Der nachhaltige Alltag deutscher Linker

Oben bleiben

Gideon Böss berichtet aus dem nachhaltigen Alltag deutscher Linker.

Hitler: Es ist nie die Frage gewesen, ob wir kommen! Dieser Entschluss stand von Anfang an fest. Die Frage war lediglich, wann wir kommen! Ich wollte um 19.00 Uhr da sein, aber Eva erst um 21.00 Uhr. Sie schlug als Kompromiss 20.00 Uhr vor, ich 19.00 Uhr. Wir einigten uns schließlich auf 19.00 Uhr und brachten einen Nudelsalat mit.

17. Juni

»Von daher bleibt nur noch mutig zu sagen: Jawohl, wir krempeln die Ärmel hoch. Wir packen es an. Gemeinsam, gegen alle Widerstände! Die Revolution hat begonnen!«

Revolution? Was genau wollte der gute Mann eigentlich von ihm? Bastian Nowak hielt den Brief noch lange in Händen. Wirr. Aber trotzdem eine gute Nachricht. Ja, doch. Es stand also fest: Hitlertage wird aufgeführt. Zwar keine große Bühne, aber immerhin. Vom Theater Stachel­igel hatte Bastian zum ersten Mal gehört, als Krell sich ihm als dessen Intendant vorgestellt hatte.

Bastian lief durch seine kleine Wohnung. Er stellte sich ans Fenster und betrachtete die triste Plattenbau-Skyline um sich herum. Berlin-Marzahn, offiziell Teil der Hauptstadt, aber was hieß das schon? Wären Stadtteile Menschen, Marzahn wäre der, über den in der Zeitung steht, dass betrunkene englische Touristen ihn leblos im Landwehrkanal entdeckt haben.

Nichts würde Bastian vermissen, wenn er diese Wasserleiche gegen etwas Lebendiges eintauschen könnte. Eine Villa in der Toskana, warum nicht? Viele Künstler haben das. Wer ein Theaterstück inszeniert, gehört dazu. Wie hieß es so schön: Frauen, Geld und Ruhm, in der Reihenfolge. Wobei ihn weder Geld noch Ruhm antrieben, und auch die Frauen bräuchte es nicht im Plural. Die eine würde ihm schon reichen: Lena Habermann.

Krell jedenfalls lebte in einer Villa, in der Villa Solidarität, und in die hatte er Bastian eingeladen, »um dem Mann hinter diesen fesselnden Utopien auch noch einmal offiziell die Hand reichen zu können!«, wie es im Schreiben hieß. Sehr schmeichelhaft, auch wenn sie sich schon diverse Male die Hand gereicht hatten. Nur noch nicht im privaten Rahmen und offensichtlich auch nie offiziell. Gleichzeitig irritierte Bastian eine Einschränkung: »Die Villa Solidarität befindet sich (noch!) in Privatbesitz in der Chemnitz-Allee 11.«

Nachdem Bastian lange genug in die deprimierende Welt vor seinem Fenster geblickt hatte, wandte er sich wieder ab. Es gab keinen Marzahn Way of Life, weil es hier nicht mal einen Way gab. Es gab nur ein Marzahn Life, für immer, wenn man nichts dagegen tat. Sterben war die eine Möglichkeit, von hier wegzukommen, die andere probierte Bastian gerade aus.

Er betrachtete noch einmal den Brief. Mit Hand verfasst. Nicht schön, aber ehrlich. Genau wie die Zeichnungen, die Krell angefertigt hatte. Friedenstauben und Panzer mit roten Sternen, die über einen McDonald’s fuhren und ihn zertrümmerten. Überhaupt viele rote Sterne. Warum auch nicht? Bastian war es egal. Er freute sich einfach. Sein Werk, eine Bühne. Endlich! Wer hätte das vor ein paar Monaten gedacht?

