Drei Erzählungen

In die Röhre geguckt

Über eine sonderbare nächtliche Begegnung, ein sonderbares morgendliches Zusammentreffen am Küchentisch und ein auf sonderbare Weise verstopftes Fernsehgerät. Drei hochgradig sonderbare Erzählungen.

Besser abends nicht mehr so viel trinken
Benommen wankte ich vom Schlafzimmer durch den kleinen Flur in unsere Küche. Es war mitten in der Nacht, zu irgendeiner jener späten Stunden, die von ausnahmslos jedem als der Teil der Nacht anerkannt werden, in dem man schla­fen sollte. Draußen war es stockdunkel und die Stadt machte keine Geräusche. Natürlich gab es irgendwo da draußen noch Menschen, die sich irgendwie eine senkrechte Haltung bewahrten, indem sie sich am Tresen einer Bar festklammer­ten. Aber es gab keinen, der das nicht morgen bereuen würde, solange die Nacht noch nicht zu Ende war, blieb es für sie gestern, und heute war morgen, daran hatte das Vorrücken des Uhr­zeigers über Mitternacht kein bisschen geändert. Der einzige Grund, sich jetzt noch an einem Tresen festzuhalten, war die Hoffnung, irgend­ein tierisches Bedürfnis heute noch zu stillen, und das waren nur sehr selten Durst oder Hunger.
Es gab auch eine Menge Leute, die jetzt schon ihr Bett verlassen hatten, das ihnen wie immer be­sonders perfekt temperiert erschienen war bei diesem Weckerklingeln. Aber obwohl viele von ihnen seit Jahren jeden Tag so früh aufstanden, würden sie erst frühestens in der sechsten Stun­de des Tages von einem Morgen zu reden begin­nen. Mit dem Abend konnte man da großzügiger sein, mussten diese Menschen sein, denn um einen Abend zu erleben, mussten sie spätestens um 17 Uhr anfangen, denn wer um 14 Uhr Feierabend hatte und um 21 Uhr schlafen ging, konnte es sich nicht leisten, sich den offiziellen Beginn des Abends vom Fernsehprogramm vor­schreiben zu lassen. Ihr Abend begann früher. Aber die Zeit des Aufstehens war zu früh geblieben, würde es immer bleiben. Wenn sie sich mit Freunden darüber unterhielten, sagten sie, dass sie »mitten in der Nacht« aufstünden.
Aber im Grunde, ganz ehrlich, war es mitten in der Nacht. Ich tappte durch unsere Wohnung, weil ich auf die Toilette musste, und freute mich schon, wieder von dieser endlos erscheinenden Reise in mein Bett zurückkehren zu dürfen. Ges­tern war ein heißer Tag in einem gleißend heißen Sommer gewesen und wir hatten zur Nacht alle Fenster möglichst weit aufgerissen, um jegliche Kühle, die diese Nacht mit sich bringen könnte, möglichst herzlich und unumwunden in das Innere unserer Wohnung einzuladen, um dann im Morgengrauen die Fenster eilig zu schlie­ßen und hoffentlich die Kühle für einen Teil des Tages zu unserem Gast zu machen, bis sie von den Hitzewellen des Tages entdeckt und zum Schmelzen gebracht werden würde, die den Tag über durch die Fensterritzen unaufhörlich in unsere Wohnung zu kriechen schienen.
Durch das also weit geöffnete Küchenfenster hörte ich auf meinem Rückweg von der Toilette ein Geräusch auf dem Hof. Eine Tür öffnete sich zum Hof, und dann waren dort Schritte sowie das leise, typisch metallische Rollen eines Fahrrades mit Gangschaltung zu hören. Danach hörte ich, wie etwas ungelenk ein Schlüssel in das Schloss der Tür vom Fahrradraum geschoben wurde, das Schloss geöffnet wurde und die Tür sich mit vernehmlichem Quietschen in ihren Angeln bewegte. Dann war das dumpfe Plumpsen einer Tasche auf dem Boden zu hören, danach das Klappern vom Aufstellen des Fahrrades zwischen all den anderen Rädern in diesem Raum. Ich konnte noch nicht sagen warum, aber das Ganze faszinierte mich. Wie angewurzelt war ich in der Küche stehen geblieben.
