Kaffeehaus und Politik

Die Türkei hat sich in den letzten Jahren verändert. Der repressive Staat ist auf dem Rückzug, und auch in den Cafés sieht es heute anders aus als früher. von ömer erzeren

Die Kaffeehaus-Revolution

Das kleine Café »Kaktüs« in der Imam Adnan Sokak in Beyoglu, im Zentrum Istanbuls, wurde im Jahr 1993 eröffnet. Es war damals das einzige Café weit und breit, das zu jeder Uhrzeit sowohl von Frauen als auch von Männern frequentiert wurde. Denn Cafés, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde und beide Geschlechter verkehrten, gab es ansonsten einfach nicht. Man konnte auch ein paar Restaurants in Beyoglu finden, in die gemischte Gruppen von Frauen und Männern gehen konnten. Ansonsten war der Stadtteil fest in der Hand einer Männergesellschaft.

Es gab so genannte Bierhallen, in denen ausschließlich Männer verkehrten. Und so genannte pavyons, in welchen die Amüsierdamen die männlichen Gäste zum Konsum anregten. Die Stammkunden der pavyon waren Immigranten, die aus dem Land in die Stadt gezogen waren und die nie und nimmer mit ihrer Freundin, Ehefrau oder Schwester einen Raum, in welchem Alkohol ausgeschenkt wurde, betreten hätten. Sowohl Alkohol als auch der weibliche Körper wiesen auf etwas Anrüchiges hin, und nur in den pavyons eröffnete sich für viele die Möglichkeit sexueller Kontakte zum anderen Geschlecht. In der Imam Adnan Sokak, die 150 Meter lang sein mag, waren mehrere Dutzend pavyons angesiedelt. Dazwischen lag das besagte Café »Kaktüs«.

Das Laufpublikum der pavyons musterte die Gäste des »Kaktüs«, als stammten sie von einem anderen Stern. Da gingen Frauen, die offensichtlich nicht ihren Körper verkauften, ein und aus. Sie saßen sogar an der Theke oder an einem Tisch allein. Zwischen den pavyons und dem Café »Kaktüs« entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Art friedliche Koexistenz. Die Inhaber und Zuhälter der pavyons mieden ganz einfach das Café, dessen Name einer längst eingegangenen feministischen Zeitschrift entlehnt war. Die Staatsmacht hingegen zeigte des Öfteren Präsenz. Ich erinnere mich an eine Polizeirazzia, bei der Kellnerinnen und Kunden des »Kaktüs« auf die Polizeiwache gezerrt wurden. Die Kellnerinnen, weil sie keine staatlichen Lizenzen als Amüsierdamen besaßen, die Kunden wegen Aufmüpfigkeit.

Die Gäste im »Kaktüs« unterhielten sich viel über Politik. Sie erzählten sich gegenseitig von ihren Prozessen vor den Staatssicherheitsgerichten. Mancher hatte mehrere Anklagen – schließlich bedeutete jeder kritische Artikel eine Anklage –, und es war nur eine Frage der Zeit bis zur regulären Verurteilung und zum Gefängnisaufenthalt. Immer wenn es um Politik ging, war die Stimmung gedrückt. Täglich starben im blutigen Krieg zwischen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und der türkischen Armee Menschen. Es war – wie jeder staatliche Krieg gegen eine Guerillaorganisation, die über eine Basis verfügt – ein dreckiger Krieg mit der höchsten Anzahl von Opfern auf Seiten der Zivilisten. Todesschwadronen mordeten.

»Wir kennen die Finanziers der PKK, und wir werden sie zum Schweigen bringen«, kündigte die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller an, und wenige Tage später wurden kurdische Geschäftsleute, die mutmaßlich die PKK unterstützten, umgebracht. Ein Jahr nach der Gründung des »Kaktüs« ging eine Bombe in der Redaktion der prokurdischen Tageszeitung Özgür Ülke hoch. Zwei Dutzend Intellektuelle hatten sich klammheimlich im »Kaktüs« verabredet, um mit verbotenen Zeitung, deren Redaktionssitz bombardiert worden war, Solidarität zu üben: Orhan Pamuk war ganz pünktlich im Café zur verabredeten Zeit erschienen. Die Gruppe verteilte die verbotene Zeitung 50 Meter vom »Kaktüs« entfernt, bis Hundertschaften ihr die Zeitungen entrissen und sie wieder ins Café abdrängte. Es war die Zeit der Ohnmacht gegen ein übermächtiges, repressives politisches System. Das Café war in dieser Zeit eine kleine Insel für Frauen und Männer, die meinten, es könne nicht mehr so weitergehen. Doch selbst das Café ließ den Gästen keine Ruhe. Alle sechs Monate wurden die Preise erhöht.