Er wunderte sich einen Moment darüber, wie es überhaupt zu alldem gekommen war. Er glaubte nicht an Schicksal, viel eher verlief sein Leben so, als hätte es ein zweitklassiger Drehbuchautor nachts um halb drei mit dröhnendem Kopf verfasst. Fest stand jedenfalls, dass es dieses Stück nicht ohne Lena und die Nachhaltigen gegeben hätte. Ohne sie hätte Bastian vermutlich längst sein BWL-Studium abgeschlossen und wäre nun Mitarbeiter der Sparkasse oder eines mittelständischen Unternehmens. Stattdessen hatte er das Studium geschmissen, sich verliebt und ein Theaterstück verfasst, dessen Plot in einem Satz lautete: Adolf Hitler und Eva Braun diskutieren auf einer Party mit dem Deutschen Michel über Rassismus. Ein Dreipersonenstück. Es gab darin dramatische Szenen, Bastian war nicht unzufrieden.
Trotzdem war er am nächsten Morgen etwas nervös, als er seine Wohnung verließ. Er kam am Spielplatz der Siedlung vorbei. Zwei Schaukeln, eine Rutsche, ein Sandkasten. Auf dem Boden lagen Bierflaschen, und irgendjemand hatte »Ultras!« auf die Bank gepinselt. Hinweisschilder warnten davor, dass in den Gebüschen Rattengift auslag. Kinder sah man hier selten, was für sie sprach.
Nach einem kurzen Fußweg zwischen den grauen Plattenbauten, deren einzige Farbtupfer die DDR-Fahnen darstellten, die an einzelnen Balkonen hingen, betrat er die S-Bahn, die ihn aus dieser Tristesse in die funkelnde Welt der Künstler und Theaterbühnen bringen würde. Am Alexanderplatz stieg er wieder aus. Menschen, überall und aus allen Richtungen. Arbeitslose, Touristen, Geschäftsleute, Mütter. Bastian nickte einem Gitarristen freundlich zu. Der sang »Yellow Submarine«, saß im Schneidersitz unter der Weltzeituhr und unterbrach, um »Is was?« zu blaffen.

Kurz darauf stand Bastian vor der Villa Solidarität in der Chemnitz-Allee 11. Nicht enttäuscht sein, sagte er sich, nicht enttäuscht sein! Er versuchte sein Bestes, aber es war nicht zu leugnen, er stand vor einem Plattenbau. Ein Klingelbrett, viele Namen. Irgendwo dazwischen ein roter Aufkleber: Villa Solidarität.
Bastian klingelte.
Nichts passierte.
Er drückte gegen die Eingangstür, sie gab nicht nach.
Er klingelte noch einmal. Keine Reaktion. Ratlos setzte er sich auf die Treppe. Vor ihm auf dem Weg lagen Dosen, Taschentücher, Pizza-Kartons und anderes, was aus einem überfüllten Mülleimer fiel. In Marzahn wurden die Mülleimer immer geleert. Im Hintergrund rauschte der Verkehr über die Karl-Marx-Allee. Wo sollte diese verdammte Villa sein? Im Plattenbau?

Nach einigen Minuten näherte sich eine alte Frau mit Aldi-Tüte. Sie schloss die Tür auf. Bastian betrat hinter ihr das Haus.
»Bewohner?« krächzte sie misstrauisch.
»Nein.«
»Nur für Bewohner hier!«
»Okay«, gab Bastian ihr recht und blieb stehen. Er würde hinauf zu Krell laufen, sobald die Alte in ihrer Wohnung verschwunden war.
Die Alte blieb im Flur.
Sie griff sich einen Tetrapak-Wein aus der Tüte.
»Man braucht Mietvertrag.«
Bastian nickte. Sie trank und saß im Treppenhaus. Sie verteidigte ihr Revier. Als sie auch noch einen Schokoriegel auspackte, wusste Bastian, dass er an ihr nicht vorbeikommen würde.
»Schönen Tag noch«, murmelte er und »schönes Haus«.
Sie nickte.
Er beobachtete wieder den Müll, der sich in den Hecken verfing. Wieder klingeln, wieder vergeblich, wieder warten.
Irgendwann wurde die Tür von innen geöffnet. Ein junger Mann mit Kampfhund und Goldkette trat ins Freie. Das Tier knurrte feindselig, als Bastian in den Flur trat. Die Frau war verschwunden. An der Wand hingen die silbernen Briefkästen der Bewohner. Krell wohnte im siebten Stock.

Die Wände im Treppenhaus waren voller Liebesschwüre, Beleidigungen und politischer Parolen. Es roch nach verbrauchter Luft und war so still wie im Museum. Außer seinen Schritten hörte Bastian nichts. Schließlich stand er vor der Wohnung 74 in der Chemnitz-Allee 11. Eine Wohnung wie all die anderen, wenn da nicht ein rotes Tuch über die Tür gespannt wäre. Villa Solidarität stand darauf.
Bastian klopfte an.

Es dauerte nicht lange, ehe sich Schritte näherten und dann Lärm und Flüche zu hören waren, irgendetwas schien zu Bruch gegangen zu sein. Die Tür wurde von einem Mann geöffnet, an dem Bastian eine Sache sofort auffiel: dass sein linker Fuß in einer zerbrochenen Lenin-Büste steckte.