Nachdem ich ein paar Sekunden so gestanden hatte, hörte ich Schritte im Treppenhaus, erst nur ein leises Gewittergrollen, dann ein hörbares Tapsen. Jemand kam die Treppe nach oben. Wer das wohl war? Und plötzlich fiel es mir ein, warum mich die Geräusche auf dem Hof so fasziniert hatten: Sie waren mir wohl vertraut gewe­sen, ich kannte sie ganz genau, weil ich immer genau diese Geräusche beim Nachhausekommen machte. Und wenn ich jetzt darüber nachdachte, schien es mir im Grunde genommen am wahr­scheinlichsten, dass ich jetzt nach Hause kommen würde. Die Schritte waren schon über den dritten Stock hinaus und kamen zum vierten. Jetzt gab es praktisch keine andere Möglichkeit mehr. Die Nachbarn gegenüber waren junge Alte, die ein Ehepaar bildeten und deren Kinder das Haus schon verlassen hatten. Sie schliefen um diese Zeit, denn sie brauchten all ihre Energie für ihren Beruf und die Freizeitbeschäftigung als Hausaufseher. Wenn man mal wissen wollte, wann die Treppe das letzte Mal nicht geputzt worden war oder wer sein Fahrrad so liederlich im Hausflur abgestellt hatte oder wer sich schon wieder zehn Tüten Milch in der Kaufhalle geholt hatte, musste man nur meine Nachbarn von gegenüber fragen. Und all das neben dem Beruf, da mussten sie eben auch irgendwann schlafen und das war jetzt. Meine Frau hatte ich eben noch fest schlafen gesehen und mein Sohn konnte noch nicht allein Treppen steigen. Und sonst wohnte niemand mehr im vierten. So schoss es mir durch den Kopf, noch kurz bevor es an der Wohnungstür schloss.
Und ich hatte Recht gehabt, wie ich etwas triumphierend dachte, ein grandioser Sieg der Logik: Das war natürlich ich an der Wohnungstür, der da gerade nach Hause kam und der vorher unten sein Fahrrad abgestellt hatte. »Hallo«, sagte ich zu mir. »Hallo«, antwortete ich. »Nicht so laut, die anderen schlafen.« Daraufhin zog ich mir leise die Schuhe aus und ging ins Bad, während ich noch ziemlich verwirrt in der Küche stand. Da hinten putzte ich mir gerade die Zähne, während ich hier schon leicht frierend ohne Bademantel in der Küche stand. Ich kam aus dem Bad, ging in mein Zimmer, zog mich aus und sagte zu mir »Gute Nacht«. Dann ging ich ins Schlaf­zimmer und legte mich ins Bett. Ich taperte mir wie ein dummes Hündchen hinterher und glotzte nur. Aber als ich im Bett lag und mich an meine Frau ankuschelte, da wurde es mir doch zu bunt. Ich meine, ich platzte hier einfach so rein, mitten in der Nacht, vermutlich angesoffen, denn warum hatte ich sonst nicht bemerkt, dass das Bett noch warm war, sagte zu mir »Gute Nacht« und legte mich dann hin, als sei nichts Besonderes los. Das konnte doch nicht wahr sein! »Das ist mein Bett und meine Frau, wo du da liegst«, sagte ich zu mir. »Ich weiß«, sagte ich. »Und ich bin du.«
Schon am nächsten Morgen verlangte ich eine Klärung. Einer von uns beiden war zu viel in dieser Wohnung! Ich schlug vor, meine Frau entscheiden zu lassen. Ich war einverstanden. »Du sollst es entscheiden: Wer von uns beiden muss gehen?« fragte ich sie. Sie guckte uns verständnislos an. »Das ist mir egal. Ich liebe dich.«
Ich hatte gewonnen, also blieb mir nichts anderes übrig, als meine Siebensachen zu packen und mich auf den Weg zu machen. Aber eines Tages würde ich zurückkehren, nachts auf einem Fahrrad, und meine Rache würde schrecklich sein.

Ein kurzer Augenblick
Die Szene: ein Raum. In der Mitte: ein großer viereckiger Tisch aus lackiertem Hartholz. Durch die Fenster fällt Sonnenlicht und beleuchtet das bunte Durcheinander von Zuckerdose, Salzstreuer, Servietten und Brotkorb. Im Inneren des Raums erkennen wir einen Küchenbereich, zu den Fenstern erstreckt sich ein Wohnbereich mit Sofa, Sesseln und Teppichen.
Eine amerikanische Küche, denken wir und fragen uns sofort, wie die Amerikaner wohl zu die­ser Küche sagen würden. So etwas habe ich noch nie gesehen, würden die meisten Amerikaner aus Ecuador wohl sagen. Das nur am Rande.
Eine Frau betritt die Küche. Sie liegt irgendwo bei 25 Jahren innerhalb einer statistischen Schwankungsbreite von drei Jahren. Ihre verlangsamte und vergröberte Motorik, die geschwollenen Augenlider und der wenig geordnete Zustand ihres Äußeren lassen nur zwei Schluss­folgerungen zu: Entweder sie hat eine seltene neu­rologische Erkrankung oder sie ist noch müde. Sie öffnet verschiedene Schranktüren, sucht sich mit Hilfe von viel Versuch und Irrtum die notwendigen Utensilien zusammen und kocht zum Schluss eine Kanne Kaffee. Sie gießt sich eine große Henkeltasse voll, setzt sich an den Küchen­tisch und starrt in den Dampf des heißen Getränkes.
Unterdessen betritt ein Mann die Küche. Auch er sieht frisch aufgestanden, aber nicht frisch aus. Unsicher blickt er im Raum umher, registriert endlich erfreut die Kanne, sucht sich auch eine Tasse, gießt sich ein und erblickt die Frau. Er schaut sie etwas unsicher an, vom Alter her könnten sie zueinander passen, sein Gehirn funk­tioniert noch nicht gut genug, um zwischen verschiedenen Frauen zu unterscheiden. Der Pa­vian ist schon aufgewacht, aber der Mann schläft noch. Hoffentlich wird das heute nicht wieder so ein Tag, wo der Mann in ihm den ganzen Tag nicht aufwacht oder sich nur für ein paar Stunden meldet. Aber dann geht er eben wieder schön in die Muckibude, da muss man sowieso nicht denken und sieht hinterher stark aus.
