Das Rumoren der Stille

Arnold Stadler über Adalbert Stifter Von Peter Praschl

Die längste Zeit seines Lebens ist der Dichter Adalbert Stifter ein hoffnungsloser Fall gewesen. In jungen Jahren hatte er eine Frau geliebt und sie in Briefen so lange mit Selbstzweifeln und Ausflüchten traktiert, bis sie einen anderen heiratete, um nicht lange danach im Kindsbett zu sterben.

Die Frau, mit der er an ihrer Statt lebte, liebte ihn nicht, hat vermutlich keines seiner Bücher je gelesen. Was sie von ihm wollte, war mehr Geld, als er verdienen und bei seinem Verleger zusammenschnorren konnte, und dass er mit ihr öfter ins Bett ging, als er, ein fettsüchtiger und schwer depressiver Mann, dazu in der Lage war. Die Adoptivtochter, die die ersehnten eigenen Kinder ersetzen sollte, wurde als Haussklavin behandelt und brachte sich um, indem sie in die Donau ging.

Stifter war einmal ein Modeschriftsteller gewesen, eines der Talente, von denen man sich viel versprach – doch als er sich in seinen mittleren Jahren wirklich gefunden hatte, wollte ihn keiner mehr lesen. Der »Nachsommer« – der bis heute als zwar großes, aber auch als ungeheuer langweiliges Werk gilt – wurde sofort nach dem Erscheinen erbarmungslos vernichtet, dem noch obsessiveren und unzugänglicheren Nachfolger »Witiko« erging es nicht besser. Stifter reagierte, indem er noch mehr fraß, noch mehr trank, noch öfter krank, noch depressiver wurde. Am Ende legte er sich in sein Bett und schlitzte sich mit einem Rasiermesser den Hals auf.

Wie spricht man über einen so verkorksten Mann, dem bis heute das Unglück widerfährt, zum Lesebuch-Idylliker herabgelobt zu werden? Vielleicht so wie Arnold Stadler, auch er ein Provinzschriftsteller, dem das in sich verkapselte Provinz-Unglücklichsein nicht fremd ist. Sein Essay »Mein Stifter« zum 200. Todestag des Biedermeier-Selbstmörders gibt sich keine Mühe, nüchtern und ausgewogen zu bleiben oder en détail den Forschungsstand zu Stifter auszubreiten (das hat der Stifter-Biograph Wolfgang Matz ja schon bestens besorgt).

Was Stadler stattdessen tut: Erstens über seine lebenslängliche Liebe zu Stifter und über die Abgründe zu sprechen, in die man durch sie gestoßen wird. Und zweitens über die Gründe zu meditieren, die vor allem das Spätwerk Stifters so gemacht haben, wie es ist – so radikal gegen die Welt, die Geschichte, die Zeit abgedichtet, und immer wieder so unter der Hand avantgardistisch.

Die meisten dieser Gründe sind biografisch, nicht wenige aber auf eine hinterfotzige Weise politisch. Was etwa tut ein moralischer und ästhetischer Pedant, wenn er einmal begriffen hat, dass das mit der vernünftigen – bei Stifter: friedlichen, trieb- und wutgebändigten – Einrichtung des Lebens nicht klappen wird? Er schreibt eine Idylle, in der alles so ist, wie es sein sollte, und dann bringt er sich um, weil es nie so sein wird, wie es sein müsste.

Das Großartige an Stadlers Stifter-Buch ist, dass er genau merkt, wie sehr es in der Stille des Nachsommers rumort und wie die zu Kieselsteinen abgeschliffenen Sätze Stifters in Wahrheit doch nur stachelige Hecken ziehen gegen eine Welt, die durch und durch verloren ist und in der es keine Notausgänge gibt außer die obsessiven Erfindungen der Literatur. Die einem am Ende auch nicht mehr helfen kann.

Arnold Stadler: Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Fotografien. Dumont, Köln 2005, 197 S., 17,90 Euro