Was sich als Villa angekündigt hatte, schrumpfte für den objektiven Betrachter nun endgültig auf das Normalmaß einer Plattenbauwohnung in Innenstadtlage. Sie sah trostlos und karg aus. In der Garderobe hing nur eine einzige Jacke, und im offenen Schuhschrank befand sich ein Paar Schuhe. Direkt neben der Tür lagen außerdem ein Regenschirm und ein roter Schal auf dem Boden. Mehrere leere Bierflaschen harrten im Flur aus, die älteren von ihnen hatten sich schon eine dünne Staubschicht zugelegt. Und überall, ob in der Garderobe, im Schuhschrank oder dem Flur, fanden sich Hefte, Zeitungen, Bücher. Nicht irgendwelche, sondern fast immer mit Bezug zum Theater und manchmal zur Politik. Kein Sport, keine Ratgeber zu guter Ernährung oder Abnehmen in 30 Tagen. Nur eine Apotheken-Umschau entdeckte Bastian dann doch noch, sie lag eingeklemmt unter einer Flasche und warnte: »Warum Alkohol so hinterhältig ist!«. Mit schwarzem Stift hatte Krell diese fünf Worte durchgestrichen und obendrüber »Prost!« geschrieben. Die früher einmal weißen Tapeten hatten sich im Laufe der Zeit ins Gelbliche verfärbt und an manchen Stellen die Verwandlung längst in noch dunklere Farbtöne vollzogen. Graue Wasserflecken überzogen die Wände wie Fettaugen eine deftige Suppe. Alles hier verströmte den illusionslosen Charme einer Junggesellenfestung, die längst die Hoffnung aufgegeben hat, jemals von einer Frau belagert zu werden.

Krell hatte einen massigen Körper, der Bastian etwas beunruhigte, weil er immer leicht zu schwanken schien wie ein Schiff auf hoher See. Auf seinem Kopf hielten wenige Haare die Erinnerung an jene Zeiten wach, in denen noch Shampoo und Kamm nötig waren. »Willkommen in der Villa Solidarität!« rief Krell und befreite mühsam seinen Fuß.

Im Wohnzimmer stellte sich die Lage ähnlich dar wie im Flur, eine allumfassende Unordnung prägte den Raum, jedoch gab es einen auffälligen Unterschied. Vor der Tapete, die sich auch hier längst vom ursprünglichen Weiß verabschiedet hatte und sich in verschiedenen Phasen ihrer Verfärbung befand, hingen Fotos. Fotos, die auf eine ausgeprägte Theaterliebe verwiesen. Auf den Bilderrahmen standen die Namen der abgebildeten Aufführungen: »Faust«, »Hamlet«, »Warten auf Godot«, »Effi Briest« und »Tod eines Handlungsreisenden«. Fotos von Premierenabenden, auf denen sich das ganze Ensemble verbeugte, wechselten sich ab mit den Aufnahmen einzelner Charakterdarsteller, denen mal der tiefste Weltschmerz und dann wieder höchstes Liebesglück ins Gesicht gebrannt schienen. Alles in Schwarzweiß.
»Weil das stimmungsvoller als Farbe ist«, erläuterte der Gastgeber, der Bastians neugierige Blicke bemerkt hatte. Stolz schob er nach: »Und ich habe sie alle im Kopf, die Stücke von Brecht, Schiller, Shakespeare und wie sie alle heißen. Ich sauge sie auf wie ein Schwamm, wie ein Kulturschwamm. Eigentlich müsste mein Kopf von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt werden.«
Auf dem Tisch in der kleinen Küche stand eine zweite Lenin-Büste.
»Für zwei gab es 30 Prozent Rabatt.«
Bastian nickte und setzte sich, nachdem Krell mit großer Geste dazu aufgefordert hatte. Auf dem Schreibtisch lagen Drehbücher, Zeitschriften, Zettel, Stifte und ein altmodischer Füller, aus dem sich eine Vogelfeder bog. Außerdem Tageszeitungen, die um Anmerkungen wie »LÜGE!«, »Ha!« und »Gauner« ergänzt waren. Größere und kleinere Ausrufezeichen übersäten die Artikel. Ganze Seiten waren zerrissen.
Bastian las selten Zeitung und nie so emotional.
Hitlertage lag irgendwo dazwischen, ebenfalls mit größeren und kleineren Ausrufezeichen übersät. Mit roter Schrift stand auf der ersten Seite: »Gegenrevolution! Wenn sie kommt, dann durch die Kunst!«

Krell ließ sich ebenfalls in einen der Sessel fallen.
»Ja, das ist sie, die Villa Solidarität, ein Pilotprojekt. Noch muss ich mir dieses Grundstück mit dem Plattenbau teilen, aber sobald die Zeiten anders werden, und sie werden es, wird die Villa den Vorzug bekommen und dieser ganze hässliche Betonschandfleck verschwindet.«
Bastian wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er nickte und war froh, dass Krell endlich auf das Theaterstück zu sprechen kam.
»Wirklich außergewöhnlich begabt, eine starke Sprache und mutige Akzente. Die Stimme einer selbstbewussten Jugend!« Er goss sich ein Glas Wodka ein.

