Die Leiden der Tugend

Marquis de Sade erzählt die Geschichte der keuschen Justine.

Donatien Alphonse François Marquis de Sade, geboren am 2. Juni 1740, starb vor 200 Jahren, am 2. Dezember 1814, im Gefängnis Charenton bei Paris. In seinem lange Zeit verboteten oder zensierten, bis heute anstößigen Werk, das sich nur unzureichend als literarische Pornographie beschreiben lässt, verbinden sich in unerreichter Weise Amoralismus und Humanität, Spuren eines vergangenen aristokratischen Sexualkodex und ein verblüffend genaues Gespür für Deformationen der menschlichen Sinnlichkeit, die erst ein Jahrhundert später evident wurden. Wir drucken den Anfang seines berühmten Epos über die ungleichen Schwestern Justine und Juliette.

Das sollte die Hauptaufgabe der Philosophie sein: die Mittel und Wege zu erforschen, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müßte sie dann Verhaltensmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, daß er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat.
Wenn wir nun bei solchen Studien finden, daß die Bösen für ihre Missetaten Lohn statt Strafe ernten, werden da nicht Menschen, die von vornherein, aus Anlage oder Temperament, zum Bösen neigen, mit Recht schließen, es sei besser, sich dem Laster offen zu weihen, als ihm zu widerstreben – entgegen unseren lächerlichen, abergläubischen, unnützen Moralgesetzen? Werden sie nicht mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß die Tugend, wenn sie zu schwach ist, gegen das Laster anzukämpfen, gewiß nicht die Partei ist, zu der man sich schlagen soll, und daß man in einer so ver­derbten Zeit wie der unseren nichts Besseres tun kann, als so zu sein wie alle anderen? Oder philosophischer gefaßt: könnten sie nicht mit dem Engel Jesrad aus »Zadig« sagen: »es gibt nichts Böses, aus dem nicht ein Gutes entstünde«, und wenn wir daher Böses tun, so ist es nur ein anderer Weg zur Erzielung des Guten … Werden sie aber nicht vor allem sagen, daß, wenn Tugend und Laster gleichermaßen in den Absichten der Natur liegen und wir das Laster immer triumphieren, die Tugend immer unterliegen sehen, es klar zutage liegt, auf welcher Seite wir zu kämpfen haben?
Um diese Lehre, die nicht länger mehr verschleiert werden darf, zu unterstützen, wollen wir die Geschichte der tugendhaften Justine erzählen. Es wird Zeit, daß die Dummköpfe einmal aufhören, jenes Idol einer lächerlichen »Tugend« anzubeten, die ihnen nur mit Undank lohnt, und daß andererseits die Verständigen sich sicherer fühlen, wenn sie einmal deutlich sehen, wie Glück und Wohlfahrt dem Laster mit fast unumstößlicher Sicherheit folgt. Es ist gewiß peinlich, das furchtbare Ungemach schildern zu müssen, das die sanfte und tugendhafte Justine verfolgt, und auf der andern Seite zeigen zu müssen, wie glücklich die Leute sind, die eben dieses Mädchen quälen und zu Tode hetzen. Aber der Autor, Philosoph genug, um nur die Wahrheit zu lieben, ist erhaben über diese Unannehmlichkeiten. Grausam durch Notwendigkeit reißt er mit kühner Hand all die Hüllen des Aberglaubens herab, mit denen die Dummheit ihre »Tugend« schmückte, und zeigt dem Unwissenden einmal das Laster in allem seinen wunderbaren Reiz.
Dies sind die Absichten, die uns bei Abfassung unseres Werkes leiten sollen. Und zu diesem Behufe müssen wir uns der zynischsten Sprache, der unsittlichsten und gottlosesten Ideen bedienen, um das Verbrechen so zu malen, wie es ist, das heißt, immer triumphierend, immer zufrieden, immer beglückt, und ebenso die Tugend, wie sie wirklich aussieht: immer unglücklich, immer leidend, immer unterliegend.
Juliette und Justine, beide Töchter eines sehr reichen Pariser Bankiers, wurden bis zu ihrem 14. beziehungsweise 15. Lebensjahr in einem der berühmtesten Stifte von Paris erzogen. Dort wurde ihnen kein Ratschlag, kein Buch, keine Unterweisung vorenthalten, und sowohl die Sittlichkeit wie die Religion und die freien Begabungen schienen jede der jungen Mädchen für sich ausgebildet zu haben.
In diesem für die Tugend junger Mädchen sehr bedrohlichen Alter kam es, daß ihnen eines Tages plötzlich alles fehlte. Ein vollständiger Bankrott brachte ihren Vater in eine so pein­volle Lage, daß er an dem Kummer starb. Seine Frau folgte ihm einen Monat nachher nach. Zwei gleichgültige, entfernte Verwandte berieten, was mit den jungen Waisen geschehen sollte. Ihre Erbschaft betrug, da alles von den Gläubigern verschlungen worden war, 100 Taler für jede. Da sich niemand um sie weiter kümmern wollte, öffnete man ihnen die Pforten des Klosters und ließ ihnen die Wahl, zu werden, was sie wollten.
Die lebhafte, sehr hübsche, eitle und verdorbene, ältere Juliette schien nur erfreut zu sein, nicht mehr in einem Kloster vegetieren zu müssen, ohne an die Ursache zu denken, während die harmlosere, interessantere 14jährige Justine, die von der Natur einen düsteren und roman­tischen Charakter erhalten hatte, mehr das Furchtbare ihres Geschickes empfand.
Dieses junge, vielseitig begabte Mädchen besaß die Schönheit der wundervollen Jungfrauen Raphaels. Große braune, seelenvolle Augen, eine weiche, schmelzartige Haut, eine zarte und biegsame Taille, runde und von der Liebesgöttin selbst gezeichnete Formen, eine bezaubernde Stimme und neben einem entzückenden Munde die schönsten Haare der Welt. So sah sie aus, und ihre Reize standen weit über dem, was die Feder leblos beschreiben kann. Der Leser möge sich alles vorstellen, was seine Phantasie an Verführerischem sich ausdenken kann, und es wird hinter der Wirklichkeit zurückbleiben.
Man hatte beiden 24 Stunden Frist zum Verlassen des Stiftes gegeben. Juliette war bemüht, die Tränen Justines zu stillen. Als sie sah, daß ihr das nicht gelang, begann sie sie auszuzanken, statt sie zu trösten. Sie warf ihr ihre Empfindsamkeit vor. Sie sagte mit weit über ihren Jahren stehenden Gedanken, dass man über nichts in dieser Welt bestürzt sein solle, und daß man in sich genug starke physische Erregungen finden könnte, um solche moralische Angriffe abzuschlagen. Daß die wahre Klugheit darin bestände, die Zahl seiner Freuden und nicht die seiner Leiden zu vermehren. Mit einem Wort, daß man nichts unterlassen dürfe, um in sich jene niederträchtige Empfindsamkeit zu ertöten, aus der bloß die anderen Nutzen zögen, während sie uns nur Sorgen eintrüge.