Der Moment, in dem er die Frau, oder doch zumindest das, was im Laufe des Vormittags eine Frau zu werden versprach, hätte küssen können, ist längst vorbei. Mit einem unsichtbaren Schulterzucken setzt er sich neben sie und starrt mit in den Kaffee. So sitzen sie nebeneinander. Könnte sein, dass sie modisch angezogen sind, jedenfalls nicht bequem. Irgendeiner Generation werden sie schon angehören, aber da muss sich jemand anders drum kümmern, sie sind bereit, jeden Titel zu akzeptieren.
Es kommt noch jemand, noch eine Frau. Sie sieht schon ein bisschen anders als die erste Frau aus, würde aber einen Chinesen garantiert in seinem Vorurteil bestätigen, dass alle Europäer gleich aussehen. Sie leistet den chinesischen Vorurteilen weiteren Vorschub, indem sie sich auch eine Tasse Kaffee nimmt und neben die beiden anderen setzt. Jetzt sitzen drei trübe hinter drei dampfenden Tassen und starren. Eine etwas ältere Frau kommt in die Küche.
Sie hat offensichtlich schon geduscht und auch etwas angezogen. Dass der Kaffee alle ist, scheint ihr nichts auszumachen. Mit routinierten Griffen wirft sie den alten Filter in den Mülleimer und kocht die nächste Kanne. Sie setzt sich auch an den Tisch, wird kurz misstrauisch von der bisherigen Versammlung angesehen, danach ignorieren sich wieder alle.
Zum Schluss betritt ein Kind den Raum. Es ist ein vielleicht zehnjähriges Mädchen. Wer kann das heutzutage noch so genau sagen, jedenfalls scheint es noch nicht zu pubertieren, sonst würde weniger Kleidung und mehr Tätowierung seinen Körper bedecken.
Unsicher geht es zum Küchentisch, schaut sich suchend um und setzt sich schließlich auf den freien Stuhl. Es schaut in die Runde, ohne Blickkontakt zu finden. Es setzt sich etwas zu laut auf seinem Stuhl zurecht. Es räuspert sich. Keine Reaktion. Schließlich liegt es an dem Mädchen, das Wort zu erheben:
»Macht mir einer von euch jetzt Frühstück?«
Vier Augenpaare richten sich jetzt auf sie. Doch mehr als Ratlosigkeit ist nicht auszumachen.
»Macht mir einer von euch jetzt Frühstück?« wiederholt sie ihre Frage.
Wahrscheinlich wegen der schon stattgehabten Dusche kann die etwas ältere Frau als Erste reagieren: »Wo sind denn deine Eltern?«
»Was weiß denn ich?« sagt das Mädchen. »Ist nicht einer von euch jetzt meine Eltern?«
Die Gesellschaft am Küchentisch schaut sich fragend an. Dass man mal in einer Nacht über die Stränge schlägt und Dinge tut, vor denen man immer gewarnt wurde, na gut. Aber dass man eine ganz wilde Zeit durchmacht und dann plötzlich mit einer zehnjährigen Tochter am Küchentisch aufwacht, an die man keinerlei Erinnerung hat, davon hatten sie noch nie gehört. Alle schütteln den Kopf.
»Aber das ist doch hier bei Muttitausch«, sagt das Mädchen. »Meine Mutter ist zu irgendeiner Familie ins Ruhrgebiet gegangen und eine von euch ist jetzt meine Mutter.«
Ratlos gehen die Blicke zu der etwas älteren Frau. Aber die wehrt sofort ab: »Schaut mich bloß nicht so an. Ich habe damit überhaupt nichts zu tun. Ich bin gecastet für Total Make­over. In den nächsten Wochen wird aus mir endlich wieder ein Mensch gemacht. Alles umgefummelt, alles. Nase kleiner, Ohren angelegt, Gesichtshaut gestrafft, Lippenrot aufgespritzt, Kinn aufgebaut, Haar­trans­plan­ta­tion, Krähenfüße unterspritzt, Augen gelasert, Nasenhaare verödet, Brüste drei Körb­chengrößen größer, Bauch weg, Orangenhaut weg­transplantiert. Und natürlich Stil-, Make-up-, Typ-, Job-, Partner- und Wohnberatung. Alles!« sagt sie mit einer Mischung aus Stolz und Er­schöpfung. »Kinder habe ich keine und kann ich mir auch gar nicht leisten. Die würden mich in drei Wochen nicht mehr erkennen. Ich habe die Auflage, mich danach sofort beim Landesein­wohner­meldeamt wegen neuer Personaldoku­men­te zu melden.«
Die erste junge Frau meldet sich nun zu Wort: »Ich dachte, wir wären hier im Haus. Dem Haus. Zehn Wochen Pipifax und zum Schluss bekomme ich eine Million.«
»Blödsinn«, sagt die andere. »Das ist hier die Bitch Academy. Zehn Frauen kämpfen um einen Produzenten und einen Plattenvertrag.«
»Hallo«, sagt die erste. »Hallo.« Sie zeigt auf den Mann neben sich. »Bist du Produzent?« gibt die zweite nicht auf.