Krell redete weiter, ohne sich dabei auch nur einmal zu vergewissern, ob Bastian ihm zuhörte. Er rauchte dabei, und wenn er über den Zustand der Menschheit philosophierte, blies er den Rauch manchmal sehr langsam aus. In den Ausführungen des Intendanten ging es viel um Klassenunterschiede und wie die Elite die Illusion erschafft, alle wären gleich. Dabei lachte Krell bitter auf und schlug auch einmal mit der Faust auf den Tisch. Sein linkes Auge zuckte unkontrolliert, wenn er sich sehr konzentrierte oder aufregte. Zum Beispiel beim Thema Bundestagswahl, die zwar schon einige Zeit zurücklag, aber das Auge immer noch in Aufruhr versetzte. So ging es eine halbe Stunde, und längst lagen die Hitlertage irgendwo auf dem Boden. Bastian hörte zu, aber es fiel ihm zunehmend schwerer, den Gedanken seines Gastgebers zu folgen. Darum war er erleichtert, als sich Krell irgendwann erschöpft zurücklehnte.
»Mein Freund, wir ziehen das durch! Wir veranstalten ein Vorsprechen alter Schule. Kein Casting, ein Vorsprechen! Dann kommt die Sache ins Rollen. Es wird große Kunst, große Kunst«, versprach Krell und trank den Alkohol mittlerweile direkt aus der Flasche.
»Lass dir etwas vom Stacheligel erzählen. Warum habe ich ihn gegründet? Er befindet sich in der Nähe des Zoologischen Gartens, in einer Seitengasse des Kurfürstendamms. Da, wo die Geschäfte nicht mehr so glitzern und die Straßen dunkler werden, ein Arbeitertheater! Früher war es eine Metzgerei, danach kaufte ein Russe das Gebäude und machte eine Disko daraus. Die ging pleite, weil das Partyvolk zu Rolf Eden hielt. Ein Feuer zerstörte sie, vermutlich Brandstiftung. Das liegt schon lange zurück, gegen Ende des letzten Jahrtausends. Dann kam der Angriff auf das World Trade Center! Hat er die Welt verändert, der Angriff?« Er blickte Bastian streng an, gab dann aber selbst die Antwort. »Keinesfalls! Nur die Selbstgerechten hat er erschüttert, mehr nicht. Es gibt mehr Verkehrstote als World-Trade-Center-Tote, jedes Jahr, stört keinen. Wird hingenommen, der Preis des Fortschritts!« Er schüttelte resigniert den Kopf.
»Du wollest erzählen, warum du den Stachel­igel gegründet hast!« erinnerte ihn Bastian vorsichtig.
»Der Stacheligel ist die außerparlamentarische Opposition, der Verzweiflungsschrei gegen die Gleichschaltung. Klar, ich bin in der Unterzahl und die Leute mit dem Geld hassen mich, weil sie das fürchten, wofür ich stehe, aber so ist das eben. Kriege gewinnt man gegen Feinde, nicht gegen Freunde!«
»Klingt …«, von den Worten verunsichert, suchte Bastian nach einer passenden Entgegnung, » … gut.«
Krell verstand sich, auch das wurde im weiteren Verlauf des recht einseitigen Gesprächs deutlich, als Erbe Max Reinhardts, Bertolt Brechts und Arthur Millers. Wenn er seufzte: »Solche Persönlichkeiten wird es bald nicht mehr geben«, war das vor allem das Eingeständnis der eigenen Sterblichkeit.

»Wo kommt so ein kritischer Geist eigentlich her? Erzähl uns was von dir, Bastian!« wechselte Krell wieder das Thema.
»Ich habe BWL studiert und kam dann in Kontakt mit Leuten, die wirklich die Probleme auf diesem Planeten lösen wollen, das hat mich beeinflusst. Das hat mir auch die Augen geöffnet.«
»Das ist alles? Das ist das Phänomen Bastian? Das ganze Geheimnis?«
»Na ja«, weil Bastian schon vermutet hatte, dass er auch ein paar ernste Worte zu seinen Motiven verlieren musste, hatte er mehrere Sätze aus einem Guido-Knopp-Interview auswendig gelernt, »ich werde regelmäßig gefragt, warum ich mich mit diesem Thema so intensiv beschäftige. Ich glaube, dass auch die jüngere Generation bestimmte Grundbegriffe der deutschen Geschichte kennen sollte. Wir haben eine Verantwortung, uns dieser Thematik zu stellen und … « Bastian stutzte. Krell war eingeschlafen.
Er schnarchte leise. Bastian schnippte mit dem Finger. Nichts passierte. Er räusperte sich und fuhr fort.
»Und außerdem: Lena! Sie sagte, ich soll irgendwas mit Hitler machen, weil das immer zieht. Die müssten sie mal sehen, Haare, Lächeln, Figur, einfach perfekt. Außerdem ist sie großer Theater-Fan, was meine Chance ist. Wenn hier alles perfekt läuft, wird sie vielleicht meine Frau und wir haben Kinder, Enkel und irgendwann eine gemeinsamen Gruft. Oder es reicht zumindest für eine wilde Nacht mit hemmungslosem Sex. Von vorne, von hinten, mit dem Mund und … «

