»Vom Feeling her ist es Altersmilde«

Warum das neue Zitronen-Album »Lenin« heißt und Hartz-VI-Demos beklemmend sind. schorsch kamerun, ted gaier und mense reents sprechen über ihre Platte, das ewige Postpunk-Gefühl und den richtigen Gang-Of-Four-Zorn

Euer neues Album heißt »Lenin«. Wie kommt man dazu, einen so stark besetzten, mit so viel Symbolik befrachteten Namen für ein Pop­album zu verwenden?

Ted Gaier: Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, einfach so ein Album »Lenin« zu nennen. Das Stück gab es bereits vor dem Albumtitel. In der Band fanden den Titel alle gut, außer Schorsch. Erstmal muss man das gar nicht erklären, das ist ja ein recht einprägsamer Name; der sieht auch geschrieben ganz schön aus, in Lettern. Dass er uns gefallen hat, hat auch damit zu tun, dass im Moment Platten »Buchstaben über der Stadt« oder »Verbotene Früchte« heißen. Da wollten wir ein Zeichen setzen.

Auf dem letzten Album hatten wir mit »Schafott zum Fahrstuhl« auch schon einen mit vielen Notausgängen belegten Titel, in dem sich alles oder nichts drin lesen lässt. »Lenin« als Figur ist zwar auch ambivalent, hat aber dann doch so eine komische Klarheit. Lenin steht für das Soziale, für die Frage der Macht und für die Frage der Klassen. Das gefällt mir daran. Jochen Distelmeyer meinte dazu, es klingt wie der Name eines großen Dampfers, wie MS Lenin. Es ist auch ganz lustig, weil außer uns niemand so was machen würde, abgesehen vielleicht von Robert Wyatt oder Jean-Jacques Burnel von den Stranglers.

Es gibt auch in der Theorie ein Lenin-Revival, angeführt von Slavoj Zizek.

Ted Gaier: Der scheint mir für den Popkontext relativ irrelevant zu sein, weil ihn niemand mitbekommen hat. Aber klar, die Theorie der Macht, die Legitimität von Macht ist natürlich eine Frage, die immer aktuell ist. Ich glaube, dass es auch rechte Theoretiker gibt, die viel von Lenin gelernt haben. Womöglich sogar Leute wie Berlusconi. Gerade von ihm weiß man doch, dass seine Berater alle aus der Linken kommen. Da ist ein bisschen Marxismus-Leninismus mit in der Zauberformel dabei.

Schorsch Kamerun: Interessant an dem Plattentitel ist, dass man so ein unverrückbares Monument hat, und trotzdem ist es zum Glück nicht so ganz klar, welche Richtung das anstrebt. Ich hatte zunächst so meine Befürchtungen, dass man »Lenin« als popkulturellen Begriff mitverwursten könnte. Das scheint aber insofern nicht zu passieren, als die Leute ganz unterschiedlich darauf reagieren. Einerseits ist es ein Dampfer, ein Koloss, andererseits gibt es aber als Plattentitel dann doch unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Von daher finde ich ihn ganz gut. Auf dem Cover gibt es noch mehr zu sehen als nur den Schriftzug »Lenin«, nämlich diesen Punker mit dem Schriftzug »Fuck the Police« auf der Jacke. Da mischt sich eine ganze Menge, das funktioniert gut.

Der Spruch auf der Lederjacke ist schon recht ergraut.

Ted Gaier: Das Bild heißt im Original ja auch »A lonely old slogan«. Das ist dieselbe Melancholie, die auch bei der historischen Figur Lenin und in unserem Stück »Lenin« mitschwingt.

Der Song »Lenin« hat zwei Erzählebenen, einmal geht jemand am Mausoleum vorbei, und dann kommen Parolen ins Spiel, Losungen.

Ted Gaier: Die Slogans ergeben sozusagen ein Gedicht. Das Stück basiert tatsächlich auf einem Besuch von mir und meiner Frau Melissa am Lenin-Mausoleum in Moskau. Ich hatte hinterher das Gefühl, einer Art von spirituellem Erlebnis beigewohnt zu haben, obwohl man nicht genau sagen könnte, wieso sich das spirituell angefühlt hat oder wodurch. Aber es war irgendwie anrührend. Ich stehe vor dem Grab, während mir 1 000 Sachen durch den Kopf gehen. Der Text vermischt Eindrücke dieses Besuchs mit Assoziationen zur Figur Lenins.

