Die Krise der europäischen Autoindustrie

Die Rabattschlacht

Die Krise auf dem europäischen Automobilmarkt spitzt sich zu, zahlreiche Werke stehen vor der Schließung.

»Arbeiter stürmen Ford-Zentrale«, titelte der Kölner Express Anfang November. Wer meinte, damit hätten die militanten Krisenkämpfe auch Deutschland erreicht, sah sich getäuscht. Nicht deutsche Kollegen blockierten das Werkstor des Autobauers, zündeten Autoreifen an und drangen schließlich mit Feuerwerkskörpern auf das Gelände vor, es waren Ford-Arbeiter aus Belgien, die ihren Protest auf diese Weise vor die EuropaZentrale des US-Autokonzerns trugen. Die fleißig werkelnden Kollegen aus Köln fanden es offenbar befremdlich, wie sich die belgischen Arbeiter gegen die geplante Werkschließung in Genk wehren. Daran ändert auch nichts, dass sich wenige Tage später mehrere hundert Metaller aus Deutschland an einer Demonstration in der belgischen Industriestadt beteiligten. Für die IG Metall scheint das eher eine Pflichterfüllung gewesen zu sein. Denn dass das Werk in Genk und nicht in Köln geschlossen wird, betrachteten die deutschen Fordianer in Köln und Saarlouis »als ihre eigene Rettung«, wie es in einer Notiz auf dem Internetportal Labournet heißt.

Die Verhältnisse bei Ford sind exemplarisch für die Auswirkungen der europäischen Automobilkrise. Und diese wiederum spiegelt die europäische Wirtschaftskrise im Allgemeinen wider. Während in anderen Ländern zahlreiche Kollegen um ihre Existenz kämpfen, betrachten die deutschen Beschäftigten die Entwicklungen noch mit relativer Gelassenheit. Ford etwa möchte gleich drei Werke in Europa schließen: neben dem in Genk noch zwei in Großbritannien. An den beiden deutschen Standorten sind hingegen betriebsbedingte Kündigungen bis 2016 ausgeschlossen. Ein Resultat des von Investoren geschätzten gewerkschaftlichen Co-Managements deutscher Prägung, das schon bei der Schließung des Antwerpener Opel-Werks 2011 – anstelle des Bochumer Standorts – ein Rolle spielte.
Indessen reiht sich in der europäischen Automobilindustrie eine Hiobsbotschaft an die nächste. Seit 2007 ist der europäische Absatzmarkt um 20 Prozent geschrumpft, es wird erwartet, dass er dieses Jahr den tiefsten Stand seit 20 Jahren erreicht. Vor allem in den vergangenen Monaten sind die Absätze eingebrochen. Eine Erholung wird von vielen Beobachtern bis 2020 ausgeschlossen. Nun stehen zahlreiche Werke vor der Schließung und Zehntausende Arbeitsplätze sind gefährdet. Wenn mittlerweile auch in Deutschland erste Anzeichen von Schwäche bei den Automobilherstellern zu beobachten sind, so ist doch nicht ausgemacht, dass die Krise die Branche auch hierzulande ähnlich treffen wird (vgl. Jungle World 45/12). Dennoch wird in Deutschland keineswegs eine Wirtschaftspolitik betrieben, an der sich die vermeintlich schlecht wirtschaftenden Länder ein Beispiel nehmen sollten. Die deutsche Wirtschaft hat lediglich einen Weg gefunden, die Krise auf die Konkurrenzwirtschaften abzulenken. Die europäische Automobilkrise ist in erster Linie, wie die Wirtschaftskrise im Allgemeinen, eine systemische, die, abhängig von wirtschaftspolitischen Faktoren, unterschiedlich stark ausfällt.
Da wäre die allgemeine Konjunkturlage, von der sich die Automobilindustrie nicht abkoppeln kann. Die Austeritätspolitik wirkt sich auch auf diesen Wirtschaftszweig aus. So ist der Absatz in den südeuropäischen Ländern drastisch eingebrochen, weil dort die Kaufkraft deutlich nachgelassen hat. Dafür sorgen die steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Einkommen und der Abbau sozialer Sicherungssysteme, was sich auf eine simple Formel bringen lässt: Wer Angst um seinen Arbeitsplatz oder gar seine Existenz hat, der kauft kein neues Auto. Entsprechend sehen sich vor allem die Massenhersteller, die sich im unteren Preissegment bewegen und auf die unteren Schichten zielen – wie Peugeot, Renault und Fiat, aber auch Opel und Ford –, mit Absatzproblemen konfrontiert.