»Hast du etwas gesagt?« Krell gähnte und blickte ihn mit müden Augen an.
»Äh … «, stotterte Bastian, »wehret den Anfängen, hatte ich gesagt. Was ist die Kernaussage aus meinem Stück? Wehret den Anfängen!«
»Gut. Sehr gut.«
Bastian spürte, dass er rot wurde. Hoffentlich hatte Krell nichts mitbekommen. Verdammte Mutprobe.

Dann klingelte es an der Tür. Es klingelte noch einmal. Krell stand nicht auf.
»Es klingelt«, flüsterte Bastian.
»Da reagiere ich nicht drauf, nie. Menschen sind keine Maschinen, bei denen der Knopf A gedrückt wird, um Verhalten B auszulösen. Wer klingelt, meint, mich beherrschen zu können. Aber ich bin kein Sklave, ich bin Mensch.«
Es klingelte zum dritten Mal.
»Mensch!«
Es klopfte gegen die Tür.
»Herr Krell, sind Sie zu Hause? Richard Krell?« rief eine tiefe Männerstimme.
»Nicht mehr, ich bin vor zehn Minuten in die Stadt gegangen«, antwortete er und lachte so laut, dass es fast wie ein Schreien klang. Bastian lachte auch, aber nur, weil Krell ihn erwartungsvoll ansah.
»Machen Sie auf.«
»Gerne, wenn ich zurück bin.«
Wieder Lachen. Krell stand dann aber doch auf und lief am demolierten Lenin vorbei zur Tür.
Zur Männerstimme gehörte ein gedrungener Körper, der in einem Blaumann steckte.
»Warum öffnen Sie nicht, wenn es klingelt?«
»Weil ich keine Maschine bin.«
»Nicht schon wieder das Thema!« Er machte eine wegwerfende Geste und fuhr dann fort: »Es geht erneut um Ihre Villa. Sie dürfen Ihre Wohnung nennen, wie Sie wollen, aber die Hausverwaltung hat es Ihnen strikt untersagt, Ihr Klingelschild zu überkleben. Jetzt steht da wieder Krell.«
Der Mann hielt den roten Aufkleber Villa Solidarität in Händen, den er vom Klingelbrett entfernt hatte.
»Dass Sie sich nicht schäbig dabei vorkommen, Befehle blind zu befolgen.«
»Das ist mein Job, ich bin Hausmeister.«
»Ist schon klar, Millionen Deutsche hatten damals nur ihren Job getan.«
Der Hausmeister schien einen Moment zu überlegen, ob er darauf reagieren sollte, vermied dann aber die Konfrontation.
»Wie gesagt, hören Sie einfach auf, das Klingelschild zu manipulieren.«
Krell schüttelte voller Verachtung den Kopf und nahm den entfernten Aufkleber in Empfang. Er wollte gerade wieder die Tür schließen, als Bastian fand, dass sein Besuch in der Villa Solidarität lange genug gedauert hatte.
»Ich sollte dann mal wieder gehen und noch ein wenig das Theaterstück vorbereiten.«
»Selbstverständlich! Könntest du so gut sein und diesen Aufkleber auf mein Klingelschild kleben?«

Drei Monate zuvor, 17.  März

Als Rüdiger Wagner am Hauptbahnhof ankam, blickte er zufrieden um sich. Es mussten Zehntausende sein, die sich hier versammelt hatten. Gewerkschaftler, Tierschützer, Rentner, Lehrer mit ihren Schülern, Punks, Nostalgiker und Verschwörungstheoretiker. Alle da. An den Bäumen angekettete Parkschützer, manche schon seit Tagen, aber niemand so ausdauernd wie die ehemalige Mitarbeiterin der Deutschen Bahn, die sich in ihrer dritten Woche als menschliches Schutzschild befand. Sie leistete Abbitte, Aktivisten reichten ihr Suppe und Tee. Keine Wolken am Frühlingshimmel, nur die Sonne hätte gern ein paar Grad weniger auflegen dürfen. Rüdiger schwitzte in seinem Kostüm. Außerdem konnte er kaum etwas sehen, weil die Maske ihm die Sicht nach links und rechts versperrte.