»Sieh«, sagte sie, indem sie sich vor den Augen ihrer Schwester auf ein Bett warf und die Röcke bis über den Nabel emporhob, »so mache ich es, wenn ich Kummer habe. Ich kitzle mich … ich entlade und das tröstet mich.«
Der anständigen und tugendhaften Justine war diese Handlung ein Greuel. Sie wandte die Augen ab, und Juliette fuhr fort, indem sie ihr hübsches, kleines Löchelchen weiter rieb: »Justine, du bist dumm. Du bist schöner als ich, trotzdem werde ich immer die glücklichere sein.« Nun fing die Hure an zu stöhnen und ihre junge Samenflüssigkeit, die vor den gesenk­ten Augen der Tugend ausgespritzt wurde, ließ die Tränen versiegen, die sie anders vielleicht, ebenso wie ihre Schwester, vergossen hätte. »Du bist toll, daß du dir Sorgen machst«, fuhr dies wollüstige Mädchen fort, indem sie sich neben Justine setzte. »Bei unserer Gestalt und dem Alter, in dem wir beide sind, ist es unmöglich, daß wir vor Hunger umkommen.« Bei dieser Gelegenheit machte sie sie auf die Tochter einer ihrer Nachbarinnen aufmerksam, die, nachdem sie aus dem Elternhaus entwichen war, heute mit glänzenden Mitteln ausgehalten wurde und zweifellos viel glücklicher war, wie wenn sie in dem Schoß ihrer Familie geblieben wäre. »Man muß sich wohl hüten, zu glauben«, fügte sie hinzu, »daß die Heirat ein Mädchen glücklich macht. Wenn sie einmal am Altar Hymens gefesselt wurde, hat sie neben vielen Unannehmlichkeiten sehr wenig Vergnügen zu erwarten; während sie, wenn sie sich dem freien Leben hingibt, sich immer vor den Gewalttätigkeiten ihres Liebhabers be­schützen oder sich durch die große Zahl von Anbetern trösten kann.« Bei dieser Rede schauderte Justine. »Eher würde ich den Tod vorziehen«, sagte sie, und soviel ihr auch ihre Schwester vorhalten mochte, sie weigerte sich hartnäckig, mit ihr zusammen zu wohnen, wenn sie sich einer Lebensführung zuwenden würde, die ihr ein Greuel war.
So trennten sich also die beiden jungen Mädchen, ohne ein Wiedersehen zu besprechen. Hätte Juliette, die eine große Dame werden sollte, ein kleines Mädchen empfangen sollen, dessen tugendhafte Neigungen ihr Schande gemacht hätten; und andererseits: hätte Justine sich in die Gefahr begeben sollen, ihre Sitten durch die Gesellschaft eines perversen Geschöpfes verderben zu lassen, das sich der öffentlichen Lust in die Arme warf?
Wenn der Leser gestattet, verlassen wir jetzt auf einige Zeit dieses kleine wollüstige Mädchen, damit wir ausführlicher die Lebensgeschichte unserer keuschen Heroine erzählen können.
Man kann leicht sagen: Es muß ein wenig Tugend in der Welt geben; und es ist für einen Biographen* viel angenehmer, an dem Helden, den er beschreibt, Züge von Reinheit und Wohltätigkeit zu zeigen, als den Geist ununterbrochen auf Ausschweifungen und Grausamkeiten richten zu müssen, wie der es tun muß, der in der Folge dieses Werkes die sehr skandalöse und ausschweifende Geschichte der schamlosen Juliette vorführt.
Justine hatte seit ihrer Kindheit eine mütter­liche Freundin an der Schneiderin ihrer Mutter, und so glaubte sie, daß diese auch jetzt für ihr Mißgeschick empfänglich sein würde. Sie suchte sie auf, teilte ihr ihr Unglück mit und verlangte von ihr Arbeit. Aber man wollte sie kaum erkennen und schickte sie mit rauhen Worten fort.
»Himmel«, sagte das arme Geschöpf, »müssen schon die ersten Schritte, die ich in der Welt mache, von Kummer begleitet sein! Diese Frau liebte mich früher, warum stößt sie mich heute zurück? Ach! Ich bin ja jetzt eine Waise und arm, ich habe keine Unterstützung mehr auf Erden, und man liebt nur Leute, von denen man hofft, Annehmlichkeiten zu empfangen.« In Tränen gebadet, wendete sich Justine an ihren Beichtvater, und schilderte ihm ihre Lage mit der Leidenschaft ihres Alters. Sie war weiß gekleidet, ihre Haare waren nachlässig in ein großes Tuch geschlagen. lhre zart entwickelte Brust blieb dem Auge des Lüstlings durch einen doppelten Gazeschleier verborgen. lhr hübsches Gesicht war bleich durch die Aufregung, und Tränen standen ihr in den Augen, was ihr Gesicht noch interessanter machte. Man konnte unmöglich schöner sein.
»Sie sehen mich, mein Herr«, sagte sie zu dem heiligen Kirchenmann, »in einer Lage, die für ein junges Mädchen fürchterlich ist. Ich habe Vater und Mutter verloren. Der Himmel hat sie mir in einem Alter entführt, in dem ich ihre Hilfe am meisten benötigt hätte. Sie sind als zugrunde gegangene Leute gestorben. lch besitze nichts mehr. Das ist alles, was sie mir hinterlassen haben«, fuhr sie fort, indem sie ihm 12 Louis zeigte, »ich besitze kein Plätzchen, auf dem ich mein armes Haupt ausruhen könnte. Sie werden mit mir Mitleid haben, nicht wahr? Sie sind ein Diener der Religion, und die Religion ist der Schoß aller Tugenden. lm Namen Gottes, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebe, im Namen des höchsten Wesens, dessen Werkzeug Sie sind, sagen Sie mir als mein zweiter Vater, was ich tun soll, was ich werden soll?« Der barmherzige Priester erwiderte darauf, indem er Justine durch sein Lorgnon betrachtete, daß die Pfarre sehr überlastet wäre, so daß es schwierig sei, neue Almosen von ihr zu erhalten; aber wenn Justine ihm dienen wolle, wenn sie grobe Ar­beit verrichten wolle, gäbe es immer für sie ein Stück Brot in seiner Küche. Da der Gottesmann bei diesen Worten ihr sachte die Röcke über ihrem Popo zusammengezogen hatte, um sie besser betrachten zu können, stieß ihn Justine, die seine Absichten erriet, zurück, indem sie sagte:
»Mein Herr, ich verlange weder ein Almosen noch eine Stelle als Dienerin. Ich wünschte Ratschläge, weil ich ihrer bei meiner Jugend und meinem Unglück bedarf, aber Sie wollen sie mir zu teuer erkaufen lassen.« Der Diener Christi, der sich schämte, durchschaut zu sein, erhob sich wütend. Er rief seine Nichte und seine Magd: »Jagen Sie mir diese kleine Schurkin hinaus«, rief er ihnen zu, »Sie werden nicht erraten, was sie mir soeben vorschlug. So verdorben schon und noch so jung! … Und das einem Manne, wie ich es bin! Hinaus mit ihr …  hinaus, oder ich lasse sie verhaften!« Und die unglückliche, verstoßene und beschimpfte Justine sah sich gezwungen, ein kleines mö­blier­tes Zimmer im fünften Stock zu mie­ten, um ihren Tränen freien Lauf lassen zu können. Sie bezahlte es im voraus und gab sich nun ganz ihrem Kummer hin, der um so bitterer war, als sie von Natur aus sehr empfindlich und ihr Stolz grausam beleidigt worden war.
