06.09.2012
Zum 70. Geburtstag von Werner Herzog

Kolonialismus mit Caruso

Werner Herzog, der am 5. September seinen 70. Geburtstag feiert, gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films. Moritz Herbst erinnert an die ­Dreharbeiten zu »Fitzcarraldo« und die postkoloniale Attitüde des Regisseurs.

Alles andere aus dieser Zeit«, sagt Werner Herzog, »sieht aus wie die siebziger Jahre oder die frühen Achtziger, aber diese Filme wirken, als seien sie gestern gedreht.« Herzog ist offenbar zufrieden mit diesem Geschenk: Aus Anlass seines 70. Geburtstages ist eine Edition mit allen fünf Filmen, die er mit seinem Hauptdarsteller Klaus Kinski gedreht hat, auf Bluray erschienen. Für die Edition des Labels Studiocanal wurden die Originalnegative, von denen bislang alle Filmkopien gezogen wurden, neu abgetastet und in HD-Qualität digitalisiert. Mitgewirkt haben die beiden damaligen Kameramänner Thomas Mauch und Jörg Schmidt-Reitwein, die sich offensichtlich noch gut an die Brennweiten und Objektive erinnern konnten, die sie beim Dreh verwendet haben. Werner Herzog zeigt sich vom Ergebnis höchst angetan und nutzt die Gelegenheit, nochmal seine Filme und seinen Hauptdarsteller zu loben: »Kinski ist aufs Neue als der Wiedergänger des deutschen Kinos zu bestaunen.«
Klaus Kinski hatte vor der Zusammenarbeit mit Herzog eine Vielzahl von Rollen gespielt, beispielsweise war er in »Doktor Schiwago« zu sehen, aber vor allem war er dem Publikum als der schräge Vogel aus den Edgar-Wallace-Trivialkrimis bekannt. Anfang der siebziger Jahre war er sich nicht zu schade, auf der Bühne als der neue Heiland aufzutreten, wobei nur schwer zu unterscheiden war, ob er Jesus spielte oder sich selbst für den neuen Verkünder der göttlichen Heilslehre hielt. Herzog, der seit 1968 als Regisseur arbeitet, schrieb 1971 das Script für »Aguirre, der Zorn Gottes«. Schon bei der Niederschrift spielte er mit dem Gedanken, die Hauptrolle mit Kinski zu besetzen. Es wurde dann tatsächlich ihre erste Zusammenarbeit. 28 Jahre später erklärte Herzog in einem Interview im Spiegel, das Drehbuch habe er »in zweieinhalb Tagen« auf einer Busfahrt verfasst, »während ich mit meinem Fußballverein unterwegs war«. Herzog war zu diesem Zeitpunkt schon so erfolgreich, dass er nicht den Vorwurf fürchten musste, hier etwas auf die Schnelle hingehauen zu haben: »Ich habe das Drehbuch fast vollständig mit der linken Hand getippt, mit der rechten musste ich einen Betrunkenen abwehren, der sich schließlich auch über einen Teil der geschriebenen Seiten erbrach.«
Sinn für Dramaturgie hat Herzog auch heute noch, insbesondere wenn er von seinem eigenen Werk und der Zusammenarbeit mit Kinski bei ihren fünf gemeinsamen Filmen spricht: »Der schwer erklärbare Einklang zwischen uns hat uns hochgetragen. Wir haben uns gegenseitig immer nach oben getrieben. Hoch hinauf hieß aber auch immer Gefahr.« 1999 brachte Herzog den in der Edition als Bonus enthaltenen Dokumentarfilm »Mein liebster Feind« heraus, in dem es in Spielfilmlänge um die Zusammenarbeit der beiden geht. Auf dem Plakat zu dem Film »Mein liebster Feind« ist das mittlerweile berühmte Foto zu sehen, auf dem Kinski dem Regisseur mit von Zorn verzerrtem Gesicht an die Gurgel geht. Entstanden ist es am Set von »Cobra Verde«. Aber schon bei ihrem ersten gemeinsamen Film, »Aguirre, der Zorn Gottes« stritten sich die beiden gerne vor dem ganzen Team.