Immer wieder versuchten Polizisten, Sitzblockaden aufzulösen. Sie erinnerten dabei an Sisyphus mit Ellbogenschonern und Schlagstock. Am Rand des Platzes warteten Wasserwerfer und Reiter auf ihren Einsatz. Über allem der Südturm des Bahnhofs. »Oben bleiben, oben bleiben«, skandierte eine Rentnergruppe. Rüdiger stellte sich kurz in die Nähe der Bühne, auf der ein Redner die Teilnehmer der Demo begrüßte. »Kein Stein fällt, kein Baum stirbt, wenn das Volk kämpft!« Applaus der mehrheitlich älteren Zuhörer. Die Jungen hatten sich in den Schatten zurückgezogen, auch Rüdiger lief weiter.

Als er an einem der vielen Lügenpack-Transparente vorbeikam, spürte er, dass das heute sein Tag werden würde. Die Krönung seiner monatelangen Aktivitäten für die Tiere des Bahnhofs. Für die Natur. Er protestierte nicht, er handelte. Meistens in der Nacht und meistens alleine, weil den anderen der Mut fehlte. Dutzende Male hatte er LKW die Reifen zerstochen. Es folgten Farbattacken auf Einsatzwagen und die Zerstörung von Baumaterialien.

Nicht einmal die Parkschützer trauten sich das. Wenn Rüdiger Komplizen hatte, waren das oft zugereiste Aktivisten, die sich schon am nächsten Morgen wieder in den Zug setzten. Rüdiger nicht. Es ging hier um viel mehr als ihn, es ging um das Ökosystem Welt. Hier am Bahnhof musste sich beweisen, ob die Menschheit dieser Umweltzerstörung ein klares NEIN! entgegenhalten kann. Stuttgart war das Exempel. Auch heute handelte Rüdiger wieder alleine, zumindest fast. Er hatte noch ein Ass im Ärmel.

Er machte das alles nicht für die Stuttgarter, er verachtete sie für ihre angepasste Art. Angemeldete Demonstrationen, Kooperation mit dem Deeskalationsteam, weinerliche Versuche, die eigenen Motive der Öffentlichkeit zu erklären. Und keine Gewalt. Da waren sie stolz drauf, verglichen sich mit Mahatma Gandhi, diese Narren. Gandhi hätte mit seinen Sitzblockaden den Abriss des Hauptbahnhofs von Neu-Dehli auch nicht verhindern können. Wäre er heute hier im Schlosspark, die Beamten würden ihn wegtragen, und das war es dann auch schon ganz gewaltlos mit dem großen Gandhi.

»Das hat ein Nachspiel, das wird ein Nachspiel haben!« fluchte der Student mit Rastazöpfen in Richtung zweier Polizisten. Sie hatten ihm eben das Plakat mit dem durchgestrichenen S21-Schriftzug entrissen, mit dem er zuvor auf sie eingeschlagen hatte. Je näher Rüdiger dem abgesperrten Bereich rund um den Südturm kam, umso explosiver wurde die Atmosphäre. Er wich zwei jungen Männern aus, die einen Rentner stützten, dessen Augen blutunterlaufen waren. Der Verletzte trug eine Regenjacke, von der noch Wassertropfen perlten. Offenbar hatte ihn der Strahl des Wasserwerfers erwischt. Rüdiger ging weiter, konzentriert, entschlossen.
Wut-Rentnerinnen mit bunten Gummistiefeln und weißgrauem Haar geiferten »unerhört, unerhört!« und rieten: »Namen geben lassen, jeder Beamte hat einen Namen!«, wenn jemand von Polizeimaßnahmen betroffen war. Vor allem aber schrien sie mit sich überschlagender Stimme »verstärken, verstärken«, wenn Protestierende abgeführt wurden und eine Sitzblockade zu reißen drohte. Manche von ihnen hatten Tränen in den Augen und hielten Kindheitsfotos in Kameras, auf denen sie zusammen mit Mama auf den Sonderzug aus Russland warteten. Es waren die fünfziger Jahre, und für Papa endete gleich an Gleis 2 der Krieg.
Rüdiger konnte damit nichts anfangen, er dachte an Füchse, Tauben und Maulwürfe, nicht an menschliche Sentimentalitäten. An all die Tiere, die hier lebten und denen jetzt von einem Bauprojekt die totale Vernichtung drohte. Er arbeitete sich zu den Absperrungen vor, Schritt für Schritt. Dieser Schweiß, diese Hitze. Und die Blicke der Leute.