»Hä, nee«, sagt der Mann verdutzt.
»Oh.«
Dieses Oh hat nun viel Zeit, sich zu entfalten, während alle verdutzt ihren eigenen Gedanken nachgehen müssen. Die ältere Frau meldet sich schließlich als erste wieder zu Wort. »Ich glaube, ich weiß, wo wir sind«, sagt sie nur.
»Und wo?«, fragt das Mädchen. Es wirkt etwas weinerlich.
»Ich will euch keine Angst machen«, sagt die Frau, »aber ich bin ja schon länger dabei. Ich habe damals angefangen, bei Zuschauersendungen im Radio anzurufen und meine Meinung zur aktuellen Wirtschaftspolitik zu sagen. Dann habe ich mich bei Ratesendungen im Fernsehen beworben, und schließlich begann die große Zeit der Realityshows. Ich habe wirklich bei allem mitgemacht. Mein Gott, ich habe damals in Talk­shows als minderjährige Tochter, die von ihrem Vater vergewaltigt wurde, angefangen und war zum Schluss die alternde Domina, die trotz Drogenabhängigkeit und der HIV-Infektion ihres Schäferhundes jetzt ein neues Leben anfangen will und Unterwäsche vorführt. Ich habe schon mehr dieser kameraverseuchten Häuser von innen gesehen als eigene Wohnungen. Und immer gab es da dieses Gerücht.«
Die Gesellschaft blickt sie gebannt an.
»Welches Gerücht«, sagt die erste jüngere Frau. Die Spannung ist unerträglich. Kaffee braucht keiner mehr an diesem Tisch. Nirgendwo hört man eine Uhr ticken.
»Das Geisterhaus«, sagt die Alte schließlich. »Das Haus nach deinem allerletzten Casting. Hier gibt es keine Kameras, aber auch keine Türen mehr. Hier leben die Untoten. Kein Kontakt mehr zum wirklichen Leben, aber auch keine einzige Sendeminute. Das Ende.«
Die zweite junge Frau bricht in Tränen aus: »Aber ich hatte doch meine ganze Karriere noch vor mir.«
Der Mann ist von seinem Stuhl aufgesprungen und läuft wie Rilkes Panther durch die Küche. »Nein!« schreit er immer wieder. »Nein!« Er schlägt mit der Faust gegen die Wände. »Das kann nicht sein!«
Das Mädchen schluchzt: »Ich war noch nicht einmal in: ›Meine Freundin hat mit meinem besten Freund geschlafen‹, und schon soll mein Leben zu Ende sein.«
Die Alte schließt sie tröstend in ihren Arm. Auch sie kann ein paar Tränen nicht unterdrücken. »Ich weiß!« sagt sie beruhigend. »Ich weiß. Alles wirkt auf einmal so sinnlos und leer.«
Plötzlich wird uns bewusst, dass niemand diese Szene eigentlich sehen sollte. Die Kamera fährt langsam zurück, und in dem Moment, als uns klar wird, dass es ja gerade keine Kamera gibt, verschwindet schlagartig das Bild.

Selbstgemachte Zettel
Nachdem Herr Olaf auf den Knopf gedrückt hatte, war nur ein kurzes Sirren zu hören, das durch die Luft flog. Die Fernsehröhre leuchtete kurz auf und danach war der Apparat vollkommen still, so sehr Herr Olaf auch auf den Knopf drückte. Er vergewisserte sich, dass der Stecker in einer Steckdose steckte und die Sicherung der Steckdose im Sicherungskasten in Ordnung war und er die Rechnung vom Elektrizitätswerk bezahlt hatte und in allen anderen Zimmern das Licht anging und seine Nachttischlampe leuchtete, wenn er sie in die Steckdose vom Fernseher steckte, wie er auch kontrollierte, ob das Antennenkabel in der richtigen Buchse steckte und nicht möglicherweise ein Adapter verrutscht war. Herr Olaf hatte gelernt, dass Adapter eine wichtige Rolle im Leben von Apparaten spielten, sie waren für Apparate das, was für Tiere die richtige Nahrung war, jedes Mal, wenn Herr Olaf in einen Apparateladen ging und einem Fachverkäufer seine Probleme mit einem der Apparate in Herrn Olafs Haushalt schilderte, jedes Mal sagte der Fachverkäufer: »Ja, haben Sie denn auch den richtigen Adap­ter?« Herr Olaf hatte daraufhin für sämtliche seiner Apparate Adapter geholt und tatsächlich die beste Erfahrung gemacht. Jetzt schnurrten und surrten alle Maschinen mit Brummtönen der Zufriedenheit und machten Herrn Olaf das Leben leichter, schneller und schöner. Bis auf den Fernsehapparat, der gerade gar nichts mehr sagte, egal wie Herr Olaf auf der Fernbedienung herumdrückte oder an den Knöpfen vorn drehte.