Zugleich stehen die traditionellen Kleinwagenbauer unter einem sich verstärkenden Konkurrenzdruck. Und das gleich von zwei Seiten. Sie verlieren mehr und mehr Marktanteile an Billiganbieter aus Osteuropa und Asien, wie zum Beispiel Dacia oder Hyundai. Zum anderen dringen die Premiummarken vermehrt in das Segment der kleineren Wagen vor, um ihre Absatzzahlen stabil zu halten. Auch hier machen sich die Veränderungen im europäischen Einkommensgefüge bemerkbar. Der Trend geht derzeit dahin, Modelle für die abstiegsbedrohte Mittelschicht anzubieten.
Die Folge ist ein gnadenloser Preiskampf auf dem europäischen Automobilmarkt. Denn um sich die Kunden streitig zu machen, setzen derzeit viele Hersteller auf starke Preisnachlässe. Das wirkt sich negativ auf die operativen Zahlen der Unternehmen aus. Ohnehin fährt ein Großteil von ihnen stetig Verluste ein. Schätzungen zufolge soll dies im vorigen Jahr bei 40 Prozent der europäischen Autohersteller der Fall gewesen sein. Peugeot etwa macht derzeit monatlich Verluste im dreistelligen Millionenbereich. Wie auch Opel verliert der französische Konzern mit jedem verkauften Auto Geld. »Hierin spiegelt sich eine generelle Kreditabhängigkeit des an seiner eigenen Hyperproduktivität erstickenden Spätkapitalismus, der nur unter dem Vorgriff auf zukünftige Gewinne seine Warenberge im Hier und Jetzt losschlagen kann«, schreibt Tomasz Konicz auf Telepolis.
Es stellt sich die Frage, wer den längeren Atem im Kampf um die verbliebenen Absatzpotentiale hat. Die FAZ spekuliert, dass die deutschen Hersteller »die großen Gewinner« sein könnten, und verweist auf die stetig wachsenden Marktanteile von VW. Auch die langfristige Entwicklung spricht für diese Annahme. Von 1980 bis 2011 konnte Deutschland die Produktion von 3,8 auf 6,3 Millionen Autos jährlich steigern, im gleichen Zeitraum fiel sie in Frankreich von 3,4 auf 2,3 Millionen und in Italien von 1,6 auf 0,8 Millionen. Das wirkt sich auch bei den Beschäftigtenzahlen aus: Während sie sich in Frankreich während dieses Zeitraums auf 230 000 halbierten, stiegen sie in Deutschland auf 730 000 an. Trotz der schwierigen Branchenlage, die auch deutsche Hersteller in dem Maße zu spüren bekommen, wie der Markt bereinigt wird, könnte Deutschland, das als vorzüglicher Investitionsstandort gilt, seine Anteile steigern.

