Ein Winter wie in alten Zeiten

Vor der Wende waren Ofenheizungen vor allem im Ostteil Berlins der übliche Standard, heute heizt nur noch eine Minderheit mit Kohle. von sebastian krüger

Früher war klar, warum der Winterhimmel über Berlin so grau war: Es lag an den Hunderttausenden von Kohleöfen, mit denen die Berliner beidseits der Mauer ihre eigenen vier Wände auf Zimmertemperatur erwärmten. Der schweflige Qualm aus den Schornsteinen sorgte dafür, dass kein Sonnenstrahl durchkam. Heute bullert es nur noch in einem Bruchteil der vielen Öfen von damals, und die Luft ist besser geworden – doch die Sonne scheint im Winter trotzdem nur selten.

Einer der gemütlichsten Fluchtorte vor dem Hauptstadtgrau ist das Kino »Intimes«. Das klei­ne Eckkino im Szene-Bezirk Friedrichshain macht seinem heimeligen Namen alle Ehre. Nicht nur, dass der Filmvorführer gleichzeitig Kartenverkäufer und -abreißer ist. Er bringt einem zwischen Werbung und Film auch gern eine dampfende Tasse Tee an den Platz. Das Beste aber ist der große Kachelofen, der mitten im Vorführraum steht. Er wird zwar nicht mehr eingeheizt, doch weil er so schön ist, durfte er bleiben.

Thomas Kolbe hat gleich zwei Kachelöfen in seiner Friedrichshainer Altbauwohnung. Die Wohnung des 38jährigen ist 62 Quadratmeter groß, die Miete beträgt 260 Euro. 150 Euro kommen pro Jahr für Kohlen hinzu. »Ich nehme Lausitzer Rekord. Aber nur Bruch, das ist billiger«, sagt er, der sich mit Regiearbeiten für ein Freies Theater und Lehraufträgen an der Volkshochschule über Wasser hält. Doch der Kostenaspekt ist nicht alles. Während andere Yoga machen oder meditieren, hockt er sich vors offene Ofenloch und be­obach­tet, wie sich das Feuer durch die kunstvoll aufgeschichteten Briketts frisst: erst das Papier, dann das Holz, schließlich die Kohlen. »Bis die durch­gebrannt sind, dauert es ungefähr 20, 25 Minuten. Am schönsten aber ist es, wenn ich abends aus der Dusche komme und mich ganz nass nah an den Ofen stelle – zu spüren, wie die heißen Kacheln die Wassertropfen von meiner Haut saugen ...« Thomas Kolbe kommt richtig ins Schwärmen.

Das Bestreben, Brennmaterial möglichst optimal einzusetzen, treibt die Menschheit schon seit Jahrhunderten um. So kamen in den Alpenländern be­reits im ausgehenden Mittelalter kachelofenartige Gebilde zum Einsatz. In Amerika konstruierte 1742 Benjamin Franklin, Erfinder des Blitzableiters und Mitbegründer der USA, einen »holzsparenden Ofen«. Und in Europa entwarf 1786 Johann Wolfgang von Goethe ein Ding namens »Ballonofen«: Über einem Kanonenofen wölbt sich eine riesige Kupferblase, in der sich der heiße Qualm noch eine Weile aufhält, bevor er durch den Schornstein entfleucht. Den Durchbruch in der Angelegenheit jedoch verdanken wir niemand anderem als Friedrich dem Großen, der 1763 einen Wettbewerb zur Konstruktion eines »Stubenofens«, der möglichst wenig »Holz verzehret«, auslobte.

Gewinner des Preisausschreibens war Johann Paul Baumer (1725 bis 1771), ein Erfurter Medizinprofessor. Seine Erfindung, später »Berliner Kachelofen« ge­nannt, zeichnet sich durch regulierbare Luft­zufuhr, Rost und Rauchgasklappe aus. Von dem ausgeklügelten Prinzip, nach dem die Wärme aus dem kleinen, ummauerten Feuer­raum durch den gesamten Ofenkörper strömt und dabei die als Wärmespeicher die­nenden Schamottsteine aufheizt, wird bis heute Gebrauch gemacht. Die Schamottsteine leiten die Wärme an die Kacheln weiter, und diese strahlen die Wärme über viele Stunden hinweg gleichmäßig ab.

Zur Wendezeit gab es in Berlin noch fast eine halbe Million Wohnungen mit Ofenheizung. Dass es hier noch so viele davon gab, während überall sonst Zentralheizungen der Standard waren, hatte mit der Insellage der geteilten Stadt zu tun. Für Vermieter im Westteil war es nicht lukrativ, in ihre Häuser zu investieren, im Osten blieb die Modernisierung von Altbauten die Aus­nahme. In den Neunzigern änderte sich das. 2005 gab es in Berlin nur noch 60 000 Woh­nungen mit Ofenheizung – das sind weniger als fünf Prozent des gesamten Woh-nungs­bestandes der Stadt. Zu finden sind sie vor allem in den dicht bebauten Kiezen von Friedrichshain, Kreuzberg, Wedding und Neukölln.

