Das »ABC des Kapitalismus« von Vivek Chibber erklärt weniger, als es sich vornimmt

Kapitalismus buchstabieren

Alles nur Missverständnisse? Mit politischen Aufklärungsfibeln will Vivek Chibber helfen, Einigkeit in progressiven Bewegungen zu stiften.

Marxistische Theorie berief sich einst auf den großen Durchbruch, der Karl Marx gelungen war: die Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft ökonomiekritisch zu erklären. Von »Kapitalismus« aber war im Marx’schen Hauptwerk, den drei Bänden »Das Kapital«, gerade ein einziges Mal die Rede. Die Bezeichnung der Gesellschaften, die auf Kapitalakkumulation beruhen, als »kapitalistische« setzte sich erst später durch.

Der Begriff Kapitalismus hat also von Anfang an etwas Unscharfes an sich. Das gab dem Marxismus, der mit diesem Begriff operierte, Strahlkraft, aber auch alle Probleme, die man sich mit der Verwandlung von Kritik in Strategie einhandeln kann: Grabenkämpfe, Streit, Kritik, Ungewissheiten und ins Unverständliche abdriftende philologische Debatten. Das alles bräuchte es nicht, konzentrierte man sich nur aufs Wesentliche, die Grundlagen, das ABC der Gesellschaftskritik, denken manche. So offenbar auch Vivek Chibber: Der für seine Postkolonialismuskritik bekannte Professor für Soziologie an der New York University hat jüngst drei solche ABC-Fibeln über den Kapitalismus vorgelegt, die »in einfacher Sprache und frei von Jargon ein grundlegendes marxistisches Verständnis von Gesellschaft« vermitteln, wie die Herausgeber der deutschen Ausgabe versprechen.

»Wenn wir die Situation irgendwie besser machen wollen, ist es entscheidend, zu verstehen, wie dieses System funktioniert«, beschreibt Chibber die zugrundeliegende Motivation. Die Feststellung ist an sich berechtigt, jedoch ändert das nichts daran, dass die Erkenntnis der Gesellschaft ein schwieriges und langwieriges Gehen durch die Dinge ist, wenn die Bestimmungen aus diesen und nicht nur über diese vorgenommen werden sollen. Doch die Praxis drängt und die ewigen Haarspaltereien nerven; oder, wie es die Herausgeber des US-amerikanischen Magazins Jacobin sagen: »Political organizing is hard – political education shouldn’t have to be.« Dass es »nicht so schwer sein sollte«, den Menschen die kapitalistische Gesellschaft zu erklären, ist daher auch der Teaser für Vivek Chibbers Reihe »ABC des Kapitalismus«, die ein Jahr nach dem englischen Original in deutscher Übersetzung von dem hiesigem Ableger von Jacobin herausgebracht wurde, dem unlängst in Jacobin Deutschland umbenannten Magazin Ada.

In der, wie Jacobin wirbt, »besten Tradition sozialistischer Pädagogik« liefert Chibber äußerst konzise Darstellungen der wichtigsten Basisbegriffe marxistischer Kapitalismusanalyse. Im ersten Band »Kapitalismus verstehen« geht es um die »grundlegende Funktionsweise« der kapitalistischen Gesellschaft. Dabei wird, wie Oliver Nachtwey im deutschen Vorwort lobend hervorhebt, »keine argumentative Schleife zu viel« gezogen; die ökonomische Ungleichheit und die sozialen Spannungen führt Chibber klar auf die nach wie vor bestehende Klassengesellschaft zurück. Da sich die Menschen nicht mehr mit ideologischen Angeboten abspeisen ließen, des Schlages, dass entweder der Staat oder sie selbst am Elend schuld seien, werde es möglich, den Blick auf das System zu richten, so die Hoffnung. »Sozialismus liegt in der Luft«, macht Chibber Mut, wohl wissend, dass viele Ausdrucksformen der gegenwärtigen Desillusionierung gerade nicht zum Sozialismus tendieren.