Gerade die Automobilindustrie nimmt in vielen Ländern eine Schlüsselstellung ein. Es ist nicht zu erwarten, dass die Regierungen der jeweiligen Länder den Niedergang dieser wichtigen Indus­triebranche einfach hinnehmen werden. Frankreich will Peugeot mit milliardenschweren Kreditgarantien zur Seite stehen. Auch Fiat fordert in Italien bereits Steuervergünstigungen für Investoren. Und in Deutschland wird derzeit über ein Kurzarbeitergeld für Leiharbeiter der Branche diskutiert. Daher befürchten Beobachter zunehmende nationale Rivalitäten, die zu einem Subventions- und Steuersenkungswettlauf führen könnten.
Dem dürfte sich auch Deutschland nicht entziehen können, das in den vergangenen Jahren verstärkt auf Exporte nach Übersee gesetzt hat und so die innereuropäischen Absatzprobleme weitgehend umgehen konnte. Zuletzt konnten etwa VW und Daimler neue Absatzrekorde vermelden, der Preiskampf auf dem europäischen Markt drückte aber auch ihre Gewinnerwartungen. Zugleich stößt die Exportstrategie an ihre Grenzen. Zwar wächst global die Nachfrage nach Autos weiter, doch wird auch hier der Wettbewerb härter. Die Märkte in China und Brasilien etwa bieten Absatzpotentiale, aber ihre Regierungen erheben hohe Einfuhrzölle. Das zwingt die deutschen Hersteller letztlich zur Produktion an Ort und Stelle, wenn sich das Geschäft lohnen soll. Eine »Öffnung der außereuropäischen Märkte«, wie sie etwa der Betriebsratsvorsitzende von Opel Bochum, Rainer Einenkel, fordert, um dem gefährdeten Bochumer Standort Perspektiven zu verschaffen, wirkt da wenig realistisch.
Mit aller Wahrscheinlichkeit steht die europäische Automobilindustrie vor gravierenden Veränderungen. Diese können allenfalls hinausgezögert werden. Das geschah bereits zu Beginn der Krise in den Jahren 2008 und 2009, als man die Nachfrage durch Abwrackprämien und Kredite künstlich aufblähte, Kurzarbeit subventionierte und die Unternehmen an ihre Reserven gingen. Es gelang es zwar, die Zahl der Beschäftigten und den Verkauf von Neuwagen relativ zu stabilisieren. Dafür ist der Markt nun umso übersättigter, was sich im sogenannten Double Dip zeigt, einem erneuten Beginn der Rezession. Zweifellos handelt es sich um eine chronische Krise von Überproduktion und Überkapazitäten.

Entsprechend kritisieren wirtschaftsliberale Consulting-Firmen wie Alix Partners, dass bereits vor fünf Jahren die Überkapazitäten nicht abgebaut wurden. Sie verweisen auf die USA, wo zahlreiche Fabriken geschlossen wurden, um eine profitable Auslastung wiederherzustellen. Tatsächlich sind die Kapazitäten der europäischen Automobilindustrie derzeit auf 15 Millionen Autos jährlich ausgerichtet, in diesem Jahr werden aber wohl nur zwölf Millionen auf den Markt gebracht werden. Beim Autobauer Opel schätzt Wolfgang Meinig von der Forschungsstelle Automobilwirtschaft (FAW) die Überkapazitäten auf mindestens 30 Prozent, was dort zu ständigen Verlusten führen würde. Dass umfassende »Restrukturierungen« anstünden, wie es Alix Partners fordert, glaubt auch Peugeot-Chef Philippe Varin, der als erster in diesem Jahr einen großen Arbeitsplatzabbau ankündigte. Ebenso stellte Fiat-Chef Sergio Marchionne fest, dass Europa das derzeitige Produktionsvolumen und insbesondere die deutschen Überkapazitäten nicht verkrafte.
Ob die deutsche Wirtschaftspolitik in diesem Sinne wirken wird, darf bezweifelt werden. Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass ein mas­siver Produktions- und Stellenabbau in der »Leitbranche« dem deutschen »Krisenwunder« ein Ende setzen könnte, würde dies doch auch die Arbeitsplätze in anderen Wirtschaftszweigen, insbesondere in den ohnehin unter Preisdruck stehenden Zulieferbetrieben, gefährden. Was die Bundesregierung den Krisenstaaten in Südeuropa nicht zugesteht, nämlich eine defizitfinanzierte Konjunktur, mit der die inländische Kaufkraft aufrechterhalten wird, nimmt sie, wie etwa die Abwrackprämie zeigte, selbst gerne in Anspruch. Hier findet sich ein Indiz für den häufig geäußerten Vorwurf, die deutsche Wirtschaft halte sich schadlos, indem sie ihre Wettbewerber niederkonkurriere. Dass sich die sinkende Kaufkraft in den anderen Ländern letztlich auch auf die deutschen Absatzmöglichkeiten negativ auswirkt, ist dabei so lange zweitrangig, wie die sich vollziehende Marktbereinigung zu einer weiteren Konzen­tration der Automobilbranche in Deutschland führt und die hinzugewonnen Anteile auf dem enger gewordenen Markt das kompensieren.