Der Film wurde im peruanischen Tiefland im Dschungel am Amazonas gedreht. Wo »Ein Werner-Herzog-Film« draufsteht, sind legendäre Vor-Ort-Aufnahmen drin. Ein Markenartikel, der Authentizität verspricht. Im Vorspann von »Aguirre« heißt es, der Film beruhe auf den Tagebüchern des Priesters Gaspar de Carvajal. Die spanischen Konquistadoren unter Gonzalo Pizarro hatten 1533 das Inkareich in Peru erobert, geplündert und zerstört. Pizarro ordnete 1540 eine Expedition in den unzugänglichen Dschungel von Peru an, über deren Verlauf Carjaval berichtet. Der Priester nahm allerdings nicht an dem Feldzug des historischen Lope de Aguirre teil, dem der Ausspruch »Ich bin der Zorn Gottes« zugeschrieben wird. Herzog lässt unter dem Kommando von drei Adligen, einer von ihnen Lope de Aguirre (Klaus Kinski), sowie dem Priester Gaspar de Carvajal eine kleine Truppe aufbrechen, um El Dorado für die spanische Krone in Besitz zu nehmen. Der Film beginnt bildgewaltig mit dem Abstieg des Expeditionstrupps auf dem Inkapfad von Machu Picchu, der aus dem Wolkenwald in den tropischen Regenwald hinabführt. Bald schon geht es nur noch auf einem Quellfluss des Amazonas mühsam voran. Hitze, Hochwasser, Hunger, Krankheiten und Piranhas erschweren den geplanten Eroberungsfeldzug. Der Dschungel wird als grüne Hölle inszeniert. Und dann sind da auch noch die feindlichen Eingeborenen, die sich auf das leise Töten aus dem Hinterhalt verstehen. Mit Giftpfeilen versuchen die Indios die Eroberer zu vertreiben, die Mannschaft wird nach und nach dezimiert, aber die Gier nach Gold treibt die Leute weiter. Aguirre, dessen Wahnsinn immer deutlicher wird, übernimmt das alleinige Kommando. Beim Brandschatzen eines Dorfes entdecken sie etwas gut Durchgebratenes: Oh Schreck, Menschenfresser!
Dem Film ist anzumerken, dass sein Drehbuch schnell heruntergeschrieben wurde. Er hat Längen, die Geschichte ist trivial und ohne Spannungsbögen komponiert. Darüber können auch die grandiosen Naturpanoramen nicht hinwegtäuschen. Dazu kommt die bisweilen penetrante Filmmusik, sphärische Klänge, die dem Geschehen eine höhere Bedeutung geben sollen. Dass die Handlung komplett aus der Perspektive der Konquistadoren erzählt wird, erscheint bei diesem Film vielleicht noch plausibel. Sie werden als goldgieriges, gewaltbereites, selbstzerfleischendes Racket dargestellt. Gleichwohl ergibt die effekthascherische Falschbehauptung, am Amazonas habe es menschenfressende Indianer gegeben, nur aus kolonialer Perspektive einen Sinn und sorgt so für wohliges Schauern. Längst aber ist sie als Schutzbehauptung der Eroberer entlarvt worden.
1979 begann Herzog mit den Arbeiten an seinem zweiten Spielfilm, der im peruanischen Amazonasgebiet angesiedelt ist: »Fitzcarraldo«. Zunächst wurde ohne Kinski gedreht, dann mit ihm in der Rolle des Fitzcarraldo. Die spektakulären Dreharbeiten schildert die sehenswerte Dokumentation »Die Last der Träume« von Les Blank. Auch dieser Film gehört zum Bonusmaterial der Box. Herzog erklärt bei einem Gespräch im Filmcamp, die eigentliche Lebensgeschichte von Fitzcarraldo habe ihn nicht interessiert. Wie der Kautschukbaron durch die Nutzung der gummisafthaltigen Bäume im peruanischen Amazonasgebiet reich geworden sei, das habe ihn gleichgültig gelassen. Was ihn allein interessiere, sei die Episode, wie Fitzcarraldo, um das Land zur Kautschukgewinnung zu erschließen, ein Boot über eine Landhöhe zwischen zwei Flüssen schaffen ließ, dort, wo diese am nächsten beieinander lagen.
Die kolonialistische Eroberung und ihre sozialen Verwerfungen sind nicht sein Thema, sondern der tatendurstige Macho, der um beinahe jeden Preis eine Idee umsetzen will, genauer: umsetzen lässt, denn er selbst zog das Schiff schließlich nicht über den Berg.