Zuerst suchte er noch nach verborgenen Knöpfen auf der Rückwand des Fernsehers, wurde aber auch dort nicht fündig. Zu seinem Entsetzen blickten ihn lediglich noch einige freie Buchsen an, in die Herr Olaf mit Sicherheit noch ein paar Adapter hätte stecken können. »Mist!« dachte Herr Olaf. Da er mit diesem Wort am Ende seiner Weisheit in Bezug auf Apparate angelangt war, ging er hinunter zu seinem Briefkasten. Er öffnete die kleine Blechtür und blickte auf den ansehnlichen Bodenbelag, der sich im Lauf der Zeit in seinem Briefkasten gebildet hatte. Alle paar Tage waren nämlich kleine bunte Zettel hineingeworfen worden, mit Aufdrucken wie »Fernsehkummer – Müllernummer« oder »Reparaturen von Meisterwerkstatt Abel – fachmännisch und komfortabel«. Die Zettel warben damit, dass jeden Tag, rund um die Uhr, Experten nur darauf warteten, herbeieilen zu dürfen und praktisch unentgeltlich den Fernseher, die Waschmaschine oder den Toaster reparieren würden. Herr Olaf hatte die Zettel nie aus dem Briefkasten entfernt, sondern sie immer zwischen der normalen Post auf den Boden fallen lassen, für den Fall, dass mal etwas mit einem der Apparate war. Das, dachte Herr Olaf, war jetzt der Fall. Er schaufelte mit der Hand den ansehnlichen Haufen kleiner Zettel in den Leinenbeutel, den er von oben mitgebracht hatte, schloss den Briefkasten wieder ab und ging zurück in seine Wohnung.
Hier schüttete er den Inhalt des Leinenbeutels aus, wodurch ein kleiner Haufen auf dem Boden seines Wohnzimmers entstand. Er sortierte zunächst die vielen Zettel, schmiss doppelte, dreifache und vierfache in den Mülleimer und hatte dann einen schon viel kleineren Haufen. Herr Olaf nahm sich das Telefon und rief die Müllernummer an.
»Hallo, herzlich willkommen bei Müller-Repara­tu­ren!« brüllte ihm sofort eine Frauenstimme ins Ohr, die auf einer tosenden Welle elektronisch er­zeugter Schlagzeugmusik zu schwimmen schien. »Und denken Sie daran: Fernsehkummer – Mül­lernummer!« Danach hörte Herr Olaf nur noch die laute Musik.
»Hallo?« fragte er zaghaft in den Hörer hinein. »Hallo?«
Nach einer kurzen Zeit antwortete ihm die Frau: »Zurzeit sind leider all unsere Mitarbeiter im Gespräch mit anderen Kunden. Bitte haben Sie einen Moment Geduld. Und denken Sie daran: Fernsehkummer – Müllernummer!«
Herr Olaf hörte sich danach noch eine ganze Weile die schlechte Musik an und legte dann auf. Bei Meisterwerkstatt Abel passierte genau dasselbe. Schreiende Frauenstimme, grauenhafte Musik, endloses Warten. Und bei »Tiger-Repara­turen – gefährlich gut, gefährlich günstig« und bei »Schulz-Kundendienst – jeder Hersteller, jede Adresse, jederzeit«.
Einige Telefonanrufe und etliche Stunden schlechter Musik später gab es im Wohnzimmer von Herrn Olaf keinen Haufen mehr. Eigentlich lag dort nur noch ein einziger Zettel. Der Zettel war nicht bunt und nicht auf Hochglanzpapier gedruckt. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass die Ränder noch nicht einmal sehr glatt geschnitten waren. Es war ein einfaches Stück nicht holzfreies Papier, auf das jemand in Druckbuchstaben »Fernseher kaputt? 443 2123« geschrieben hatte. Herr Olaf hatte diesen Zettel schon beim ersten Sortieren wegwerfen wollen, ihn dann aber ganz unten im Haufen gelegt. Er hätte nie gedacht, dass er bis zu diesem Zettel mit seinen Anrufen kommen würde. Nun wählte er die Nummer.
»Wenn ich nur einen Takt Musik höre, lege ich sofort auf«, beschloss Herr Olaf. Er dachte darüber nach, ob diese scheußliche Musik dadurch noch schlimmer wurde, dass man sie aus einem Telefonhörer hörte, oder ob es nicht ein Segen war, dass man sie nicht in voller Entfaltung hören musste, wer solche Musik überhaupt komponierte und warum jede Reparaturwerkstatt sie dann kaufte. »Ein einziger Takt und das war’s«, schwor er sich. Er hörte das Freizeichen. Es klingelte bei der gewählten Nummer. Klingel, klingel, klingel, ganz oft. Das war schon ungewöhnlich.
Nach einer Weile knackte es in der Leitung und eine Frauenstimme sagte: »Ja?« Eine ganz andere Frauenstimme, ohne Musik, ohne Brüllen, ohne Ausrufezeichen in der Stimme.
»Ich rufe wegen meines Fernsehers an«, sagte Herr Olaf.