Im Inneren des Mausoleums hatte ich zuerst den Eindruck einer seltsamen Mischung aus Tempel und Geisterbahn. Das vermischte sich mit den Erinnerungen, womit dieser Mann, der aussieht wie ein Pharao, assoziiert wird. »Nicht stehenbleiben!« Das sagen die Soldaten, die da Wache schieben und die Besucher durchschleusen. Man wandelt durch sehr enge Gänge, wenn man in der Leichenhalle ist, das ist gruselig, man darf auch nicht direkt an den Sarg, son­dern muss immer schön daran vorbeigehen. »Nicht stehenbleiben!« war auch die Losung der Revolution. »Schlaft schneller, Genossen!«, war auch so eine Parole, als sie in den zwanziger Jahren zu wenig Betten hatten, die sich in meine Erinnerung eingebrannt hat.

Dann gibt es in dem Text eine Reflexionsebene. Kann man Unterdrückung abschaffen, indem man selbst unterdrückt? Kann man Imperialismus abschaffen, wenn man selbst Macht hat? Das sind so zwangsläufige Fragen.

Natürlich schwingt nach wie vor ein Gefühl der Bewunderung mit. Oder ist es auch Hassliebe? Seltsame Gefühle jedenfalls. Das Ganze war eigentlich als Schlaflied gedacht, wenn man Lenin nämlich so aufgebahrt sieht, denkt man nicht, dass da auch nur noch ein Fünkchen Leben in ihm stecken könnte.

Wenn man das Mausoleum wieder verlässt, stellen sich absurde Gefühle ein, vergleichbar mit dem »Häh?« das einem nach einer gut gelesenen Messe in einer katholischen Kirche in Neapel entfährt. Danach kommt man direkt raus zur Kremlmauer und sieht die Gräber aller okayen Leute, die beseitigt wurden, das Grab Tschernenkos zum Beispiel, dann aber eben auch das von Stalin – dass die den noch nicht abgeräumt haben! Der zweitgrößte Verbrecher der Mensch­heits­ge­schichte liegt da unbehelligt.

Ihr stellt Lenin als Wachsfigur dar. Aber die Musik auf eurem neuen Album ist gar nicht aus Wachs, sie ist sehr kräftig und nervös, knochig, also das Gegenteil von altersmilde und morsch.

Schorsch Kamerun: Habe ich auch so wahrgenommen, als ich in die Aufnahmen noch mal reingehört habe. Im Studio entwickeln wir eine Leidenschaft im Ausdruck: Sowohl, was Texte angeht, als auch, was die musikalische Umsetzung betrifft. Ansonsten ist die Platte nicht von hohem Tempo geprägt. Es sind ja auch melancholische Sachen mit dabei, bei denen Synthesizer lange Schlaufen machen. Wir haben uns nicht hingesetzt und gesagt: Komm, lass uns eine Attacke fahren! Aber im Ausdruck wird es dann automatisch sehr, sehr munter. Wir können uns anscheinend gar nicht zügeln. Wenn wir in dieser Konstellation zusammenkommen, dann passiert so etwas eben schnell.

Ted Gaier: Während des Studioaufenthaltes auf dem Land in diesem Hippiehaus hatten wir eigentlich ein entspanntes Gefühl. Auf Stücke wie »Turnschuh« kamen wir bis jetzt noch nie.

Schorsch Kamerun: Aber gerade »Turnschuh« hat so eine extreme innere Spannung. Genau das finde ich auch so gelungen.

Ted Gaier: Ja schon, aber das ist eine andere Spannung als die, die normalerweise ein Stück nach drei Minuten auspowern und abschmieren lässt.

Schorsch Kamerun: Das ist vielleicht auch eine schöne Entdeckung dieses Albums: Dass man eben nicht nur so rasend physisch dabei sein muss, aber trotzdem an dieser Spannung intern weiterarbeiten kann.

Ted Gaier: Das interne Anfühlen war ein etwas Entspannteres, und es fühlt sich altersmilde an, in unserer eigenen Wahrnehmung. Es ist dann auch so, dass ein Text eben wahnsinnig viel verändert. Ohne den Text war »Der Bürgermeister« unserem Gefühl nach ein Can-Stück, das dümpelt so vor sich hin, dann kommt dieser Text und bringt es auf eine andere Ebene. Das Gleiche gilt für »Mila«, das so als erstes auf der Abschussliste stand, es kam uns vor wie Artrock. Wir haben zwei Tage daran herumgetüftelt, mit ungeraden Breaks und ELO-artigen Parts. Dann kam dieser Text, und plötzlich bekam es eine andere Intention.