Entsprechend sank auch der Kohlebedarf der Großstadt. Wurden 1991 noch rund 1,8 Mil­lionen Tonnen Braunkohlenbriketts verbrannt, war diese Menge 2004 auf 25 000 Tonnen geschrumpft. Gleichzeitig verbesserte sich die Luftqualität. 1970 enthielt ein Kubikmeter Berliner Luft durchschnittlich 160 Mikrogramm Schwefeldioxid. Ende der neunziger Jahre waren es noch 20 Mikro­gramm. Auch die Belastung durch Kohlenmonoxid sowie Schwebstaub ging zurück. Wird heutzutage in der Nachbarschaft ein Ofen angeheizt, steigt einem der charakteristische Geruch sofort in die Nase. Kaum vorstellbar, was für ein beißender Gestank früher die Stadt im Winter erfüllt haben muss, wenn morgens von allen Dächern gleichzeitig der Rauch aufstieg, im Laufe des Tages als schweflige Dunstsuppe wieder niedersank, sich in Menschenlungen und Hausfassaden fraß und immer nur in Westberlin Smog­alarm auslöste.

Daran kann sich die 83jährige Hedwig Kulow noch gut erinnern. »Doch was sollten wir machen? Etwa die Bude ungeheizt lassen? Nö!« Die muntere Rentnerin wohnt seit über 50 Jah­ren im Erdgeschoss eines Charlottenburger Hinterhofs. Sonne schien noch nie durch ihre Fenster. Im Flur ist es feucht und klamm, doch im Wohnzimmer ist es wohlig warm. Dafür sorgt der beigefarbene Klotz in der Ecke. Gleich daneben steht ein bequemer Ohrensessel, direkt gegenüber der Fernseher. »Das Heizen macht mir gar nichts aus«, sagt Hedwig Kulow, »alle bedauern mich, aber wer mich besuchen kommt, lehnt sich als erstes an die warmen Ka­cheln. Das ist eine Wärme, so sauber, so frisch! Woanders ist mir die Luft viel zu trocken.« Auf halber Höhe hat ihr Ofen eine Öffnung, dort wird die Kaffeekanne zum Warmhalten abgestellt.

Weil sie Parterre wohnt, braucht sie nur ein paar Stufen hinabzusteigen, um zu ihrem Kohlenvorrat im Keller zu gelangen. Wie immer kauft sie die Kohlen schon im August, obwohl der Unterschied zwischen den Sommer- und Winterpreisen minimal geworden ist. Hedwig Kulow schwört auf Union-Briketts aus dem Ruhr­gebiet, aber die seien auch nicht mehr das, was sie mal waren. Glut ist am nächsten Morgen jedenfalls keine mehr da! Morgens muss sich die Rentnerin entscheiden, wie warm sie es am Abend haben will. »An einem Tag um null Grad stecke ich drei Briketts rein. Wird es kälter, nehme ich vier.« Wenn die Kohlen durchgebrannt sind und glühen, schraubt sie das Ofenloch zu – zwei, drei Stunden später wird es warm im Wohnzimmer. Die übrige Wohnung bleibt kalt, aber das stört sie nicht, schließlich war das schon immer so.

Dass Menschen, die mit Öfen leben, ein anderes Wärmebedürfnis entwickelt haben, weiß auch Andreas Müller, Marketing-Chef beim Kamin­ofen-Hersteller Hark. »In einer ofengeheiz­ten Wohnung herrschen niemals in allen Räumen gleichzeitig 20 Grad. Man heizt einfach weniger als die Leute, die nur das Thermostat aufdrehen müssen. Und man bezahlt auch weniger.« Angesichts der steigenden Energiekosten denken landauf und landab viele Menschen über die Rück­kehr zu festen Brennstoffen nach. Wer vor Jahren auf Öl- oder Gasbetrieb umrüstete und aus sentimentalen Gründen den Ofen stehen ließ, nimmt ihn wieder in Betrieb. Andere installieren einen Kamin in der Stube und bestellen sich einen Klafter Buche. »Die Nachfrage nach Öfen aller Art ist drastisch gestiegen«, sagt Müller.