Der Weg zur Normalität

Das Café »Kaktüs« gibt es immer noch. Selbst das Interieur ist das gleiche wie vor zwölf Jahren. Doch in seiner Umgebung hat sich alles, wirklich alles geändert. Es gibt kein einziges Pavyon mehr in der Gasse. Ein Laden nach dem anderen hat zugemacht. Die Kundschaft für die Rotlichtetablissements blieb aus. Nicht, dass die Prostitution abgenommen hätte, die in Bordellen betrieben wird. Aber das Konzept der pavyons war eigens auf die Immigranten vom Land, die neu in die Stadt kamen, zugeschnitten. Doch aus Immigranten werden irgendwann Städter. An die Stelle der pavyons traten Cafés und Bars. In Beyoglu, wo es vor einem Jahrzehnt kaum eine Bar oder ein Café gab, gibt es jetzt tausende. Schwulenbars waren damals undenkbar. Jetzt kann man sie nicht mehr zählen. Bezahlt wird heute mit der Neuen Türkischen Lira, der man sechs Nullen gestrichen hat. Die Inflationsrate ist unter zehn Prozent gesunken. Selbst Tagelöhner haben einst vor den zahlreichen Wechselstuben den kargen Lohn in Türkischer Lira in US-Dollars umgetauscht. Heute denkt niemand mehr daran. Die Wechselstuben, ausgenommen die, die von Touristen leben, starben, ebenso wie die pavyons, beinahe aus.

Orhan Pamuk und die Bücherverbrenner

Orhan Pamuk im »Kaktüs« mit einem Stapel der illegalen Zeitung Özgür Ülke unter dem Arm im Jahr 1994 symbolisiert die Ohnmacht des Geistes im herrschenden Kräfteverhältnis. Zwar wurde Pamuk nicht festgenommen, doch die Solidaritätsaktion verfehlte das gesteckte Ziel, weil die durch Selbstzensur gleichgeschalteten großen Medien einfach nicht darüber berichteten. Welch ein Unterschied zum Jahr 2005 und zur Schmierenkomödie in dem zentralanatolischen Provinznest Sütçüler in der Provinz Isparta im April. Der dem Innenministerium unterstehende Landrat der Kleinstadt, Mustafa Altınpınar, ein ehemaliger Polizist, wollte seiner Beamtenkarriere etwas Gutes tun. Orhan Pamuk wurde als Feind auserkoren. Die öffentlichen Bibliotheken der Stadt wurden angewiesen, seine Bücher aus ihrem Bestand zu entfernen und zu vernichten. Als Begründung führte der Landrat an, der Schriftsteller habe in Interviews mit ausländischen Zeitungen die »Ehre der türkischen Nation verletzt«. Die Zerstörung der Bücher gehöre zum »Selbstverteidigungsrecht der türkischen Nation«. Zuvor war der Schriftsteller hart mit der politischen Kultur in der Türkei zu Gericht gegangen. Von ermordeten Kurden und Armeniern und dem offiziellen Schweigen über die Vergangenheit war die Rede.

Die türkischen Medien wurden zum Austragungsort einer erbitterten Debatte. Es gab viel Kritik an Pamuks Äußerungen. Doch auch die Zahl derjenigen, die in Kolumnen und Kommentaren Partei für Orhan Pamuk ergriffen, war nicht zu unterschätzen.

In diese Debatte platzte die Meldung von der Anordnung des Landrats, der in türkischen Medien alsbald als »Bücherverbrennungsbeamter« tituliert werden sollte. Ein Skandal war ausgebrochen und die Empörung war groß. Der Gouverneur hob formell die Anordnung auf und sprach von Amtsanmaßung. Das Innenministerium leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den übereifrigen Landrat ein. Und selbst die Nationalisten, die Orhan Pamuk in Grund und Boden verdammt hatten, wollten nicht mit Bücherverbrennern in einen Topf geworfen werden. Bei der Debatte um die eigene Geschichte hatten sich klare Fronten zwischen Nationalisten und demokratischen Reformern gebildet, und erstgenannte waren offensichtlich in der Defensive. Auch die jüngste Anklageerhebung einer Istanbuler Bezirksstaatsanwaltschaft gegen Pamuk wegen seiner Äußerungen im Schweizer Tagesanzeiger (»Man hat hier 30 000 Kurden und eine Million Armenier umgebracht. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen«) ist wohl mehr der Versuch eines verzweifelten Staatsanwalts, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, indem man den europäischen Gegnern des Türkei-Beitritts Nahrung verschafft. Obwohl Anklageerhebungen aufgrund des Artikels 301-1 (»Schmähung des Türkentums, der Republik und der Nationalversammlung«, was drei Jahre Gefängnisstrafe bedeuten kann) rapide abgenommen haben, wird der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor den im Oktober beginnenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei nochmals schnell angeklagt.