Das System ist laut Chibbers ABC ein gesellschaftlicher Zusammenhang der verallgemeinerten Marktkonkurrenz, aus der soziale Klassen mit widersprüchlichen Interessen und systemische Zwänge hervorgehen. Tatsächlich liegt in der verständlichen Vermittlung dessen, was das konkret bedeutet, die Stärke Chibbers; er erklärt die Zusammenhänge von Privateigentum, Besitzlosigkeit an Produktionsmitteln, Lohnarbeit, Profitstreben und Ausbeutung.

Obwohl alle Gesellschaftsmitglieder diesen systemischen Zwängen unterliegen, ist die Pointe, dass innerhalb dieser geteilten Situation die Kapitalisten und Kapitalistinnen trotzdem vorgeben können, wie sich die Menschen den Markt­zwängen unterwerfen sollen. Weil sie die Produktionsmittel besitzen, bestimmen sie die Einkommen, die sie zur Kostenreduktion drücken müssen.

Dagegen hilft nur die Organisierung der Arbeiter und Arbeiterinnen zum Arbeitskampf und in Gewerkschaften, denn »ohne Verhandlungsmacht gehen die Zugewinne direkt an die Chefs«. Weil die organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter die größte Bedrohung darstellen, wird »die grundlegende Unsicherheit den Arbeiterinnen vom Kapitalismus aufgezwungen«, als systematische Schwächung ihrer Verhandlungsposition. Das sind sozusagen die Regeln des Spiels, die durch kollektives Handeln geändert werden müssen.

Inwieweit diese Spielregeln durch den demokratischen Staat erst sichergestellt und geschützt werden, ist Thema der zweiten Broschüre »Kapitalismus und Staat«. Es geht also darum, »herauszufinden, warum der Staat die Macht des Kapitals stützt, anstatt sie zu begrenzen«. Hier schreibt Chibber gegen eine besonders in den USA vertretene Pluralismusthese an, nach der der Staat die verschiedenen Interessen vermittle und ausgleiche. Diese These verdecke seinen Klassencharakter, also die »systematische Schlagseite zugunsten der Reichen«. Dass der Staat die Produktionsbedingungen reproduziert, liegt Chibber zufolge einerseits daran, »dass die Kapitalistinnen und ihre Helferinnen buchstäblich die Zentren der Macht besetzen, oder zumindest diejenigen beeinflussen, die es letzten Endes tun«. In letzter Instanz ist das aber selbst ein systemischer Zwang, ein Phänomen der strukturellen Abhängigkeit von Staat und Kapital beziehungsweise des Umstands, dass die Produktionsmittel in Privatbesitz sind.

Entsprechend hat einzig die poli­tische Organisierung der Arbeiterinnenklasse die Fähigkeit, dem Staat des Kapitals Zugeständnisse abzuringen. Das ergibt die Formel, dass die politische Kraft umso größer wird, je größer die Arbeiterinnenbewegung ist, die hinter der Partei steht. Es ist ganz richtig, dass linke Politik nur tun kann, »was die Kräfteverhältnisse zulassen«. Fraglich ist aber, ob die Kräfteverhältnisse mit der Klassenanalyse hinreichend erklärt sind – eine Frage, die sich die Linke seit mindestens 50 Jahren stellt und die hier eine klare Antwort findet.

»Wie ist es denn mit anderen großen Bewegungen, in denen die Arbeiterinnenklasse keine wichtige Rolle spielt?« fragt Chibber rhetorisch. Diese seien nur Ausdruck der momentanen Schwäche der Arbeiterinnenklasse und müssten entsprechend auf deren Erstarken hinwirken. Gemeint sind aber nur die Kampagnen von etwa Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, nicht etwa antirassistische oder antipatriarchale Kämpfe.

So ist es folgerichtig, dass die dritte Broschüre den Titel »Kapitalismus und Klassenkampf« trägt. Weil das gute Leben für alle im Kapitalismus eben systematisch verstellt ist, las­sen sich Verbesserungen nur gegen das System erkämpfen. Dieser Kampf müsse Klassenkampf sein: »Die Kämpfe der Arbeiterinnenklasse sind zentral, weil sie die Bedingung der Möglichkeit alles anderen sind.« Weil sie das größtmögliche Mobilisierungspotential für sozialen Wandel besitze, sei die Klasse nach wie vor das politische Subjekt par excellence.