Aber damit waren für sie die Schicksals­schläge noch nicht zu Ende. Es gibt eine Unmenge von Verbrechern in der Welt, die, statt über das Unglück eines anständigen Mädchens weich zu werden, nur danach trachten, sie weiter zu peinigen, um sie so besser in der Gewalt zu haben. Aber von allen Unglücksfällen, die ihr am Anfang ihrer Laufbahn zustießen, wollen wir nur den mit Dubourg berichten, einem der herzlosesten und reichsten Leute der Hauptstadt. Die Frau, bei der Justine wohnte, hatte sie zu ihm geschickt, als zu jemandem, dessen Einfluß und dessen Reichtum am ehesten die Grausamkeit ihres Geschicks mildern könnten. Nachdem sie lange im Vorzimmer gewartet hatte, führte man sie endlich hinein. Herr Dubourg, ein dicker, untersetzter und gleich allen Geldleuten unverschämt aussehender Mann, stieg eben, mit einem Morgenrock dürftig bekleidet, aus dem Bett. Man wollte ihn gerade frisieren. Er schickte seine Umgebung hinaus und wandte sich zu dem jungen Mädchen: »Womit kann ich lhnen die­nen, mein Kind?« fragte er sie. »Mein Herr«, erwiderte ihm unsere Kleine ganz verwirrt, »ich bin eine arme Waise, kaum 14 Jahre alt und kenne schon alle Abarten des Mißgeschickes. Ich flehe Ihr Mitleid an. Helfen Sie mir, ich beschwöre Sie.« Und sie zählte, mit Tränen in den Augen, dem alten Verbrecher alle Leiden auf, von denen sie heimgesucht war, welche Schwierigkeiten es habe, eine Stellung zu finden, und welchen Abscheu sie vor diesem Stand habe, für den sie nicht geboren sei. Sie schilderte die Furcht, die sie vor der Zukunft habe, und stammelte schließlich, daß sie hoffe, ein so reicher und verehrungswürdiger Mann wie Herr Dubourg werde ihr zweifellos die Existenz­mittel verschaffen.
Dubourg hätte man während dieser Rede malen müssen. Da er sich für das junge Mädchen zu erhitzen begann, kitzelte er sich mit der einen Hand unter seinem Schlafrock, mit der anderen richtete er eine Lorgnette auf die sich ihm darbietenden Reize. Wenn man ihn genau beobachtete, konnte man die Grade seiner Geilheit an den Zuckungen der Gesichtsmuskeln wahrnehmen, die immer stattfanden, wenn die pathetischen Klagen Justines lauter oder schwächer wurden.
Dieser Dubourg war ein ausgemachter Lüst­ling, ein Liebhaber von kleinen Mädchen, und hatte in allen Himmelsrichtungen Frauen, die ihm solches Wild zuführten. Da er nicht imstande war, sich an ihnen zu befriedigen, so richtete er sein Augenmerk gewöhnlich auf eine ebenso grausame wie seltsame Liebhaberei. Seine einzige Leidenschaft bestand nämlich darin, die Kinder, die man ihm zuführte, weinen zu sehen. Und man muß sagen, niemand auf der Welt besaß ein solches Talent, sie in diesen Zustand zu bringen, wie er. Dieser unglückselige Schuft hatte so viel Bösartigkeit in sich, daß es für ein junges Mädchen unmöglich war, sich vor seinen Ausfällen zu schützen. Die Tränen flossen dann reichlich, und der überselige Dubourg fügte noch rasch einige materielle Schmerzen zu den moralischen, die er eben hervorgerufen hatte. Die Tränen rannen dann noch heftiger, wobei er entlud, indem er das Gesicht mit Küssen bedeckte, das seine Reden unter Tränen gesetzt hatte.
»Sind Sie immer anständig geblieben?« fragte Dubourg und ging damit auf sein Ziel los. »Ach mein Herr«, erwiderte Justine, »ich wäre nicht so arm und in so bedrängter Lage, wenn ich es nicht immer gewesen wäre.« »Also unter welchem Vorwand verlangen Sie, daß rei­che Leute Sie unterstützen, wenn Sie ihnen keinerlei Dienst erweisen?« »O mein Herr, ich verlange ja nach nichts Besserem, als Ihnen alle Dienste erweisen zu können, die die Schicklichkeit und meine Jugend mir gestatten.« »Ich spreche nicht davon, daß Sie mir die­nen sollen: dazu fehlt Ihnen das Alter und die Gestalt. Ich spreche davon, daß Sie dem Vergnügen der Männer entgegenkommen sollen. Jene Tugend, von der Sie so viel Aufhebens machen, taugt in der Welt zu nichts. Man schätzt heutzutage nur das, mein Kind, was etwas einbringt oder was ergötzt. Und welchen Nutzen oder welchen Genuß kann uns die Tugend einer Frau einbringen? Ihre Geilheit gefällt und erfreut uns, aber ihre Keuschheit langweilt uns. Wenn Leute meiner Art etwas hergeben, so geschieht es nur, um wieder zu erhalten. Nun, wie kann ein kleines, ziemlich häßliches und auch ziemlich dummes Mädchen, wie Sie es sind, anders lohnen, als daß sie sich ganz hergibt? Also vorwärts, hinauf mit den Röcken, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen Geld gebe.« Und Dubourg streckte seinen Arm aus, um Justine zwischen seine Beine zu ziehen. Aber sie flüchtete nach rückwärts, indem sie unter Tränen ausrief: »O mein Herr, es gibt also keine Redlichkeit und keine Wohltätigkeit unter den Menschen?« »Bei Gott, sehr wenig«, erwiderte Dubourg, dessen geile Zuckungen angesichts der Tränen zunahmen. »Man ist von diesem Wahn, sich andere ohne Gegenleistung zu verpflichten, abgekommen. Man hat erkannt, daß die Freude der Wohltätigkeit nur die Wollust des Stolzes ist, und man will jetzt tatsächlichere Genüsse haben. Der Ruf eines liebevollen, freigebigen und mildtätigen Mannes wiegt nicht, so glänzend immer er sein mag, die kleinste Sinneslust auf.« »Ah, mein Herr, bei solchen Grundsätzen muß also der Unglückliche umkommen?« »Was liegt daran? Es gibt mehr Wesen auf der Welt, als nötig ist.« »So wäre es also besser, wenn man uns in der Wiege erwürgt hätte?« »Sicherlich, das ist in vielen Ländern Brauch: Das war Sitte bei den Griechen und ist es bei den Chinesen. Dort werden die unglücklichen Kinder ausgesetzt oder getötet. Wozu Geschöpfe, wie Sie es sind, leben lassen, die, da sie nicht mehr auf Unterstützung seitens ihrer Eltern rechnen können, oder weil sie keine mehr haben, bloß dem Staat zur Last fallen? Bastarde, Waisen- und schlecht erzogene Kinder müßten schon bei ihrer Geburt zum Tode verurteilt werden. Die ersteren und zweiten, weil sie die Gesellschaft beschmutzen und ihr eines Tages sogar verhängnisvoll werden können, und die letzteren, weil sie ihr niemals nützlich werden können. Alle sind sie für die Gesellschaft Auswüchse, die sich von den gesunden Gliedern nähren, sie entkräften und erniedrigen. Sie sind wie jene Parasiten, die sich an die gesunden Pflanzen anheften und ihnen die Lebenssäfte heraussaugen. Das Almosen, das einem solchen Abschaum Nahrung zuführt, und jene reich unterstützten Häuser, die man für sie gebaut hat, sind ein schreiender Mißbrauch. Wie wenn die Menschenart so selten wäre! So wertvoll, daß man sie selbst in ihren scheußlichsten Vertretern pflegen müßte. Mit einem Wort, wie wenn es nicht mehr Menschen auf der Welt gäbe, als nötig ist, und wie wenn es nicht für das Staatsleben und die Natur viel nötiger wäre, zu zerstören als zu erhalten.