Der Industrieverband Haus-, Heiz- und Küchentechnik schätzt, dass im Jahr 2005 rund 350 000 Kaminöfen sowie Kamin- und Kachelofeneinsätze verkauft wurden, rund 25 Prozent mehr als 2004 und sogar fast doppelt so viele wie 2001. Zum Vergleich: Jähr­lich werden 600 000 bis 800 000 Zentralheizungen in Deutschland verkauft. Die rund 50 größeren deutschen Ofen­hersteller freuen sich über den Boom, die rund 10 000 Beschäftigten in der Industrie müssen sich um ihre Jobs der­zeit kaum sorgen. Viele Firmen würden gerne mehr produzieren, doch ihre Kapazitäten sind ausgereizt.

Die Masse der Berliner lebt mittlerweile in sanierten Mietskasernen, in Wohnungen, die per Fernwärme oder Zentralheizung versorgt werden. »Für sie ist die Ofenära unwiederbringlich vorbei – ein Segen«, meint Tanja ­Loitz, Geschäftsführerin von »CO2online«, einer gemeinnützigen Energieberatungsgesellschaft, die mit dem Ber­liner Mieterverein zusammenarbeitet. Sie berücksichtigt in ihren Beispielrechnungen neben den Heizkosten, die für den einzelnen Haushalt anfallen, vor allem die CO2-Emission der jeweiligen Heizungsanlage. »Und da schneidet Kohle im Vergleich zu Erdgas und Heizöl am schlechtesten ab«, sagt sie, »auch wenn man den geringeren Verbrauch der Kohleheizer in die Rechnung einbezieht: Heizen mit Kohle ist für die Umwelt am schäd­lichsten.«

Als Beispiel wählt sie eine 70 Quadratmeter große Altbauwohnung, für die pro Jahr rund 180 Kilowattstunden Heizleistung nötig sind, um sie ordentlich zu beheizen. »Verwendet man Erdgas, fallen 3 190 kg CO2 an, bei Heizöl sind es 4 700 kg CO2, und bei Kohle sogar 4 850 kg CO2!« Eine Alternative sind moderne Öfen, die man mit Pellets oder Holzbriketts beheizt, ihre Emissionswerte sind tolera­bel. Aber damit der alte Berliner Kohle­kachelofen dieses moderne Brennmaterial optimal verwerten kann, muss er kostspielig umgerüstet werden. »Es bleibt dabei«, sagt Tanja Loitz, »Ofenheizungen sind ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert.«

Doch noch gibt es, zumindest in Berlin, Zigtausende Kohleofenwohnungen. Sie sichern, solange es sie gibt, Männern wie Andreas Schiller ein schmales Auskommen: Sinken die Temperaturen, steigt für ihn der Stress. Der 54jährige Kraftfahrer beliefert im Auftrag eines Großhändlers Kunden in der ganzen Stadt. »Weil alle sparen müssen, bestellen die meis­ten Leute erst dann, wenn sie frieren. Also jetzt!« Der Kohlekutscher trägt eine schmutzig-blaue Latzhose und einen grünen Rolli. Routiniert rangiert er seinen kleinen grünen Laster durch die Nebenstraßen von Neukölln. »Geladen hab’ ick tschechi­sche Brötchen, lose«, ruft er über den Motorlärm hinweg. Endlich hat er die Adresse des nächsten Kunden gefunden. Schiller klettert auf die Ladefläche und schaufelt die Kohle in den Tragekorb, der auf einer mitgeführten Dezimalwaage steht.

Derweil schlurft der Kunde herbei, ein vierschrötiger Kettenraucher aus dem Hinterhaus. Aus seiner halboffenen Trainingsjacke sprießt graues Brusthaar. Er prüft jedesmal, ob auch ja die Waage stimmt. »Ick lass’ mir nich’ behumsen!« raunt er. Wortlos huckt sich Schiller den vollen Korb mit exakt 50 Kilo aufs Kreuz und keucht zur Kel­lertreppe. Der Gang unterm Haus ist niedrig, eng und schummrig – nichts für Klaustrophobiker. Erst zum Schluss macht Schiller den Mund wieder auf: »So, Meister: Kohle für die Kohle!« In Neukölln wird noch bar bezahlt. Aus der Tiefe seiner Trainingshose kramt der Kunde ein paar zerknüllte Geldscheine hervor. »Solange es in Berlin Wohnungen mit Ofenheizungen gibt, habe ich wenigstens im Winter Arbeit.« Im Sommer meldet sich Schiller arbeitslos.

Ist der letzte Berliner Kohleofen dereinst wegmodernisiert, bleibt dem Berliner vielleicht nur noch das Kino »Intimes«, falls das nicht unterdessen einem Multiplex weichen musste. Der Kachelofen verströmt allein durch seine Anwesenheit wohlige Wärme, und spätestens zur Spätvorstellung ist die Luft im Vorführsaal dann auch so richtig mollig warm.