Schorsch Kamerun: Die Geschichte handelt von jemand, der sehr gehetzt ist, und die Darstellungsweise ändert sich dann auch sehr durch die Musik.

Die Ouvertüre hat mich an die Band Gang Of Four erinnert, an diese scratchy Früh-achtziger-Atmo, als Punk mit Akne und Thatcherismus-Verzweiflung kurzgeschlossen wurde und hypernervöser Funk rauskam. Aber ihr betreibt ja kein maßstabsgetreues Revival, viel eher hat es den Anschein, als würdet ihr das Feeling von damals in heutige Verhältnisse übersetzen.

Ted Gaier: Das Postpunk-Gefühl ist bei uns nie weg gewesen. Unsere bewusste Hinwendung zur Rockmusik dockt an freiere Experimente von Anfang der Achtziger an. Das machen wir seit der »Economy Class«-Platte so. Dieser Sound kommt unserem Temperament am Nächsten. Wir sind so sozialisiert. Mit Gang Of Four, Wire oder Abwärts habe ich seinerzeit das Gitarrespielen angefangen. Dadurch habe ich überhaupt einen eigenen Zugang zum Gitarrespielen gefunden. Das mag dann auch den Unterschied zu einer Band wie Kaiser Chiefs ausmachen: Dass die Anti-Ästhetik eines Gang-Of-Four-Songs, dieses Hackige, nicht zu trennen ist von der Aussage und dem Bewusstsein und dem, was im Text gesagt werden soll. Das vergessen diese Neo-Postpunkbands immer. Das können sie auch gar nicht abrufen. Ich lese gerne Franz-Ferdinand-Interviews, aber ihre Musik berührt mich sowas von überhaupt nicht.

Mense Reents: Bei den meisten Neo-Bands hat man eh den Eindruck, dass Britpop damit auf eine sehr oberflächliche Weise modernisiert wird. Aber es gibt auch einige positive Beispiele.

Ted Gaier: Die klingen ja nicht alle genau wie Gang Of Four. Bei Franz Ferdinand kannst du in jedem Stück die Differenz nachverfolgen. Manchmal habe ich dafür auch Sympathien. Man hört einzelne Songs im Radio und denkt sich, ja geil, so isses. Da triggert sich bei mir was an. Ich hab mir dann die erste Franz Ferdinand gekauft, finde sie aber im Endeffekt total langweilig.

Schorsch Kamerun: Was hast du dir gekauft? Die Kaiser Chiefs?

Ted Gaier: Nein, Franz Ferdinand. Aber die Musik hat so einen faden Beigeschmack. Sollen doch einfach machen, aber für mich selber ist da nix Neues mit drin. Bei den Goldies diskutieren wir ja auch nicht darüber, ob wir ein Gang-Of-Four-Stück machen oder nicht.

Schorsch Kamerun: Man stellt eher fest, wenn man das Stück fertig hat, oh nein, jetzt klingt es doch nach Gang Of Four. Die Red Hot Chili Peppers haben übrigens auch ein Gang-Of-Four-Stück auf ihrer neuen Platte. Wir fragen uns dann auch, können wir das Gang-Of-Four-Stück überhaupt an den Anfang stellen?

Mense Reents: Die Chili Peppers haben natürlich noch so einen schönen Refrain, der das total bricht. Aber das Stück ist sooo Gang Of Four …

Im Gegensatz zu euch singen die Chili Peppers aber nicht über »Unterwerfungskompetenz«.

Schorsch Kamerun: Das ist genau der Punkt.

Mense Reents: »Der Bürgermeister« ist auch eins zu eins DAF, »Der Räuber und der Prinz«.

Ted Gaier: Ähnliches Beispiel, wir dachten, das ist Krautrock, dann kam so ein heiteres Element durch den Beat, der an »Der Räuber und der Prinz« erinnert. Dann heißt es hinterher, klingt total nach DAF. Allerdings entspricht unser Text der Textmenge einer ganzen DAF-LP.

Euch geht es diesmal sehr viel um Institutionen und Hierarchien. Wie kommt’s? Wieso interessiert ihr euch so sehr für das Amtliche? Für die Welt der Arbeitsbeziehungen?