»Ach so, einen Augenblick bitte«, sagte die andere Frauenstimme. Offensichtlich legte sie den Hörer ab und Herr Olaf hörte, wie sie »Siegfried!« rief. »Ja?« war eine Stimme im Hintergrund zu hören. »Ist für dich«, sagte die Frauenstimme.
»Guten Tag«, meldete sich eine Männerstimme bei Herrn Olaf.
»Guten Tag.« Herr Olaf hatte es den ganzen Tag nicht geschafft, mit einer echten Person zu telefonieren, so dass er erst einmal Mühe hatte, sein Anliegen zu formulieren. »Äh, mein Fernseher ist kaputt, äh«, sagte er.
»Wo wohnen Sie denn?« fragte der Mann.
»Ahornweg 17«, antwortete Herr Olaf.
»Gut, ich komme dann gleich vorbei«, sagte der Mann. »Ich esse jetzt nur noch schnell Abendbrot.«
»Gut«, sagte Herr Olaf perplex und legte auf.
Eine halbe Stunde später klingelte es bei ihm an der Tür. Herr Olaf öffnete und sah einen kleinen, dafür aber sehr alten Mann in einem blauen Overall und mit einer metallischen Werkzeugkiste in der linken Hand vor sich stehen.
»Guten Tag, Siegfried Demski. Wir hatten vor­hin wegen Ihres Fernsehers miteinander telefo­niert.«
»Ja, kommen Sie herein«, sagte Herr Olaf. Er hatte kurz den Gedanken, dem alten Mann mit der schweren Werkzeugkiste zu helfen, hielt es dann aber für unpassend.
»Wo steht denn das gute Stück?« fragte Herr Demski.
»Im Wohnzimmer.« Herr Olaf öffnete die Tür und Herr Demski machte sich sofort an die Arbeit. Er öffnete seinen Werkzeugkoffer, prüfte mit verschiedenen Messgeräten die Spannung, holte eine Art Hörrohr heraus und schien an der Kiste zu lauschen, schraubte mit ein paar Schraubenziehern und drehte mit einer kleinen Zange. Herr Olaf fand, dass das alles vielleicht ein wenig eigenartig aussah, aber er hatte ja gar keine Ahnung.
»Das dachte ich mir schon«, sagte Herr Demski, nachdem er seine Untersuchung abgeschlossen hatte. »Ihr Fernseher ist verstopft. Ein häufiges Problem.«
»Was ist mein Fernseher?« fragte Herr Olaf erstaunt. Er dachte, sich verhört zu haben.
»Ihr Fernseher ist verstopft«, wiederholte Herr Demski. »Es sind zu viele Leute in Ihrem Fernseher, und jetzt geht er nicht mehr.«
Herr Olaf sah Herrn Demski entsetzt an. Hätte er es doch bloß noch länger bei Müllernummer ausgehalten, dachte er. So schlimm die Musik vielleicht gewesen war, alles war doch besser, als dass ein offensichtlich verrückter alter Mann in seiner Wohnung stand. Ein alter Mann, der Leuten selbstgebastelte Zettel in die Briefkästen warf und dann mit einem blauen Overall und einem Köfferchen durch die Gegend spazierte. Wahrscheinlich unterstützte ihn seine Frau noch dabei, damit sie mal ein paar Stunden ihre Ruhe hatte. Vorsichtig probierte Herr Olaf, mit Herrn Demski zu reden.
»Aber im Fernseher sind doch keine Leute. Das sind doch nur elektronische Projektionen.«
»Jaja«, antwortete Herr Demski ungeduldig. »Das ist im Prinzip ja richtig. Aber wenn Sie mir nicht glauben, zeige ich es Ihnen auch gern.«
Er schraubte die Rückwand vom Fernseher ab, etwas, das ein richtiger Fernsehreparateur nach Meinung von Herrn Olaf schon viel früher gemacht hätte. Herr Demski entfernte zwei große gelötete Platinen mit einigem Geschick, wie Herr Olaf zugeben musste. Dann bog Herr Demski noch ein paar Drähte zur Seite, setzte eine Art Fernrohr auf die Bildröhre und flüsterte Herrn Olaf zu: »Hier, sehen Sie selbst!«
Dieser Tag war für Herrn Olaf an Überraschungen und ungewöhnlichen Wendungen nicht gerade arm gewesen, aber was er durch das Gerät von Herrn Demski erblickte, schlug dem Fass den Boden aus. In seiner Bildröhre tummelten sich Dutzende kleiner Menschen! Merkwürdig angezogene Frauen und Männer liefen dort ziellos umher und schauten sich suchend um. Herr Olaf konnte es nicht fassen.
»Was ist das?« fragte er Herrn Demski.