Herzog wollte auch hier, wie schon im Fall von »Aguirre«, alles so authentisch wie möglich gestalten, weshalb in »Fitzcarraldo« ein »wirkliches Schiff über einen wirklichen Berg geschleppt wird«, wie er in seinem während der Dreharbeiten geführten Tagebuch notiert, das er 2004 unter dem Titel »Eroberung des Nutzlosen« veröffentlicht hat. Volker Schlöndorff, Filmemacher und Freund von Herzog, besprach das Buch begeistert im Spiegel: Es enthalte »eine Fülle grotesker, tragischer und lächerlicher Anekdoten«. Eine »lächerliche Anekdote«, wie Schlöndorff hier bagatellisierend formuliert, war das damalige Geschehen aus Sicht der Bewohner des Dorfes Wawaim sicherlich nicht. Die Vorgeschichte der »Anekdote«: In der Nähe des Dorfes Wawaim im peruanischen Tiefland liegen zwei Flüsse so eng beieinander, dass Herzog dort unbedingt drehen wollte. In der Region leben Indigenisierte. Durch die Konquistadoren und die folgende kapitalistische Erschließung des Landes wurde die Bevölkerung indigenisiert und zu rückständigen Eingeborenen oder Indianern erklärt. Aber genau hier, wo Herzog drehen wollte, hatten die Menschen eine funktionierende Selbstorganisation aufgebaut. Der Rat der Aguaruna und Huambisa erklärte, »dass wir die Realisierung eines Filmes über den Kautschukunternehmer Fitzcarraldo nicht unterstützen können, der direkt verantwortlich war für den Tod vieler Indigener«. Am 5. Juli 1979 beschloss die Dorfversammlung von Wawaim nach einem Gespräch mit Vertretern des Filmteams, dass nicht auf dem Gebiet ihrer Gemeinde gedreht werden dürfe. Die Filmleute gaben sich damit nicht zufrieden und kamen wenig später in Begleitung einer Gruppe von Offizieren der Militärgarnison Chavez Valdivia zurück, »die gewaltsam in den Raum einfiel, Schüsse in die Luft feuerte«, wie Evaristo Nugkuag Ikanan, seinerzeit Präsident des Rates, erklärte. »Unter dem Eindruck der Panik unter den Anwesenden erzwang man, ein Dokument zugunsten der Filmkompanie zu unterzeichnen.«
Das Filmteam beharrte auf dem Drehort und erklärte, dass in diesem Gebiet keine »echten« edlen Wilden mehr lebten, sie also auch keine Kultur mehr zerstören könnten. Herzog berief sich dabei auf einen Artikel der Ferenczy Press über den Konflikt, in dem es heißt: »So haben wir bei unserem Besuch in Wawaim am oberen Marañón und Cenepa von einer Indio-Kultur, die die Herzog-Film-Gesellschaft angeblich zu zerstören droht, nichts gesehen. Die Eingeborenen trafen wir an in John-Travolta-Hemden und Blue Jeans«. Keine authentische Indiokultur, die schützenswert wäre, entschieden die Kulturexperten aus Deutschland. Und arbeiteten weiter an ihrem Filmprojekt und ignorierten dabei den Einspruch der lokalen Bevölkerung. Das Filmcamp wurde später von Bewohnern aus Wawaim gestürmt, als die Armee nicht mehr vor Ort war. Das Filmteam wurde in Boote gesetzt und verabschiedet.
Fortgesetzt wurde die Filmproduktion im peruanischen Camisea. Die Zustimmung und Mitarbeit der dortigen Bevölkerung wurde mit einem Versprechen erkauft: »Die Leute der Filmgesellschaft haben gesagt: Wir werden euch helfen, den Landtitel für eure Comunidad zu bekommen. Das haben sie in Camisea gesagt. Und die Ashanika haben geglaubt, dass sie den Landtitel bekommen würden. Doch es war gelogen«, erklärte später der Augenzeuge Jaime Shobote gegenüber dem Ethnologen Manfred Schäfer. »Die Deutschen haben keine Befugnis, den Landtitel zu vergeben. Sie wollten nur ihren Film drehen.« Das Gespräch hat der Ethnologe in seinem Buch »Weil wir in Wirklichkeit vergessen sind« veröffentlicht, in dem er das Verhalten der Herzog-Film-Gesellschaft scharf kritisiert. Außerdem protestierten das Lateinamerikakomitee München mit dem Theaterstück »Aguaruna und der Zorn des Werner Herzog«, die Gesellschaft für bedrohte Völker, in deren Zeitschrift Pogrom mehrere Artikel über die Dreharbeiten erschienen, und weitere Gruppen in einer heute fast vergessenen Kampagne gegen das Vorgehen der Filmproduktion von Werner Herzog.
Wer sich »Fitzcarraldo« anschaut, bekommt von diesem Konflikt nichts mit. Dafür gibt es schöne Naturbilder, spektakuläre Aufnahmen des Schiffs in den gefährlichsten Stromschnellen Perus im reißenden Fluss sowie eine einfache Handlung. Sphärische Klänge untermalen auch diesen Film Herzogs. Esoterische Folklore, die um eine Machophantasie herum inszeniert wird. Es gibt keinen realen Gegenpart zu Fitzcarraldo, als ob im Dschungel keine individuellen Persönlichkeiten lebten. Im Film sind die Indigenisierten edle Wilde, die von Fitzcarraldo mit Opernarien gezähmt werden. Inszeniert wird ein scheinbar gewaltfreier Neokolonialismus, der mit Hilfe von Caruso an sein Ziel kommt. Herzog ist konsequent: Wenn er seine Indios in traditionellem Federschmuck zeigt und sie in vorspanischen Sprachen reden lässt, gibt es keine Untertitel. Ganz so, als sei es gleichgültig, was sie sagen.

Klaus Kinski & Werner Herzog Edition. Bluray. »Aguirre, der Zorn Gottes«, »Cobra Verde«, »Fitzcarraldo«, »Nosferatu – Phantom der Nacht«, »Woyzeck«.