Ted Gaier: Man ist jetzt natürlich öfter konfrontiert mit Hierarchien und ist nicht mehr der, der draußen vor dem Absperrgitter steht und den Stein schmeißt. In »Der Bürgermeister« haben wir nur unsere Erlebnisse und die unserer Freunde wiedergegeben. Es kann dir halt passieren, dass du irgendwo spielst, und dann sitzt da der Prinz von Norwegen und gratuliert zum schönen Konzert.

Schorsch Kamerun: Wir müssen halt überlegen: Was machen wir in der Führungsebene, wie verhält man sich? »Reflexion in der Führungsebene« hätte die Platte auch heißen können. (lacht) Der Feindbilddampfer ist definitiv abgefahren.

Von dieser Art von Punk-Radikalität kann wahrscheinlich auch der neue Mercedes-Benz werbemäßig profitieren. »Viva radikalisiert dein Leben« usw. Unser Text ist ja ein Verschnitt, eine Collage von rasenden Gedanken, die einem angesichts der Lage kommen.

Wie verhält es sich denn bei euch selbst? Wieviel Widerspruch könnt ihr aushalten, ohne dass ihr euch unglaubwürdig macht?

Ted Gaier: Man macht sich immer unglaubwürdig!

Schorsch Kamerun: Auch das! Und ansonsten prüfen wir wie seit eh und je, was wir machen und was nicht. Jeder einzelne von uns und wir als Gruppe. Da brauchen wir aber nicht groß drüber zu reden, was wir so machen. Das Auftreten der Band, das Gefühl der Band ist ja kein anderes. Was wir sonst noch so machen, ist je nachdem unterschiedlich. Da verschiebt sich auch das Außen. Wenn man beispielsweise die Medien der neunziger Jahre betrachtet und die Geschichte ihrer Privatisierung nachvollzieht, fühlt man sich auf einmal bei einem öffentlich-rechtlichen Sender gut aufgehoben. Dass man einmal in so städtischen Institutionen Aktionen macht, das hätte man früher nie geglaubt.

Hat ein Schlagwort wie »Lauf­burschen­an­wart­schaft« mit eigenen Erfahrungen zu tun? Dass man sich plötzlich mit einer sozialen Realität herumschlagen muss, von der man früher dachte, man kommt drum herum?

Schorsch Kamerun: Man wusste schon, dass es das gibt. Ehrlich gesagt, wir leben ja privilegiert. Wir sind ja keine Taxifahrer.

Ted Gaier: Das handelt ja eher von der neuen Unterklasse, die auch so gewünscht ist. Wir gehören hingegen an den Rand der Kulturbourgeoisie. Wir arbeiten mit Staatsgeldern oder spielen auf gesponserten Festivals, weil es keine andere Möglichkeit mehr gibt.

»Unterwerfungskompetenz« zielt auf die Debatte um Hartz IV. Da will ja niemand drüber reden, weil es uns noch nicht betrifft. Die Sozialhilfegesichter und ihren Mangel an Sprache finden alle langweilig. Als ich vor zwei Jahren auf einer Hartz-IV-Demo in Berlin war, empfand ich das als sehr traurig. Als Demonstration von Sprachlosen, von Verlierern der Offenen Gesellschaft in den Siebzigern.

Ich fand, dass die Leute rein auf ihre Arbeit fixiert waren. »Wir wollen unsere Arbeit zurück!« Ich halte es nun mal schwer aus, Menschen auf Autobahnraststätten zu sehen, die in devoter Haltung vor dem Pissoir sitzen und von den Trinkgeldern der Pinkler leben. Das ist ein gesellschaftlicher Skandal. Der Text soll diese totale Sprachlosigkeit wiedergeben, der diese Leute ausgeliefert sind. Man braucht sie aber als Feindbilder, damit die Leute noch mehr erniedrigt werden und noch schlechter bezahlte Jobs annehmen. Das ist ein richtiger Gang-Of-Four-Zorn, der in dem Song zum Ausdruck kommt.

interview: julian weber

Die Goldenen Zitronen sind vielleicht die ­letzte funktionierende Polit-Band in Zeiten ab­gefahrener Feindbilddampfer. Das beweist das Album »Lenin«. Erster Teil eines zweiteiligen ­Interviews anlässlich der neuen Platte.