzerns, der hinterrücks die jugendlichen Käuferschichten abzockt. Klarer Fall: Crusty ist niemand anderes als Ronald McDonald. Was fällt einem zu Flanders, dem puritanistischen Frömmler von nebenan, ein? Oder zu Schuldirektor Skinner, der in schwachen Momenten alles andere als ein Vorbild abgibt? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und unterstreicht nur das eine: Daß die Simpsons näher an der Realität dran sind als die meisten Sendungen mit realen Darstellern.

Denselben Regeln gehorchen die Themen. Zwar müssen am Ende jeder Folge, gemäß dem ersten, ehernen Sitcom-Gesetz, der Ausgangszustand wiederhergestellt, jede Verwicklung aufgelöst sein, alle Veränderungen rückgängig gemacht werden - und manche Simpsons-Episode streift erst in den letzten Minuten die Zielgerade. Unter der Hand werden im familiären Rahmen stets aufs neue die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft verhandelt, die politischen Theorien auf den Prüfstand gehoben, die Großen Erzählungen hinterfragt. Die jeweiligen Rollen werden in diesem Spiel mehr oder weniger durchgehalten: Lisa verkörpert die universale Vernunft im Kantschen Sinne, das humanistische Ideal. Obwohl (oder weil) sie ihr Handeln an höheren Werten der Menschlichkeit ausrichtet, muß sie scheitern; mit ihrem Altruismus unterliegt sie nicht selten Bart, der als lupenreiner Nietzscheaner einen radikalen Hedonismus kultiviert. Lisa bleibt immerhin der moralische Sieg über Bart, dessen Identitätkonstrukt sie so kommentiert: "Du hast dich selbst als Rebell definiert und in Ermangelung eines repressiven Milieus wird jetzt deine soziologische Nische überbevölkert." Besser hat eine Comicfigur das Dilemma der repressiven Toleranz wohl selten in Worte gefaßt.