Wenn sie wüssten, was sie ihm zu verdanken hatten. Was er im Verborgenen leistete, um ihren Kopfbahnhof zu retten. Was er überhaupt schon alles geleistet hatte. »Kröte« nannten sie ihn früher bei der Grünen Jugend, er hatte das engmaschigste Krötentunnelnetz der Schwäbischen Alb organisiert. Nirgendwo starben so wenige Amphibien. Das lag nun aber auch schon 15 Jahre zurück. Mittlerweile ging er auf die 40 zu und hatte sich längst vom traditionellen Naturschutz abgewandt. Paul Watson inspirierte ihn seither, dieser Walfängerfänger, der Schiffe rammte und versenkte, um die Wale zu retten. Sea Shepherd hieß seine Organisation. »Wir schwenken keine Fahnen und bitten nicht unter Tränen um das Leben eines Tieres. Wir stoppen die Schlächter.« Diese Sätze von Watson hatte Rüdigers Leben verändert und standen als Tattoo auf seinem Rücken. Er gründete seine eigene Organisation, Land Shep­herd, und rammte einen LKW der Metzgerei Bauermacher. Nicht wirklich dramatisch, an einer roten Ampel und mit zu wenig Tempo. Es sah nicht einmal wie eine politische Aktion aus, sondern eher wie ein ganz normaler Auffahrunfall. Sein Opel Corsa ging dabei kaputt, der LKW erlitt Blechschaden, konnte aber weiterfahren. Rüdigers Vater war mit dem Metzger Bauermacher in die Schule gegangen, er brachte ihm einen Korb mit Honig und Marmelade vorbei. Sie sprachen über die alten Zeiten, lachten viel, Bauermacher verzichtete auf eine Anzeige. Danach verlegte sich Rüdiger wieder auf Aktionen, für die der Nahverkehr oder das Fahrrad ausreichten. Oder ein Kostüm.

»Wir sind friedlich, was seid ihr!« skandierten ein Dutzend Jugendliche den Polizisten entgegen, die sie immer wieder von der Absperrung wegstießen. Auch hier diese alten Frauen, die »Namen aufschreiben« zischten. Ehemänner schienen sie nicht oder nicht mehr zu haben, sie traten immer alleine auf. Die Stimmung auf dem Platz kippte zunehmend. Es gab mehrere kleine Zwischenfälle, Gymnasiallehrer wurden vor den Augen ihrer weniger engagierten Schüler weggetragen. Rüdiger merkte, dass ihn immer mehr Leute beobachteten. Wer ist das, was soll dieses Kostüm? Es lief alles nach Plan, er griff sich die Frau, ab jetzt gab es kein Zurück mehr! Sie schlüpften an der einen Stelle durch den Zaun, die Rüdiger in der Nacht präpariert hatte.

»Entweder der Bahnhof oder sie!« brüllte er fünf Minuten später vom Dach aus den Polizisten zu, die unter dem Südturm Stellung bezogen hatten. Er schob die Geisel vor sich, um die Situation klarzumachen. Er hörte das Knistern der Funkgeräte, die über die Eskalation informierten. Bis eben hatten sich unten auf dem Vorplatz die S21-Gegner und Sicherheitskräfte noch ein Gerangel um jeden Meter geliefert. Nun starrten alle fassungslos zum Turm hinauf, Parkschützer, Feuerwehrleute, Bauarbeiter und die Fernsehteams.

»Ich fordere die Deutsche Bahn auf, sofort die todbringenden Bagger abzuziehen und den Opfern dieses Terroranschlags auf die Artenvielfalt ein Mahnmal zu errichten!« Rüdiger deutete erneut auf die junge Frau neben sich, die für eine Geisel ungewöhnlich entspannt wirkte. Beinahe gelangweilt, aber das konnte auch der Schock sein. Es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass man von einem Kerl entführt wird, der in einem Juchtenkäferkostüm steckt. Ein Kostüm, in dem Rüdiger heftig schwitzte. Gern hätte er den Kopf mit den Fühlern abgesetzt, um sich den Schweiß abzuwischen, aber das kam nicht in Frage. Nicht jetzt, wo ihm endlich alle zuhörten und die Fotoapparate auf ihn gerichtet waren.

»Die Deutsche Bahn signalisiert Gesprächsbereitschaft bezüglich eines Mahnmals!« rief ihm ein Polizeipsychologe durch sein knarzendes Megaphon zu. Unsicherer Beifall der Demons­tranten. Ihre Form des Widerstandes beschränkte sich auf Trillerpfeifen, Sprechchöre und Plakate, weswegen Rüdiger nur noch mitleidig über sie lachen konnte. Sie hatten ihm umgekehrt verboten, weiter auf den Montagsdemos zu sprechen, nachdem er von der Bühne herab alle Fleischesser als »Lebensvernichter in dunkelster deutscher Tradition« beschimpft hatte. Es handelte sich um die einzige Rede, bei der die Gebärdendolmetscherin irgendwann die Übersetzung einstellte.