« Hier zeigte ihr Dubourg, indem er den Rock, der seine Bewegungen verdeckte, auseinanderschlug, daß sich sein kleines, schwarzes, vertrocknetes Glied, das seine Hand seit langem bearbeitete, zu regen begann. »Vorwärts«, rief er jetzt in rohem Ton, »vorwärts, hören wir auf, weiter zu schwätzen, und beklage dich nicht länger über dein Schicksal, wenn es in deiner Hand liegt, es zu verbessern.« »Aber um welchen Preis, gerechter Gott!« »Um einen äußerst mäßigen, da es sich nur darum handelt, daß du die Röcke aufhebst, und mir zeigst, was unter ihnen ist. Ein zweifellos ma­gerer Köder, den du nicht so hoch schätzen solltest. Vorwärts, entscheide dich. Mir steht er. Ich will Fleisch sehen. Man zeige mir sofort welches, oder ich werde böse.« »Aber, mein Herr...« »Dummes Geschöpf, stumpfsinnige Hure, glaubst du, daß ich mit dir mehr Umstände machen werde wie mit den anderen!« Dabei erhob er sich wütend, verriegelte die Tür und sprang auf Justine, deren Tränen reichlich flossen. Der Lüstling küßte sie ihr weg, er verschluckte diese wertvollen Tränen. Dann schürzte er ihr selbst mit einer Hand die Röcke auf, legte sie um ihre Arme, während die andere das zum ersten Mal beschmutzte, was die Natur selten noch so vollendet geschaffen hat.
»Abscheulicher Mann«, schrie Justine, indem sie eine verzweifelte Bewegung zu entschlüpfen machte, »grausamer Mann«, fuhr sie fort, indem sie die Tür aufriegelte und flüchtete, »möge der Himmel dich eines Tages strafen, wie du es verdienst! Du bist weder des Reichtums würdig, von dem du einen so niederträchtigen Gebrauch machst, noch der Luft, die du nur atmest, um sie durch deine Grausamkeit und deine Verbrechen zu verpesten.« Dann ging sie hinaus.
Sobald die Unglückliclıe nach Hause zurückgekehrt war, wußte sie nichts Wichtigeres zu tun, als sich bei ihrer Wirtin über die Aufnahme zu beklagen, die man ihr bei dem anempfohlenen Manne hatte zuteil werden lassen. Aber wie war sie erstaunt, als sie sich von dieser Elenden mit Vorwürfen überhäuft sah. »Armseliges dummes Ding«, sagte sie ihr zornig, »glaubst du, daß die Männer so verrückt sind, kleinen Bettlerinnen, wie du es bist, Almosen zu geben, ohne Vorteil aus ihrem Gelde zu ziehen? Herr Dubourg hat noch zu gut an dir gehandelt. Der Teufel soll mich holen, wenn ich dich an seiner Stelle hinausgelassen hätte, ohne mich befriedigt zu haben. Aber da du von der Hilfe, die dir mein Wohltätigkeitssinn anbot, keinen Gebrauch machen willst, richte dich ein, wie es dir paßt. Du bist mir Geld schuldig: Zahle sogleich, oder du wanderst morgen ins Gefängnis.« »Madame, haben Sie Mitleid!« »Ja, ja, Mitleid. Mit Mitleid stirbt man Hungers. Von 500 kleinen Mädchen, die ich diesem anständigen Manne verschafft habe, bist du die erste, die mir einen solchen Streich gespielt hat. Welche Schande für mich. Dieser so anständige Mann wird sagen, daß ich meinen Beruf nicht verstehe, und er hat recht. Vorwärts, vorwärts, mein Fräulein, Sie müssen zu Herrn Dubourg zurückgehen. Sie müssen ihn zufriedenstellen, müssen mir Geld mitbringen. Ich werde mit ihm sprechen, ihn vorbereiten und versöhnen, so gut ich kann. Ich werde ihm Ihre Entschuldigung übermitteln, aber trachten Sie danach, sich das nächste Mal besser zu betragen.«
Justine saß nun allein da und hing den traurigsten Gedanken nach. »Nein«, sagte sie zu sich, »nein, ich werde gewiß nicht zu diesem Lüstling zurückgehen. Ich bin noch nicht aller Hilfsquellen beraubt, ich besitze fast noch mein ganzes Geld, und das genügt für lange Zeit noch zum Leben. Ich werde vielleicht bis dahin weniger harte, mitleidigere Herzen finden.« Indem sie diese Worte vor sich hinsprach, war ihr erster Gedanke, ihren kleinen Schatz zu zählen. Sie öffnete ihre Schublade … »O! Himmel!« Er ist gestohlen. … Es blieb ihr nur das, was sie in der Tasche hatte, was kaum 6 Pfund waren. »lch bin verloren«, rief sie aus, »ach, ich sehe nur zu gut, woher der Streich kommt. Dieses niederträchtige Geschöpf will mich dazu zwingen, mich in den Schoß des Lasters zu werfen. Aber ach«, fuhr sie unter Tränen fort, »bleibt mir noch ein anderes Mittel, damit ich mein Leben fristen kann? Und sind nicht in der peinvollen Lage, in der ich mich befinde, jener Unselige oder jemand noch Bösartigerer die einzigen Wesen, von denen ich überhaupt Hilfe erwarten kann?«
In ihrer Verzweiflung ging Justine zu ihrer Wirtin hinab. »Madame«, sagte sie, »ich bin bestohlen. Bei Ihnen ist mir dieser böse Streich geschehen, aus einem Möbelstück, das Ihnen gehört, ist dieses Geld geraubt worden. Ach! Es war alles, was ich besaß. Es war der unglückselige Rest meiner väterlichen Erbschaft. Da ich dieser schwachen Hilfe beraubt bin, bleibt mir nichts als der Tod. O Madame, töten Sie mich, ich beschwöre Sie.« »Unverschämte Kleine«, erwiderte heftig Madame Desroches. »Ehe Sie mir solche Klagen vortragen, sollten Sie mein Haus besser kennen; Sie müssen wissen, daß es bei der Polizei in sehr gutem Ruf steht und daß ich Sie auf den bloßen Argwohn hin, den Sie geäußert haben, sogleich bestrafen lassen könnte, wenn ich wollte.« »Argwohn, Madame? Ich habe keinen. Aus dem, was ich sagte, spricht kein Verdacht, sondern Kummer. O Madame, was soll aus mir werden, nachdem ich diese einzige Hilfsquelle verloren habe?« »Werden Sie, was Sie wollen, das geht mich nichts an. Es gäbe wohl Mittel, alles wiedergutzumachen, aber Sie wollen sie ja nicht benützen.