Der alte Mann zuckte die Schultern: »Ihr Fernseher ist verstopft, wie ich es gesagt habe.«
»Aber wie kann das sein? Im Fernseher gibt es doch nicht wirklich kleine Leute. Das weiß doch heute jedes Kind!«
»Ja früher, da dachte man das«, sagte Herr Demski. »Und im Prinzip ist das auch zutreffend. Wer fernsieht, sieht elektronische Projektionen. Aber damit diese Projektionen richtig aus der Röhre hinauskommen, müssen sie vom Zuschauer angenommen werden, wie sich jetzt herausgestellt hat. Sie müssen aus der Röhre heraus und einen Platz in den Gedanken der Zuschauer einnehmen, und wenn er noch so klein ist. Dann wird aus der elektronischen Projektion eine reale Erinnerung, die Übertragung ist vollendet. Aber wenn die Projektion nicht aufgenommen wird, dann bleibt sie in der Röhre, die nach und nach verstopft.«
Herr Olaf wusste nicht, ob er träumte oder wachte. Er schaute noch einmal in die Röhre und dann Herrn Demski an.
»Aber warum habe ich noch nie von so etwas gehört?«
»Das ist ganz einfach«, sagte Herr Demski. »Früher gab es solche Verstopfungen nicht. Da aß man noch schnell pünktlich Abendbrot, putzte sich beizeiten die Zähne, setzte sich rechtzeitig in Positur vor dem Fernseher zurecht und schaute dann zielgerichtet seine Fernsehsendung. Die Projektionen wurden geradezu aus dem Fernseher gesaugt. Bestimmt haben Sie schon mal etwas von dem Vakuum in den alten Fernsehröhren gehört?«
Herr Olaf nickte eifrig.
»Sehen Sie, das kam von den alten Fernsehgewohnheiten. Aber heute«, fuhr Herr Demski fort, »läuft der Fernseher von früh bis spät. Mal guckt einer hin, mal nicht, dann gibt es ein paar Chips, dann geht man aufs Klo, dann kommt Werbung, man schaltet zur nächsten Sendung, bei der man bis zur nächsten Werbung bleibt, der Mordfall ist noch nicht gelöst, unsere Helden haben sich noch nicht geküsst, da macht man plötzlich mitten in der Sendung aus und geht ins Bett. Da ist es klar, dass die Röhre irgendwann verstopft.«
Herr Olaf nickte sehr nachdenklich. »Das heißt, in meiner Fernsehröhre sind jetzt Kirk Douglas und Gene Hackman?« fragte er den Mechaniker.
»Wahrscheinlich nicht, so wie Sie die Namen aussprechen«, sagte Herr Demski. »In Ihrer Röhre sind die Leute, deren Namen Sie nicht wissen, deren Worte Ihnen egal waren, die Sie nur erblickt, nicht aber gesehen haben.«
»Aha«, sagte Herr Olaf, weil er nichts verstand.
»Meistens sind das irgendwelche brüllenden Richter, rhythmische Sportgymnasten, über­gewich­tige Scheidungsopfer oder kameraversessene Teenager, die nicht tanzen können, aus irgendeiner Casting-Show«, erklärte Herr Demski. »Ohnehin sind es natürlich keine echten Personen, nur deren Projektionen aus den unvollendeten Übertragungen, die sich im Lauf der Zeit angesammelt haben und nun zu kleinen Leuten geworden sind.«
»Ach so«, sagte Herr Olaf. Er begann zu verstehen. »Und was kann ich machen, damit mein Fernseher wieder funktioniert?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie kaufen sich einen neuen Fernseher oder Sie machen es auf die harte Art.«
»Was ist die harte Art?« wollte Herr Olaf wissen.
»Das möchte ich Ihnen lieber gar nicht erst sagen. Meine Kunden machen keine guten Erfahrungen damit.«
»Ich möchte es aber unbedingt wissen.«
»Na gut«, seufzte Herr Demski. »Die harte Art geht so: Wir schauen zusammen in Ihre Röhre, sehen nach, wer sich da alles so aufhält, und dann gucken Sie sich diese Leute zielgerichtet aus Ihrer Röhre heraus.«
»Das klingt doch aber einfacher«, wunderte sich Herr Olaf.
»Nach meiner Erfahrung ist es das nicht«, warnte ihn der Mechaniker. »Ich empfehle Ihnen einen neuen Fernseher.«
»So schwer kann es doch nicht sein«, sagte Herr Olaf. »Ein bisschen fernsehen, und dann funktio­niert er wieder. Einfacher geht es doch nicht.«
»Bitte, Sie sind der Kunde«, sagte Herr Demski. Er nahm sich einen Zettel und einen Stift, blickte durch sein Rohr und begann eine Liste anzufertigen, die länger und länger wurde. Herr Demski schrieb und schrieb und schrieb.
»So bitte«, sagte er, als er endlich fertig geworden war und den Fernseher wieder zusammengeschraubt hatte. »Das ist die Liste der Sendungen, die Sie gucken müssen, damit Ihr Fernseher wieder geht. Besorgen sie sich einfach eine Fernsehzeitschrift und fangen Sie an. Sie dürfen in der Zeit aber nichts anderes gucken, weil sonst die Röhre sofort wieder verstopfen könnte«, schärfte ihm Herr Demski ein. »Und wenn Werbung kommt, schauen Sie genau zu und kaufen möglichst das Produkt. Sonst funktioniert es nicht.« Er schrieb Herrn Olaf noch eine Rechnung, die nicht sehr hoch war. Dann nahm er wieder seinen Koffer und ging nach Hause. Herr Olaf schaute ihm noch aus dem Fenster hinterher, wie er in der Dunkelheit verschwand.
