Sag mir, wer du bist

Wiliam Boyds Spionageroman »Ruhelos« erhellt ein unterbelichtetes Kapitel aus der Geschichte des antifaschistischen Kampfes. Von Kerstin Eschrich

Geschichten von Spionen, Agenten und Schauspie­lern eignen sich hervorragend als Tableau für die aufregende Frage: »Wer bist du eigentlich wirk­lich?«

In William Boyds neuem Roman »Ruhelos« wird die Protagonistin von ihrer Mutter mit dem Bekenntnis überrascht, sie sei früher eine britische Spionin gewesen. Zuvor verunsicherte Sally Gilmartin ihre Tochter Ruth bereits mit mysteriösen Spielchen: Mal sitzt sie plötzlich im Rollstuhl, mal beobachtet sie misstrauisch den nahe gelegenen Wald mit dem Fernglas, mal lassen ihre Verhaltensweisen auf Hypochondrie oder zunehmende Verwirrtheit schließen.

Schließlich – im Sommer 1976, als England unter einer nicht enden wollenden Hitzewelle ächzt und stöhnt – drückt sie ihrer Tochter auch noch Aufzeichnungen über ihr Leben als Spio­nin in die Hand.

Als russische Migrantin Eva Delektorskaya wurde sie nach dem Tod ihres Bruders in Paris 1939 vom britischen Geheimdienst angeworben, wechselte mehrmals ihren Namen und erfüllte ihre Auf­gabe zur vollen Zufriedenheit ihrer Auftraggeber. Sie war quasi eine Vorzeigespionin der British Security Coordination (BSC).

Was wir und Ruth da über ihr Leben unter Spionen zu Lesen bekommen – die betreffenden Kapitel sind mit den Worten »Die Geschichte der Eva Delektorskaja« überschrieben –, ist fesselnd und nahezu unglaublich.

Dabei hat Boyd die Geschichte nicht erfunden. Viele Namen und Daten, die in diesen Kapiteln auftauchen, basieren auf historischen Fakten. Der Spionagering, eine Unterabteilung des British Se­cret Service, hatte den Auftrag, die USA dazu zu bewegen, den verbündeten Briten gegen die Natio­nalsozialisten zu Hilfe zu eilen und Deutsch­land den Krieg zu erklären.

Viele Menschen in den USA, damaligen Umfragen zufolge angeblich 80 Prozent der Bevölkerung, hatten kein Interesse daran, dass sich die USA in den Krieg einmischen. Isolationisten, Antisemiten, Faschisten gaben den Ton an, meist organisiert im America First Committee. Ähnlich hat es schon Philip Roth in seinem großartigen Roman »Verschwörung gegen Amerika« beschrieben.

Der Spionagering verbreitete dagegen in den Jahren 1940/41 mit Hilfe eines Radiosenders und einer Presseagentur gezielte und sehr professionell erarbeitete Falsch­meldungen, die die Bedrohung der USA durch die Deutschen verdeutlichen und die Amerikaner von der patriotischen Pflicht des antifaschistischen Kampfes über­zeugen sollten.

In den siebziger Jahren erschienen einige – wenig beachtete – Bücher über dieses Kapitel britischer Geschichte, unter anderem vom Leiter der Spionageeinheit, William Stephenson.

Wie erfolgreich die Spionagebteilung mit ihrer antifaschistischen Arbeit war, ist nicht zu ermessen, aber es ist interessant zu sehen, dass deutsche Nazis im Internet immer noch über das Vorgehen der britischen Spione vor Wut schäumen.

Doch am 7. Dezember 1941 wurden die »Realitätsfälscher« von der Wirklichkeit eingeholt. Die Japaner griffen an diesem Tag Pearl Harbour an, die USA traten in den Krieg ein.

Boyd, der 1952 in Ghana geboren wurde und seit Anfang der siebziger Jahre in Schottland und England lebt, greift die Fakten auf und ver­webt sie mit der fiktiven Geschichte um Eva Delektorskaya.

Eine Vorgehensweise, die der Autor bereits in einigen seiner Romane praktiziert hat, und zwar teilweise so gekonnt, dass die Leser zwischen Wahrheit und Fiktion nicht eindeutig zu unterscheiden vermochten. Wie etwa in seinem Buch »Die neuen Bekenntnisse« oder dem Tagebuchroman »Eines Menschen Herz«, der die Lebensgeschichte des Schriftstellers Logan Mountstuart erzählt.

Dazu passt eine Anekdote. So soll Boyd zusammen mit David Bowie Ende der neunziger Jahre in New York zu einer Party geladen haben, die angeblich eine seiner Romanfiguren, Nan Tate, veranstalte. Es seien Leute erschienen, die das Ganze ernst nahmen und tatsäch­lich glaubten, sie würden abends bei Nan Tate feiern.

Eine schöne Geschichte, die nebenbei deutlich macht, warum sich Boyd in seinem neues­ten Buch mit Spionen beschäftigt. Denn wem sonst gelingt scheinbar mühelos der stete Wech­sel der Welten von Realität und Fiktion, wenn nicht ihnen?

Dass im Roman die Reaktion der Tochter auf die Ausführungen der Mutter – gelinde ausgedrückt – sehr zurückhaltend ausfällt, erscheint streckenweise unrealistisch. Vor allem angesichts der Tatsache, dass ihr Sally eröffnet, ihr ganzes Leben basiere auf einer Lüge.

Das Misstrauen der Mutter färbt auf die Tochter ab. Nach dem Geständnis ihrer Mutter beginnt sie, Personen in ihrer Umgebung argwöhnisch zu beobachten, was in ihrer Situation nur zu verständlich ist. Ihre deutschen Besucher verdächtigt sie der RAF-Sympathisantenschaft, ein iranischer Verehrer gilt ihr kurzzeitig als Agent des Schahs.

Boyd gelingt es meisterlich, die Leserinnen und Leser ebenfalls an der geschilderten Realität zweifeln zu lassen. Fallen, Lügen und Intrigen werden vermutet, was ja bekanntlich die besten Voraussetzungen für einen gelungenen Spionageroman sind. Dass Ruth erkennen muss, das sie von ihrer Mutter manipuliert – oder wie es im Agentenjargon heißt: geführt – wurde, überrascht mit dem nötigen Misstrauen ausgestattete Krimileserinnen und -leser dagegen nur wenig. Wie im richtigen Leben auch bestätigen sich schon bald viele dunkle Ahnungen.

Ihr Führungsoffizier Lucas Romer impft Eva die oberste Maxime aller Spione ein: »Die Regel der Regeln. Trauen Sie keinem, nicht mal dem Menschen, dem Sie am allermeisten trauen würden. Der Verdacht, das Misstrauen muss immer bleiben.«

Sie verliebt sich in ihren Offizier und wird seine Geliebte, vergisst aber nie seine Maxime. Das rettet ihr das Leben und verpfuscht es zugleich. Eva wird nie mehr in Ruhe leben können, mit zunehmendem Alter fühlt sie sich immer stärker verfolgt. Am Ende bleibt die – möglicherweise unheimliche, aber natürlich nicht neue, nur stets verdrängte – Erkenntnis, dass es der Tod ist, vor dem wir uns nicht verstecken können.

William Boyd: Ruhelos. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Berlin Verlag, Berlin 2007. 368 S., 22 Euro