« »Aber, Madame, ich kann dienen«, erwiderte die Unglückselige mit tränenden Augen, »es ist doch nicht gesagt, daß dem Unglück nur durch das Laster aufgeholfen werden kann.« »O ja! Das ist heutzutage das Beste. Was wollen Sie im Dienst erhalten? 10 Taler im Jahr? Wollen Sie davon leben? O! Glauben Sie mir, meine Freundin, auch diejenigen, die dienen, sind genötigt zur Wollust Zuflucht zu nehmen, um sich erhalten zu können. Ich liefere jeden Tag welche von der Art. Ich bin, wie ich wohl behaupten kann, eine der besten Kupplerinnen in Paris. Es gibt keinen Tag, an dem mir nicht 15 bis 30 Mädchen durch die Hände gehen. Das bringt mir auch etwas ein, weiß Gott! Ich bin überzeugt, daß keine Frau meines Standes so gute Geschäfte macht, wie ich. Sehen Sie«, fuhr sie fort, indem sie der Unglücklichen 500 oder 600 Louis, für ebensoviel Juwelen und den schönsten Wäsche- und Kleiderschrank zeigte, »nur der Wollust, vor der Sie so erschrecken, verdanke ich das. Teufel, es gibt heutzutage nur mehr diesen Beruf. Glauben Sie mir, schlagen Sie diesen Weg ein. Und dann ist dieser Dubourg ein braver Mann: Er wird Sie wenigstens nicht entjungfern. Er bringt sein Glied nicht mehr zum Stehen, wie wollen Sie, daß er fickt? Einige schwache Schläge auf den Popo und ein paar auf die Wangen. Und wenn Sie sich gut bei ihm betragen, werde ich Sie mit anderen Männern bekanntmachen, die Sie, bei Ihrem Alter und Ihrem Wuchs, in den Stand setzen werden, in Paris in der Karosse herumzufahren.« »Ich habe keine so hohen Absichten, Madame«, erwiderte Justine, »ich will kein Vermögen besitzen, namentlich, wenn ich es um den Preis meiner Ehre erkaufen muß. Ich verlange nur leben zu können; und ich biete dem, der mir das gibt, alle Dienste an, die ich mit meinem Alter leisten kann, abgesehen davon, daß ich ihm aufrichtig dankbar sein werde. Ach, Madame, da Sie so reich sind, fühlen sie doch mit mir mit. Ich erbitte ja nicht, daß Sie mir ebensoviel leihen, wie ich bei Ihnen verloren habe. Geben Sie mir nur einen Louis, bis ich einen Platz gefunden habe. Seien Sie versichert, ich werde ihn Ihnen gleich von dem ersten Gelde, das ich verdienen werde, zurückgeben.« »Ich gebe dir keine 2 Sous«, sagte Madame Desroches, sehr erfreut, ihr Opfer da zu sehen, wohin ihre Niedertracht es bringen wollte, »nein, keine 2 Sous. Ich biete dir das Mittel an zu verdienen, benütze es, oder du kommst ins Hospital. Herr Dubourg ist einer der Verwalter dieses Hauses, und es wird ihm leicht fallen, dich hineinstecken zu lassen. Guten Tag, meine Freundin«, fuhr die grausame Desroches, zu einem großen und hübschen Mädchen gewandt, fort, die zweifellos wegen eines Ratschlags gekommen war, »und du, meine Tochter, auf Wiedersehen! Morgen Geld oder Gefängnis.« »Nun, Madame«, sagte weinend Justine, »suchen Sie Herrn Dubourg auf; ich will nochmals zu ihm hingehen, ja ich will hingehen, mein Unglück gebietet es mir. Aber indem ich mich vor dem Schicksalsschlage beuge, müssen Sie, Madame, daran denken, daß mir wenigstens das Recht bleibt, Sie zu verachten.« »Unverschämtes Geschöpf«, rief die Desroches aus, indem sie die Türe hinter ihr zuwarf, »du würdest verdienen, daß ich mich in deine Angelegenheiten nicht länger einmischte. Aber ich tue es ja nicht für dich, so sind mir auch deine Gefühle gleichgültig.«
Es wäre vergeblich, die qualvolle Nacht beschreiben zu wollen, die Justine verbrachte. Sie hatte die Grundsätze der Religion, der Scham und der Tugend sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen und konnte sich von ihnen nicht ohne heftige Kämpfe trennen. Die traurigsten Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, als es heftig an der Türe klopfte. »Komm, Justine«, sagte Madame Desroches kurz, »komm zum Frühstück und danke mir für meine Botschaft. Ich habe Erfolg gehabt. Herr Dubourg ist infolge des Versprechens, das ich ihm bezüglich deiner Unterwürfigkeit gemacht habe, bereit dich wiederzusehen.« »Aber, Madame …« »Vorwärts, sei nicht kindisch. Die Schokolade wartet, folge mir nach.« Justine stieg hinunter und fand beim Frühstück als dritte Person eine sehr schöne ungefähr ı8jährige Frau. Diese geistvolle, aber verderbte und ebenso reiche wie liebenswürdige Person wird, wie wir bald sehen werden, diejenige sein, deren sich Dubourg bedienen wird, um unser liebenswürdiges Kind vollends umzustimmen. Man frühstückte. »Sie ist ein reizendes Mädchen«, sagte Madame Delmonse, »ich beglückwünsche denjenigen aufrichtig, der so glücklich sein wird, sie zu besitzen.« »Sie sind sehr gut, Madame«, erwiderte traurig Justine. »Nun, nun, mein Herzchen, erröten Sie nicht so. Die Scham ist eine Kinderei, die man sorgfältig entfernen muß, sobald man das vernünftige Alter erreicht hat.« »O! Ich bitte Sie, Madame«, sagte die Desroches, »bilden Sie dieses kleine Mädchen ein wenig aus. Sie glaubt sich verkauft und verraten, weil ich sie einem Manne versprochen habe.« »Ah, guter Gott! Welche Verirrung«, fuhr Madame Delmonse fort, »statt sich gegen diesen Gang zu sträuben, müssen Sie im Gegenteil eine unendliche Dankbarkeit für die fassen, die Sie dazu einladet. Welch falscher Gedankengang, teures Mädchen. Nehmen Sie doch Vernunft an. Wie können Sie glauben, daß sich ein junges Mädchen etwas vergibt, wenn sie sich dem hingibt, der sie begehrt. Sobald sich die Leidenschaften in Ihrer Seele entzünden werden, werden Sie einsehen, daß es für uns unmöglich ist, so zu leben. Wie will man, daß eine Frau, die immer der Verführung ausgesetzt ist, dem Zauber des Genusses, der sich immer ihren Sinnen darbietet, widerstehen soll? Und wie kann man ein Verbrechen daraus machen, wenn sie unterliegt, wenn alles, was sie umgibt, Blumen über den Abgrund streut und sie einladet, sich hineinzustürzen? Täuschen Sie sich nicht, Justine, nicht die Tugend verlangt man von uns, sondern ihre Maske, und wenn wir nur heucheln können, mehr verlangt man nicht von uns. Nicht das Opfer, das man mit seinen Sinnen der Tugend bringt, macht glücklich; was zum wahren Glück führt, ist nur der Anschein jener Tugend, zu der die lächerlichen Vorurteile des Mannes unser Geschlecht verdammt haben. Ich könnte mich dir als Beispiel vorführen, Justine. Ich bin seit 14 Jahren verheiratet. Niemals noch habe ich das Vertrauen meines Gatten verloren. Er würde meine Anständigkeit und meine Tugend bei seinem Leben beeiden. Und dabei gibt es in ganz Paris keine verderbtere Frau wie ich es bin. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht sieben bis acht Männern und gewöhnlich dreien gleichzeitig hingebe. Es gibt keine Kupplerin, die mich nicht bedienen würde, keinen hübschen Mann, der mich nicht gehabt hätte: Und mein Gatte würde dir auf Wunsch schwören, daß Vesta weniger rein war wie ich. Die vollkommenste Geistesgegenwart, die vollendetste Heuchelei, viel Kunstfertigkeit und Falschheit, das sind die Mittel, die mir helfen, das ist die Maske, die mir die Klugheit auf die Stirne drückt. Und ich tue das jedermann gegenüber. Ich bin eine Hure wie Messalina; man glaubt mich keusch wie Lucretia; ein Freigeist wie Vanini; man hält mich für fromm wie die heilige Therese; ich bin falsch wie Tiberius; man hält mich für aufrichtig wie Sokrates; anspruchslos wie Diogenes: und Apicius war mäßiger wie ich. Ich bete mit einem Wort alle Laster an und hasse jede Tugend. Aber wenn du meinen Gatten oder meine Familie befragen würdest, würde man dir sagen: Die Delmonse ist ein Engel. Aber ich sehe, es ist die Prostitution, die dir Angst einjagt; nun so wollen wir ihre Gefährlichkeit nach jeder Richtung hin prüfen.
Fügt sich ein junges Mädchen selbst Schaden an, wenn sie der Wollust lebt? Zweifellos nein; denn sie folgt nur den Regungen der Natur, die nicht da sein würden, wenn sie ihr schaden könnten. Hat sie denn nicht in jede Frau den Wunsch hineingelegt, sich jedem Manne hinzugeben, und gibt es eine einzige Frau, die behaupten kann, sie habe nicht das Bedürfnis zu ficken, wie sie das Bedürfnis zu essen oder zu trinken hat? Nun so frage ich dich, Justine, wie hat die Natur ein Verbrechen daraus machen können, wenn eine Frau den Wünschen nachgibt, die den erhabensten Teil ihrer Existenz bilden. Betrachten wir aber das ausschweifende Leben eines Wesens in Bezug auf die Gesellschaft, so glaube ich, daß es schwerlich für das andere Geschlecht eine Handlung gibt, die ihm angenehmer ist, als wenn eine Frau sich hingibt. Und wo käme dieses Geschlecht hin, wenn sich alle weigern würden, seinen Begierden nachzukommen. Da die Männer gezwungen wären, sich zu kitzeln oder einander von hinten zu bearbeiten, würden sie ganz auf den Verkehr mit uns verzichten. Die Ehe kann da nichts nützen, denn du wirst mir zugestehen: Es ist für einen Mann ebenso unmöglich, sich auf eine Frau zu beschränken wie umgekehrt. Glaube mir, Justine, glaube jemandem, der Erfahrung hat, und sei überzeugt, daß ein junges Mädchen nichts Besseres tun kann, als sich allen hinzugeben, die sie begehren, wobei sie aber, wie gesagt, die äußerliche Sittsamkeit bewahren muß. Du hast gestern der braven und ehrlichen Desroches gezürnt, weil sie an dir Interesse hatte. Nun, meine arme Justine, was würden wir ohne diese dienstbaren Geister tun? Müssen wir ihnen nicht zu Dank verpflichtet sein für die Mühe, die sie sich mit unserer Wohlfahrt geben? Gibt es einen Beruf, den man mehr achten muß? Ist nicht dieses Talent das kostbarste, das für die Gesellschaft wertvollste? Und die barmherzigen Menschen, die diese Beschäftigung haben, müßten geehrt und belohnt werden.« »Sie sind sehr liebenswürdig, Madame«, sagte die Desroches, die vor Freude strahlte, daß man ihre Partei ergriff. »Nein, nein, ich spreche so, wie ich denke«, erwiderte die Delmonse, »und nachdem ich den Beruf im allgemeinen gepriesen habe, muß ich Justine im besonderen beglückwünschen, daß sie Ihnen begegnet ist. Möge sie sich blindlings Ihren Ratschlägen, Madame, anvertrauen; möge sie bloß Ihnen folgen, und ich bürge dafür, daß sie binnen kurzem die höchsten Lebensfreuden und die Vorteile eines großen Vermögens genießen wird.«
Dieses Gespräch war kaum beendet, als es an die Tür klopfte. »Ah«, sagte Madame Desroches, die öffnete, »das ist der junge Mann, den du von mir verlangt hast, Delmonse.« Und alsbald trat ein prachtvoller 7 Fuß 10 Zoll hoher Mann herein, der stark wie Herkules und schön wie Amor aussah. »Er ist entzückend«, sagte unsere Lebedame, indem sie ihn betrachtete, »es handelt sich jetzt bloß darum, ob er auch so viel kann wie seine Figur verspricht. Schon seit langem habe ich nicht solche Lust zum Ficken gehabt wie heute. Sieh meine Augen an, Desroches, wie feurig sie sind. Ah, Himmel«, fuhr die Hure fort, indem sie den jungen Mann heftig küßte, »ich kann mich nicht mehr halten.« »Das hättest du mir früher sagen müssen«, sagte die Desroches, »dann hätte ich dir drei oder vier solche Leute verschafft.« »Versuchen wir erst den da«, und die Schamlose legte einen Arm um den jungen Mann, den sie in ihrem Leben noch nicht gesehen hatte, mit dem anderen knöpfte sie ihm seine Hose auf, ohne sich irgendwie zu schämen. »Madame«, sagte Justine purpurrot, »gestatten Sie, daß ich hinausgehe.« »Nein, bei Gott nein«, sagte die Delmonse, »nein; Desroches sagen Sie ihr, daß sie bleiben soll. Ich möchte ihr gleich praktischen Unterricht erteilen, nachdem ich ihr theoretischen schon gegeben habe. Ich möchte, daß sie Zeuge meiner Vergnügen sei, und auch du, Desroches, bist mir sogar notwendig; denn du weißt, meine Gute, daß die Einführung des männlichen Gliedes mir nur dann angenehm ist, wenn sie durch deine Hände geschieht. Du kitzelst mich außerdem so gut, wenn ich ficke, und trägst so viel Sorge für meinen Popo und meine Scheide! Vorwärts, vorwärts, Desroches, beginnen wir. Justine, setzen Sie sich hier vor uns hin und wenden Sie keinen Augenblick den Blick ab.« »O welche Folter, Madame«, rief die Arme weinend aus, »lassen Sie mich hinausgehen, ich beschwöre Sie, und glauben Sie, daß der Anblick der Greuel, die Sie begehen werden, in mir immer nur Abscheu hervorrufen wird.« Aber die schon ganz aufgelöste Delmonse widersetzte sich heftig, daß Justine hinausgehe, und bald begann das Schauspiel.