So wird auch klar, was die gesamte Kapitalismusanalyse vorweg eigentlich leisten sollte. Sie erklärt die Gesellschaft so, dass die politische Konsequenz über jeden Zweifel erhaben ist. Alles Weitere sei nur eine Frage der richtigen Strategie. Die Organisierung der Klasse brauche also nur noch eine »Kultur der Solidarität«, die demokratische Strukturen, Sensibilität und kulturelle Lebendigkeit immer an den Erfolg der Bewegung knüpft, um dem Ziel zu dienen, »wirkliche Macht aufzubauen«.

Die politische Strategie, die auch die Bildungsarbeit der Broschüren bestimmt, ist daher Agitation. Diese folgt selbst einem klaren Kosten-Nutzen-Kalkül. Dem Ziel, Menschen für sozialistische Politik in einem demokratischen Wettbewerb zu gewinnen, nützt die Herleitung der »einfachen Tatsache, dass im Kapitalismus die Kapitalistinnen bestimmen, wie die meisten anderen leben«. Was hingegen keinen Nutzen hat, sind Kritik, Sektiererei und Abweichung, wie etwa der »unproduktive Streit zwischen Klassen- und Iden­titätspolitik«, über den Ines Schwerdtner im Vorwort schreibt: »Stünde die Solidarität im Bündnis gegen das Kapital im Vordergrund – nun, wir könnten uns manche Gefechte untereinander sparen.«

Das stimmt. Aber es ist eine seltsame Vorstellung, alle Debatten innerhalb der Linken seien einzig und allein die Folge eines Missverständnisses darüber gewesen, was denn die kapitalistische Gesellschaft eigentlich sei. Hier zeigt sich das Problem der Fibeln. Denn die Grundlage der vorliegenden Analyse ist eben keine konkrete Bestimmung der gesellschaftlichen Realität, sondern ein Autoritätsargument: Marx hatte eben recht und es haperte nur an der Verwirklichung.

Man kann dem beispringen und darauf verweisen, dass, gerade mit Blick auf wirkkräftige Erklärungsangebote von rechts, die Herausforderung bestehe, den Leuten eine ebenso klare wie progressive Deutung der Gesellschaft anzubieten. Damit wird das Problem aber nicht kleiner, dass ein solch instrumentelles Verhältnis zur Erkenntnis ein Produkt desselben gesellschaftlichen Zusammenhangs ist, der in der traditionsmarxistischen Kapitalismuskritik nicht aufgehoben ist. Es wird nur schwerer, diesen Zusammenhang nachzuvollziehen und kritisch zu begleiten. Aus diesem Grund ist die (Ideologie-)Kritik solcher ­Vorstellungen essentieller Bestandteil der Selbstreflexion marxistischer Theorie gewesen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Marx’ Analyse und marxistische Theorie nicht zur Autorität taugen. Sie liefern zuallererst die Probleme. Probleme allerdings, die praktische ­Konsequenzen haben und deshalb, wenn man es ernst mit der Emanzi­pation meint, auch nicht ignoriert werden dürfen.

In genau diesem Sinne darf sich politische Bildung, so eindringlich und pragmatisch sie sein mag, nicht um das aufklärerische Moment betrügen. Das »ABC des Kapitalismus« wandelt daher auf dem schmalen Grat zwischen der Vermittlung von Erkenntnisfähigkeit und einer bloßen Lehrmeinung. Dies kann schnell den ungewollten Nebeneffekt haben, dass man mit allen Fragen und Problemen, die sich aus der kapita­listischen Realität ergeben, wieder von vorn beginnen muss: Was ist denn wirklich das Verhältnis zwischen Kapital und Patriarchat, Rassismus, Umweltzerstörung?

Statt an die zahlreichen Auseinandersetzungen anknüpfen zu können, die längst bewiesen haben, dass es eben nicht so einfach ist, kehrt schlimmstenfalls ein kruder Abklatsch des traditionsmarxistischen Determinismus wieder, nämlich die Vorstellung, all diese Fragen seien nachrangig, weil sie sich durch ordentliche sozialistische Politik auflösen ließen, für die es also all die kritischen Nachfragen gar nicht bräuchte.