Die Sprache der Schwachen

platte buch

»Aufgrochsen«, schweizerdeutsch für »geräuschvoll die Rotze hochziehen«, »grunzen«, »ächzen« oder »ein undefinierbares Geräusch von sich geben«, ist der Titel einer absurden Familiengeschichte, die irgendwo in den Bergen des Schweizer Kantons Bern spielt.

Der Held der Geschichte ist nach einer unbehandelten Hirnhautentzündung behindert. Seine Mutter schämt sich mächtig für den verkrüppelten Sohn, doch im Heim würde er eine noch größere Schande für die Arme-Leute-Familie sein.

So wird er mehr oder weniger zwangsverheiratet, mit der Friedli. Sie ist genauso geächtet in der Dorfgemeinschaft und deformiert wie der Junge. Der »Gotteshund«, das zähe Vieh, das jede Woche in der Kirche gefüttert wird, hat daran nicht geringen Anteil. Von Friedli, dem »Bub« und ihren Sprösslingen erzählt Roland Reichen.

Der im Jahr 1974 geborene Schweizer Autor bemüht sich gar nicht erst, seine tiefe Abneigung gegenüber der Erbärmlichkeit des Lebens in der Provinz, verstanden vor allem als ein Geisteszustand, zu verbergen. Geschickt nutzt und persifliert der junge Schriftsteller in seinem Debüt die schweizerdeutsche Mundart. Abgesehen von der subversiven Kraft dieses Kunstgriffes hilft die so gewonnene Distanz dem Leser, den Leichengeruch zu ertragen, der über der gefühlskalten Welt der Protagonisten liegt.

»Aufgrochsen« erzählt eine groteske Geschichte über modernen Sozialdarwinismus und das Unvermögen zu kommunizieren. Sie handelt von den Ausgestoßenen, den Schwachen und von deren Eigenheit, gegenüber noch Schwächeren ein Ressentiment zu entwickeln, das sich dann und wann mit tödlicher Wucht entlädt. Insofern geht es hier nur vordergründig um die Schweiz.

Wer Zugang zur Schreckenswelt mundtoter Paare sucht, die ihre Kinder verrecken lassen und das später lediglich mit einem Schulterzucken quittieren, sollte dieses Buch zur Hand nehmen.

ruben eberlein

Roland Reichen: Aufgrochsen. Bilgerverlag, Zürich 2006, 119 S., 17,90 Euro