Alle Einzelheiten der weitestgehenden Ausschweifung wurden vor den Augen unseres verschämten Kindes ausgebreitet. An Stelle der Desroches wurde es gezwungen, das ungeheuere Glied des jungen Mannes zu ergreifen und es in die Scheide der Delmonse einzuführen. So brachte sie der kräftige Athlet fünfmal hintereinander zum Entladen, während die Delmonse ungeheueres Vergnügen an der Abscheu Justines fand.
»Donnerwetter«, sagte die Messalina, als sie sich wie eine Bacchantin erhob, »ah, welch großes Vergnügen habe ich gehabt! Weißt du, Desroches, was ich jetzt gerne sehen würde? Ich möchte jetzt dies kleine Muschelchen von dem ungeheuren Glied, das mich bearbeitete, entjungfern lassen. Was sagst du dazu?« »Nein, nein«, erwiderte diese, »wir würden sie töten, und ich hätte nichts an ihr verdient.« Währenddessen gewannen unsere beiden Kämpen wieder Kräfte. Die Delmonse legte sich wieder hin und Justine wurde wieder zu ihrer Arbeit beauftragt. Man mußte es sehen, mit welchem Abscheu, welcher Mühe sie ihren Auftrag vollzog. Diesmal wollte die Hure, daß sie ihr in der Scheide kitzle. Die Desroches führte ihr die Hand, aber dennoch erwies sie sich als zu linkisch für die rasende Delmonse. »Hilf mir, hilf mir, Desroches«, rief sie aus, »ich sehe, daß ein Verführen nur dem Verstande und nicht dem Körper angenehm ist. Namentlich nicht mir, die zehn Hände wie die der Sappho und zehn Glieder wie die des Herkules ermüden würde.« Auch diese zweite Sitzung schloß mit reichlichen Opfern für Venus. Die Delmonse richtete sich wieder auf, ihr Reiter ging hinaus und die Desroches entschuldigte sich, indem sie ein Mäntelchen umhing, daß eine Verabredung mit Dubourg sie länger zu bleiben hinderte. »Desroches«, sagte da Madame Delmonse nach einigem Nachdenken, »je mehr ich bearbeitet werde, desto wilder werde ich. Lasse mich zu Dubourg mitgehen. lch sehne mich außerordentlich danach, zu sehen, was dieser alte Schuft erfinden wird, um sich an diesem kleinen Mädchen wieder zu beleben. Vielleicht kann ich ihm helfen. Oft ziehen ja diese alten Verbrecher mich vor, wie du weißt.« »Was du von mir verlangst, ist ausführbar«, erwiderte die Desroches. »Ich kenne meinen Dubourg zur Genüge, um zu wissen, daß es ihm nicht unangenehm ist, wenn ich ihm ein hübsches Weib mehr mitbringe.« Ein Fiaker fuhr vor. Die immer erschrockene, bescheidene Justine stieg als erste ein und man fuhr fort.
Dubourg war allein. Die Damen fanden ihn in noch weniger bekleidetem Zustand, als er es am Tage vorher gewesen war. Geilheit und zügellose Wollust sprachen aus seinen finsteren Blicken.