Am nächsten Morgen kaufte sich Herr Olaf eine Fernsehzeitschrift, nahm die Liste von Herrn Demski und suchte sich die erste Sendung, die er sehen musste.
Der Besitzer eines homosexuellen Schäferhundes wollte das Tier töten lassen, weil er Schwule hasste. Die Psychologin einer Frau hatte Analverkehr mit deren Ehemann und suchte nun selbst Hilfe. Mit Hilfe eines Gentestes wollte eine Frau feststellen lassen, welcher von fünf Männern ihr Zungenpiercing infiziert hatte. Herr Olaf schaute sich die Sendung mit Hingabe an. Er versuchte, sich in die Probleme hineinzuversetzen und mit den Menschen mitzufühlen. In der Werbepause machte er sich eine Liste von den Dingen, die er nachher einkaufen musste.
Eine Woche später rief Herr Olaf bei Herrn Demski an.
»Hier spricht Olaf, Ahornweg 17. Wissen Sie noch, wer ich bin?«
»Ich erinnere mich«, sagte der Alte. »Wie geht es Ihrem Fernseher?«
»Ich halte es nicht mehr aus!« schrie Herr Olaf fast in den Hörer. »Ich habe es versucht. Gott weiß, dass ich alles versucht habe. Aber ich halte es nicht mehr aus.«
»Was ist passiert?« fragte Herr Demski.
»Was passiert ist?« keuchte Herr Olaf. »Pascal hat das Casting nicht geschafft, weil er beim Dance-Act versagt hat, Jeanine hat eine neue Single auf dem Markt, hat aber beim Modeln für den neuen Playdude sehr viel Spaß gehabt, sodass sie jetzt eine Karriere als Schauspielerin in Betracht zieht, der Hansi hat mit den Almdudlern eine neue Blasmusik eingespielt und der Generalsekretär will drastische Schritte zur Festigung der moralischen Lage der Bevölkerung einleiten. Ich habe zwei Lebensversicherungen, drei Zeitungsabonnements, zwei verschiedene Kapseln gegen Prostatahypertrophie und eine gegen Beckenbodenschwäche. Ich kann nicht mehr!«
»Ich habe Ihnen gleich empfohlen, sich einen neuen Fernseher zu kaufen«, gab Herr Demski zu bedenken.
»Sie haben ja so Recht gehabt«, weinte Herr Olaf. »Ich hätte diesen Irrsinn nie versuchen dürfen. Aber um Himmels Willen, wie bekomme ich diese nutzlosen Leute wieder aus mir heraus?«
»Ganz ruhig. Haben Sie die Liste noch?«
»Ja natürlich.«
»Dann machen Sie jetzt genau das Umgekehrte. Schalten Sie die Sendungen ein, aber schauen Sie gar nicht hin. Sie können auch eine Zeitschaltuhr einfach den Fernseher automatisch ein- und ausschalten lassen, während Sie spazieren gehen. Das ist sogar das Sicherste. Sie werden sehen, wie es Ihnen nach und nach wieder besser geht.«
»Danke, das werde ich sofort probieren«, sagte Herr Olaf.
»Und wenn Sie sich einen neuen Fernseher kaufen, dann nehmen Sie bloß keinen Flach­bild­schirm«, empfahl Herr Demski. »Da ist so wenig Platz, die verstopfen in Nullkommanichts.«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt noch einen Fernseher haben will«, sagte Herr Olaf.
»Das ist natürlich noch besser.«
Herr Olaf tat, was ihm der alte Mann geraten hatte. Der Fernseher lief Tag und Nacht, ohne dass Herr Olaf auch nur hinsah. Er las ein Buch, nähte Knöpfe an oder probierte neue Rezepte für Kuchenteig. Bevor er ins Bett ging, kreuzte er auf seiner Liste ab, welche Sendungen er wieder abgeschafft hatte. Und tatsächlich, es ging ihm jeden Tag besser. Er erinnerte sich kaum noch, warum er sich so über diese blödsinnigen Leute im Fernsehen aufgeregt hatte. Als er bei der letzten Sendung, die noch ausstand, gerade den Kragen von seinem Lieblingshemd fertig gebügelt hatte, ging auf einmal wieder die Röhre mit genau dem sirrenden Geräusch aus, das Herr Olaf schon kannte. Die Stille, diese paradiesische Stille, war einfach unbeschreiblich schön! Glücklich und zufrieden öffnete er eine Flasche Rotwein. Zur Feier des Tages wollte er Herrn Demski anrufen, um sich bei ihm zu bedanken. Doch als er seine Nummer gewählt hatte, hörte er nur: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«
Herr Olaf kontrollierte die Nummer noch zwei­mal, er schaute sicherheitshalber sogar auf dem alten Zettel aus seinem Briefkasten nach, doch es blieb dabei. Er konnte Herrn Demski nicht mehr erreichen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus: Jakob Hein: Der Alltag der Superhelden. Edition Tiamat, Berlin 2008, 202 Seiten, 16 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.