Das weltgrößte Mahnmal
Die Stolpersteine des Kölner Bildhauers Gunter Demnig sind der Versuch, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wach zu halten, sie im Alltag wachzurufen und dadurch die Ritualisierung des Gedenkens aufzubrechen. Auf Gehwegen erinnern eingelassene Gedenktafeln aus Messing an die Deportation und Ermordung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und politsch Andersdenkenden. Das 1995 begonnene Kunstprojekt soll nun eine digitale Entsprechung finden. »Besuchen Sie das größte Mahnmal für die Opfer des 3. Reiches«, heißt es auf der Website stolpersteine-online.com.
Auf der Internetseite soll eine Europakarte entstehen, auf der die von Gunter Demnig bisher verlegten 32 000 Stolpersteine erfasst werden. Bisher finden sich auf der Seite alle 4 075 Hamburger Stolpersteine, sukzessive sollen die Steine in weiteren deutschen Städten folgen. Verantwortlich für das Projekt zeichnet die PR-Agentur Dederichs Reinecke & Partner, unterstützt wird es von der Agentur Jung von Matt, einer der umsatzstärksten Werbeagenturen Deutschlands. »Auch Offline wird die Kampagne unterstützt. An signifikanten Stellen stehen Citylight-Poster mit Stadtplanmotiv, wo man die Steine der direkten Umgebung finden kann«, heißt es in der Projektbeschreibung. So gibt es etwa auf dem Hamburger S-Bahnhof Sternschanze ein beleuchtetes Citylight-Poster mit einer Straßenkarte, auf der Stolpersteine verzeichnet sind. Weiterführende Informationen erhält man aber nicht.
Die PR-Agentur Dederichs Reinecke & Partner schreibt: »50 Prozent aller Deutschen unter 25 wissen nicht, was der Holocaust war. Um das zu ändern, erfasst Jung von Matt auf Grundlage von Google-Maps und Google Street View alle 32 000 Stolpersteine in einer digitalen Karte. So ›stolpern‹ Jugendliche und junge Erwachsene dort, wo sie einen Großteil ihres Alltags verbringen – online.«
Online stolpern und gedenken? »Das Ziel der Kampagne ist es, möglichst viele Menschen zum Mitmachen und zum Erinnern zu bewegen«, erklärt Dörte Spengler-Ahrens, Executive Creative Director bei Jung von Matt, und laut Impressum auch einer von drei vertretungsberechtigten Geschäftsführern der Jung von Matt/Fleet GmbH.
David Wegener, Mitarbeiter bei Jung von Matt, erklärt: »Neben den rein kommerziellen Kampagnen setzt Jung von Matt immer wieder soziale Ideen um. Die Stolpersteine sind uns ins Auge gesprungen, weil wir sie für ein geniales Kunstwerk und Mahnmal halten und zugleich bemerkt haben, dass es keine Karte gibt, auf der wirklich alle Steine verzeichnet sind.«
Wegener betont, das Projekt sei mit Gunter Demnig abgesprochen: »Wir haben ihm die Website vorgestellt und seine Zustimmung bekommen.« Die Resonanz auf die Internetseite sei »sehr gut«, so Wegener: »Wir können zwar noch nicht Hunderttausende Klicks vorweisen, aber immerhin Bannerplatz im Wert von 40 000 Euro, der von Betreibern kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Viele User kommen auch über die Banner auf der Seite an, wie die knapp 450 Shares auf der Website zeigen.« Der Slogan »Sie stolpern gerade über das größte Mahnmal für die Opfer des Dritten Reiches« spreche die User an, sagt Wegener.
Der Slogan mit seinem Superlativ orientiert sich dabei deutlich an der Sprache kommerzieller Werbung. Die Agentur Jung von Matt gestaltet ansonsten Kampagnen für bekannte Marken, etwa die Deutsche Post, Sixt oder Bild. Auf dem Banner von Jung von Matt steht auch: »Besuchen Sie die Stolpersteine im Netz unter stolpersteine-online.com«. Die Agentur tritt so auf, als würde nur sie eine Plattform für die Stolpersteine im Internet schaffen. Auch in der Projektdarstellung heißt es: »Stolpersteine online bringt dieses Mahnmal in die digitale Welt.«
Tatsächlich existiert zu den Hamburger Stolpersteinen längst eine Website der Landeszentrale für politische Bildung, auf der es auch Links zu weiterführenden Informationen über die Opfer gibt. Zusätzlich gibt es seit 2008 eine Smartphone-Applikation für die Hamburger Stolpersteine, die mit ausführlichen Informationen im Internet verknüpft ist. Auf der Seite von Jung von Matt gibt es keine Hintergrundinformationen, nichts, was über die auf den realen Stolpersteinen eingravierten Daten – Geburt, Name, Verhaftung/Deportation, Angaben zum biographischen Schicksal – hinausgeht. Die Möglichkeiten des Internet werden nicht genutzt.
Das Internetprojekt wirkt wie nebenbei gemacht, oberflächlich, wenig durchdacht. Auf der Website heißt es: »Denn das Wichtigste im Kampf gegen den Faschismus ist es, die Erinnerung an das Unaussprechliche wachzuhalten.« Ein Zufall, dass hier die Rede von »Faschismus« ist, obwohl es doch ganz konkret um die Opfer des deutschen Nationalsozialismus geht? Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, die Werbetexte mal von einem Historiker gegenlesen zu lassen. Der hätte den Reklamespezialisten auch gleich ein bisschen Nachhilfe in deutscher Geschichte erteilen können. Das wäre wichtig, schließlich hat sich die Agenturgruppe Jung von Matt auf die großen nationalen Themen spezialisiert: 2005 zeichnete sie für die Erweckungskampagne »Du bist Deutschland« verantwortlich.