»Sie rechneten wahrscheinlich bloß auf eine Frau«, sagte die Desroches beim Eintreten zu ihm, »nun ich glaube, daß es Ihnen nicht mißfallen wird, wenn ich zwei mitbringe.« »Wer ist dieses Mädchen?« fragte Dubourg, ohne sich zu stören. »Eine hübsche Frau aus meiner Bekanntschaft«, erwiderte die Desroches, »deren Liebenswürdigkeit auf der gleichen Höhe mit ihren Reizen steht, und die uns in der Folge bei den Zusammenkünften mit der schönen Justine nützlich sein wird.« »Wie«, sagte Dubourg, »du glaubst, daß es nicht bei einem Male bleiben wird?« »Es wäre möglich«, erwiderte die Desroches. »Nun, wir wollen sehen«, sagte Dubourg. »Gehen Sie hinaus, Desroches, es ist gut, setzen Sie es auf die Rechnung. Wie stehen wir denn?« »Aber, mein Herr«, sagte die Desroches, »seit drei Monaten haben wir nicht verrechnet, es macht nahezu 100 000 Franc aus.« »100 000 Franc, gerechter Gott!« »Aber der Herr möge bedenken, daß ich ihm mehr als 800 Mädchen seit dieser Zeit geliefert habe; ich habe sie alle aufgeschrieben. Der Herr kennt mich wohl, er weiß wohl, daß ich ihn nicht um einen Sou betrügen könnte« »Schön, schön, wir werden schon sehen. Aber gehen Sie jetzt, Desroches, ich fühle, daß ich mit diesen beiden Frauen allein bleiben muß. Und Sie, Justine, bedanken Sie sich bei Ihrer Beschützerin, bevor sie weggeht, denn nur ihr zur Liebe erweise ich Ihnen die Gnade, mich mit Ihnen zu beschäftigen. Sie werden einsehen, daß Sie nach Ihrem gestrigen Betragen dieses Glückes nicht würdig sind. Sollten Sie aber heute meinen Wünschen auch nur den leisesten Widerstand entgegensetzen, so erwarten Sie in meinem Vorzimmer zwei Männer, die Sie an einen Ort bringen, aus dem Sie in Ihrem Leben nie wieder wegkommen werden.« Die Desroches ging. »O mein Herr«, sagte Justine weinend, und stürzte sich vor die Füße des Barbaren, »lassen Sie sich erweichen, ich beschwöre Sie. Seien Sie so barmherzig, und helfen Sie mir, ohne von mir das zu verlangen, wofür ich tausendmal lieber sterben würde. Gnädiger Herr, zwingen Sie mich nicht, ich flehe Sie an. Können Sie denn bei meinen Tränen Freude genießen? Können Sie Vergnügen finden, wo Sie Widerwillen sehen? Sie werden Ihr Verbrechen noch nicht beendigt haben, und schon werden Sie bei meinem Anblick Gewissensbisse empfinden.« Durch das, was jetzt geschah, wurde sie am Weitersprechen gehindert. Die Delmonse, die auf Dubourgs eiserner Stirne seine Gedanken gelesen hatte, warf sich vor ihm nieder und kitzelte ihn leidenschaftlich mit der einen Hand, während sie ihn mit der anderen sokratisierte.**
»Hölle und Teufel«, rief Dubourg furchtbar aufgeregt aus und erhob sich wie ein Rasender. »Ich soll dir Gnade gewähren, ich möchte dich eher erwürgen, du Hure!« Dabei zeigte er ein kleines, vertrocknetes, schwarzes Glied, ergriff seine Beute mit rohen Händen und riß ihr alles vom Körper ab, was seine wollüstigen Augen störte. Bald beschimpfte, bald liebkoste, bald mißhandelte, bald streichelte er sie. Großer Gott! Welch ein Anblick. Es schien, als ob die Natur durch dieses Schauspiel in Justine gleich bei ihrem ersten Abenteuer jeden Schrecken vor dieser Art Verbrechen erwecken wollte. Jetzt wurde sie nackt auf das Bett geworfen und während die Delmonse sie hielt, entdeckte der Lüstling einen neuen Köder. »Warten Sie«, sagte die Schurkin, »ich merke, daß meine Röcke Sie stören. Ich werde sogleich das Ding bloßlegen, das, wie es scheint, Gegenstand Ihrer Bewunderung ist. Sie wollen meinen Popo sehen? Ich begreife, ich ehre diese Neigung bei Leuten ­Ihres Alters.« ***
»Hier ist er, mein Freund; er ist ein wenig voller wie der dieses Kindes. Aber dieser Gegensatz wird Ihnen Vergnügen bereiten. Wollen Sie sie nebeneinander sehen?« »Teufel, ja«, erwiderte Dubourg, »setzen Sie sich auf ihre Schulter, damit sie ruhig liegen bleibt, und ich werde versuchen, ihr mein Ding von hinten hineinzustecken, und Ihnen dabei die Arschbacken zu küssen. – Ja, so ist es richtig«, fuhr der Lüstling fort, indem er sowohl auf den einen wie auf den anderen Popo ein paar Schläge versetzte, »und nun wollen wir sehen, ob ich die Sodomie zustande bringe.« Der Schuft versuchte es, aber sein heftiges Feuer erlosch bei den Schwierigkeiten des Unternehmens. Der Himmel rächte Justine für die Vergewaltigungen, die sie erleiden sollte, und der Kräfteverlust des alten Lüstlings bewahrte dieses unglückliche Kind davor, hingeopfert zu werden.
Dubourg wurde nunmehr noch ausfallender. Er gab Justine Schuld an seiner Schwäche und versuchte durch neue Beleidigungen und Schmähungen, den Verlust wieder zu ersetzen. Die Ungeschicklichkeit Justines ärgerte ihn. Aber selbst der Delmonse mit all ihrer Kunst gelang es nicht, in dieses entkräftete Glied Leben hineinzujagen. Sie drückte, kitzelte, leckte, nichts half diesem schlappen Ding auf. Allen dreien gelang es nicht, diesem unglückseligen Glied das majestätische Aussehen zu geben, das zu einem Angriff nötig ist. Endlich gab es Dubourg auf. Er ließ sich von Justine versprechen, am nächsten Tag wiederzukommen, und um sie besser dafür zu stimmen, wollte er ihr keinen Sou geben. Man übergab sie der Desroches, während die Delmonse bei Dubourg blieb, der sich, nachdem er gut gespeist hatte, an dieser hübschen Frau für das Vergangene rächte. Es kostete zwar von beiden Seiten viel Anstrengungen, aber schließlich ging alles von statten und der wundervolle Popo der Delmonse empfing das, was eigentlich für den jugendlichen Justines bestimmt war. Diese erklärte, als sie zu Hause angelangt war, ihrer Wirtin, daß, sollte sie selbst vor Not umkommen, sie sich niemals mehr solchen Szenen aussetzen wolle. Von neuem schmähte sie den Verbrecher, der mit ihrem Elend solchen Mißbrauch trieb. Aber das Verbrechen triumphierte, lachte über die Angriffe des Unglücks, und zeigte dem Menschen, der zwischen Tugend und Laster wählen wollte, daß das letztere der einzig wahre Weg zum Glücke sei.

Anmerkungen:
* So nennt man den Schriftsteller, der sich damit beschäftigt, das Leben berühmter Persuııon zu beschreiben.
** Jeder Erfahrene weiß, daß man damit die Art bezeichnet, einen oder mehrere Finger in das Arschloch des zu Behandelnden zu stecken. Das tut man hauptsächlich bei Greisen und verbrauchten Leuten. Es trägt zur völligen Steifung des Gliedes bei und verursacht unsagbare Lustgefühle bei der Ejakulation. Wenn man die Finger durch ein Glied ersetzt, wird das Vergnügen zweifellos unendlich lebhafter und verhält sich wie die Wirklichkeit zur Illusion. Es gibt tatsächlich kein lebhafteres Wollustgefühl, als sich während des Fickens ficken zu lassen.
*** Für diese wundervolle Neigung gibt es kein Alter. Der junge Alcibiades liebte ihn ebenso wie der alte Sokrates. Ganze Völker haben diesen herrlichen Körperteil jedem anderen der Frau vorgezogen. Und tatsächlich: Es gibt keinen, der mehr verdiente, Gegenstand der Huldigung zu sein. Der unglückliche, der noch keinen Knaben gefickt oder aus seiner Geliebten noch keinen Knaben gemacht hat! Er weiß noch nichts von der Wollust.

Abdruck mit freundlicher Genehmingung des Verlags aus: Marquis de Sade: Justine oder die Leiden der Tugend. Roman aus dem Jahre 1797. Aus dem Französi­schen von Raoul Haller. Suhrkamp, Berlin 2014. Die Übersetzung ist zuerst 1990 im Insel-Verlag veröffentlicht worden. Der Band ist soeben erschienen.