»Das Mahnmal gehört an prominente Stelle und darf nicht nur an Bussarde, Mäuse und Eichhörnchen erinnern, sondern auch an Insekten und Mikroben! An alles Leben, das hier einst blühte! Es muss leicht zu erreichen sein, gerade für Schulklassen. Warum stehen die Bagger noch da?«
»Wegen der Bagger werden noch Gespräche geführt, wie fühlen Sie sich dort oben auf dem Turm?« erkundigte sich der Polizist.
»Keine Psychospielchen!«
»Wie Sie wünschen, sollte Ihnen etwas fehlen, lassen Sie es uns wissen. Das gilt auch für Ihre Geisel, hier stehen Ärzte und Psychologen bereit, um sie beide zu unterstützen.«
Rüdiger winkte ab. »Die Bagger!«
Er schob die Frau wieder bedrohlich nahe an den Abgrund.
»Erlauben Sie mir zu fragen, wie eigentlich Ihr Name ist?«
»Nennen Sie mich einfach Bewohner des einzigen Planeten Erde, den wir haben! Was ist jetzt mit den Baggern?«
Rüdigers linkes Auge brannte vom Schweiß. Unter der Kunststoffmaske bekam er kaum Luft. Die Augenlöcher des Kostüms waren beschlagen, er hatte Hunger. Die Geisel gähnte.
Ein Hubschrauber überflog den Turm.
»Schluss damit«, schrie Rüdiger hinab, »Flugverbotszone, keine Überflüge mehr! Nur die dürfen das!« Er deutete auf zwei Störche, die den Bahnhof kreuzten.
»Ich lasse der Deutschen Bahn noch fünf Minuten Zeit, um ihre Bereitschaft zu beweisen, diesen Albtraum zu beenden. Ansonsten …«
Er schüttelte die Geisel, die daraufhin aufschrie. Eher wie aus Pflichtbewusstsein, nicht wie eine Frau in Todesangst. Rüdiger verfluchte sein Juchtenkäferkostüm an diesem erstaunlich heißen Frühlingstag.
»Darf ich Sie …«, der Psychologe verstummte, mehrere Sekunden lang fuhr ein schräger Ton über den Platz.

»Hier spricht Herbert Reuter, Gesamteinsatzleiter der Polizei«, donnerte auf einmal eine andere Stimme den Turm hinauf, sie klang nicht mehr verständnisvoll wie die zuvor. Sie klang nach Ärger.
»Verlassen Sie augenblicklich den Südturm! Wie von Ihnen gefordert, werden die Bagger vom Gelände entfernt! Kommen Sie nun herunter, damit vermeiden Sie den Einsatz von Gewalt!«
»Und das Mahnmal?«
»Kommen Sie vom Turm herunter! SOFORT!«
Im Hintergrund setzten sich die Bagger in Bewegung. In umständlichen Manövern wendeten sie auf der Baustelle und fuhren dann aus dem umzäunten Areal heraus, um irgendwo hinter dem Bahnhof zu verschwinden. An diesem Tag würden hier keine Bäume mehr entwurzelt werden, jubilierte Rüdiger innerlich. Doch da waren noch andere Empfindungen, da war vor allem das Gefühl, alles verändern zu können, alles zu bekommen. Macht! Er blickte hinab auf sein Publikum. Es schwieg angespannt, wie bei einem völlig überflüssigen Experiment mit Gabeln und Steckdosen, und hoffte, dass es nicht in einer Katastrophe endet. Der eine Fühler baumelte mittlerweile zerbrochen vor dem Gesicht herum und behinderte die ohnehin schon schwere Sicht durch die brennenden Augen zusätzlich.

»Mehr kann man nicht erwarten«, flüsterte die Geisel. Rüdiger dachte kurz nach, dann brach er die Aktion ab. Gemeinsam mit der Frau stieg er unter dem erleichterten Beifall der Zuschauer den Turm hinunter. Als er ins Freie trat, sah er nur Polizisten. Irgendwo hinter ihnen wurden Plakate und Transparente geschwenkt.
»Lassen Sie die Frau gehen!« forderte der Gesamteinsatzleiter ihn aus drei Metern Entfernung auf. Er sprach immer noch durch das Megaphon und hatte das Aussehen eines Eichenschrankes in Uniform.
»Wenn Sie die Frau jetzt loslassen, verbessert das Ihre Situation vor Gericht erheblich. Noch haben Sie nichts getan, was Ihr Leben ruiniert!«
Rüdiger hörte ihm nicht genau zu. Er flüsterte: »Geh«, und die Frau entfernte sich. Sofort rannten zwei Polizisten zu ihr und zogen sie in Sicherheit.
»Hände nach oben!«
Rüdiger hob seine Vorderbeine und wurde im gleichen Moment vom Eichenschrank zu Boden gerammt. Weitere Einsatzkräfte warfen sich auf ihn. Noch nie zuvor wurde in Stuttgart ein Juchtenkäfer auf brutalere Weise festgenommen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Gideon Böss: Die Nachhaltigen. Ein satirischer Roman, Eichborn-Verlag, Frankfurt/Main 2014, 302 Seiten, 14,99 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.