Emmanuel Carrère: »Brief an eine Zoowärterin aus Calais«

Das Leben ist keine Reportage

Emmanuel Carrère versucht in »Brief an eine Zoowärterin aus Calais«, die Bewohner der nordfranzösischen Stadt zu verstehen.
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Das geht ja gut los. Gleich zu Beginn seines Aufenthalts in Calais wird dem prominenten Journalisten ein achtseitiger Brief zugespielt.
»Wir hier sagen uns: Wir haben die Nase voll von diesen Promis, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, die hier in Calais ihre Schäfchen ins Trockene bringen und uns, die wir in seinen Mauern eingeschlossen sind, als Laborratten betrachten. Was wollen Sie hier? Zwei Wochen zwischen ›Das Reich Gottes‹ und Ihrem nächsten Opus, um im Meurice zu nächtigen, ein paar Seiten für ›XXI‹ zu schreiben und Ihre persönliche Wahrheit über unsere Stadt zum Besten zu geben?« wird der bekannte Journalist gefragt. Sie spreche zwar von »unserer Stadt«, als betrachte sie sich »als Calaiserin«, fährt die Schreiberin fort. Doch die Stadt bezeichnet sie wenig schmeichelhaft als »Loch«. In den drei Jahren, seit die sie dort wohne, habe sie »jede Woche mindestens eine Anfrage von Leuten von außen erhalten«, die über ihre Eindrücke »schreiben, einen Film machen oder in ein Mikro sprechen wollen – möglicherweise im Glauben, es besser zu können als alle ­anderen davor, und mit dem Wunsch, das gewiss dringende Bedürfnis nach einer persönlichen Stellungnahme zu stillen.« Die Schreiberin kommt zu dem Schluss: »Calais ist zu einem Zoo geworden, und ich bin eine der Kassenfrauen in diesem Zoo.«

Der Brief ist mit »Marie Bonnefille« (dt. braves Mädchen) unterzeichnet, der Journalist vermutet, es handele sich um ein Pseudonym. Bonnefille schreibt, Michael Haneke sei vergangene Woche dagewesen, Charlie Winston habe vorbeigeschaut, und am Nachmittag sei Laurent Cantet aufgetaucht. »Insofern, Herr Carrère, Nein, nicht auch noch Sie!«

Interviews mit Flüchtlingen kommen nicht zustande. Sobald die Migranten bemerken, dass ein Journalist sich für ihre Situation interessiert, blocken sie Gespräche ab. Nach einem halben Jahr entscheidet sich Carrère, die Recherche zu beenden.

Als 2015 die Migration aus Nordafrika zunahm, wurde die Stadt mit ihrem provisorischen Flüchtlings­lager zu einem der Hotspots der Krise. Viele Migranten wollten weiter nach Großbritannien reisen, das zu dieser Zeit das Referendum über den EU-Austritt vorbereitete und den Eurotunnel von Grenztruppen überwachen ließ, um die Flüchtlinge aufzuhalten. Dass die Situation schnell eskalieren könnte, war allen Beobachtern klar. Genau deshalb waren sie vermutlich auch nach Calais gekommen, die Massen von Journalisten, die die Stadt belagerten. »Zuweilen könnte man meinen, man befinde sich im legendären Holiday Inn von Sarajevo, wo während der härtesten Zeit der Belagerung sämtliche Kriegsberichterstatter logierten«, ätzt die Briefschreiberin.

 

In Calais möchten die wenigsten bleiben

Der französische Autor und Filmemacher Emmanuel Carrère schreibt in seinem Roman »Brief an eine Zoowärterin aus Calais« nicht über die Zustände im »Dschungel«, wie das Flüchtlingslager genannt wird, sondern versucht in einer politischen Reportage in Briefform die Einwohner von Calais zu verstehen. Er beschreibt ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Arbeitslosigkeit und ihre Fremdenfeindlichkeit, aber auch ihren Idealismus und ihre Hilfsbereitschaft. Er trifft Menschen aus unterschiedlichen Berufen und politischen Richtungen und entwirft ein differenziertes Bild der französischen Gesellschaft.

Der Autor kommt in eine Stadt, die sich in »pro-immi«, also fremdenfreundlich, und »anti-immi«, also fremdenfeindlich, spaltet. Die einen empören sich über die Hilfe, die Flüchtlinge vom Staat erhalten, die anderen helfen, wo sie können. Die einen empören sich darüber, dass Migranten angeblich Markenware im Supermarkt kaufen, um sie im »Dschungel« weiterzuverkaufen. Sogar den Führerschein dürften die Flüchtlinge auf Staatskosten erwerben. Schweigsam werden die Gegner der Migranten immer dann, wenn sie konkrete Benachteiligungen benennen sollen. Die »besorgten Calaiser«, so nennen sie sich, tauschen ihre halbgaren Informationen in anonymen Internetforen aus. Nichts wünschen sich die »Besorgten« mehr, als dass die Migranten wieder verschwinden.

Tatsächlich würden die Flüchtlinge nichts lieber tun als das. In Calais möchten die wenigsten bleiben. Carrère erfährt von Menschen, die sich im Baumarkt Werkzeug kaufen, um damit die Planen der LKW aufzuschneiden. Dann verstecken sie sich in der Ladung und hoffen, unentdeckt nach Dover zu gelangen.

Interviews mit Flüchtlingen kommen nicht zustande. Sobald die Migranten bemerken, dass ein Journalist sich für ihre Situation interessiert, blocken sie Gespräche ab. Nach einem halben Jahr entscheidet sich Carrère, die Recherche zu beenden. Zur selben Zeit räumt die Polizei binnen vier Tagen das Lager in einem generalstabsmäßig geplanten Großeinsatz. Die Autorin des Briefes hat sich mittlerweile als Redakteurin einer Lokalzeitung zu erkennen gegeben.

 

Emmanuel Carrère: Brief an eine Zoowärterin aus Calais. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 71 Seiten, 9,99 Euro