Debatten um die eigene Vergangenheit

Das Ende der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in den kurdischen Regionen, die demokratischen Reformen der vergangenen Jahre und hohe Wachstumsraten der Wirtschaft haben das gesellschaftspolitische Klima im Land verändert. Debatten um die eigene Vergangenheit sind möglich geworden. Es gehörte zu einem traditionellen Grundmuster türkischer Politik, innere Konflikte als Ergebnis der Einflussnahme von Außen wahrzunehmen. Ging es um die Islamisierung der Gesellschaft, waren schnell Schuldige gefunden: Der Iran oder Saudi-Arabien, so hieß es, mischten heimlich in der türkischen Politik mit. Oder man verdächtigte die USA, der laizistischen Türkei einen »gemäßigten Islam«, in Washington auserkoren, überstülpen zu wollen. Ging es um den kurdischen Konflikt, waren ausländische Mächte am Werk, die die Stärke der Türkei untergraben und das Land zerstückeln wollten.

Diese Art der Wahrnehmung rührte nicht zuletzt aus den Entstehungsbedingungen der türkischen Republik, die nach dem Ersten Weltkrieg auf den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden ist. Der Untergang des Osmanischen Reiches war nicht zuletzt der aktiven Förderung sezessionistischer Nationalismen durch europäische Mächte geschuldet. Der Friedensvertrag von Sèvres im Jahr 1920 wird noch heute von den Türken als Schmach wahrgenommen. Damals diktierten die Siegermächte des Krieges einen Vertrag, der ihnen erlaubte, selbst Anatolien unter sich aufzuteilen. Der Widerstand gegen die ausländische Invasion und die Nationalbewegung unter Mustafa Kemal, dem später der Beiname »Atatürk«, Vater der Türken, gegeben wurde, werden heute in Schulbüchern heroisiert. Der Erfolg der Nationalbewegung führte 1923 zum Friedensvertrag von Lausanne, der die Grenzen der türkischen Republik festlegte und die Voraussetzungen zur Entwicklung eines bürgerlichen Nationalstaates schuf.

Die moderne Türkei

Über 80 Jahre nach der Gründung der Republik haben sich die Koordinaten internationaler Politik grundlegend verändert. Doch bis heute nährt sich der türkische Nationalismus aus ideologischen Versatzstücken, die der Entstehungsgeschichte der Republik entlehnt sind. Die europäische Perspektive der Türkei und die demokratischen Reformen, die insbesondere seit dem Machtantritt der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) eingeleitet wurden und die im Dezember vorigen Jahres den Weg für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union ebneten, haben das politische Interpretationsmonopol des Nationalismus in Frage gestellt. Nach Jahrzehnten einer repressiven Politik gegenüber den Kurden, die selbst die Existenz des kurdischen Volkes und seiner Sprache in Frage stellte, merkt man heute, dass die neue Liberalität keineswegs die Verfassungsordnung der Republik bedroht. Sie stürzt vielmehr diejenigen, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat weiterführen wollen, in Legitimationsprobleme.

Die Bedeutung des radikalen Wandels der türkischen Zypern-Politik ist jedoch kaum wahrgenommen worden. Als die Regierung Erdogan im vergangenen Jahr die Friedensbemühungen des UN-Generalsekretärs unterstützte und sich für den Friedensplan für die geteilte Insel aussprach, wusste sie die Mehrheit der türkischen Bevölkerung auf ihrer Seite. Vor wenigen Jahren noch wäre eine Regierung, die Kompromisse in der Zypern-Frage schließt, des Vaterlandsverrats bezichtigt worden. Selbst die Folgen – die Mehrheit der türkischen Zyprioten votierte in einem Referendum für den UN-Friedensplan, die griechischen Zyprioten votierten mit »Nein«, blockierten eine Lösung und wurden trotz ihres Alleinvertretungsanspruchs Mitglied der EU – lieferten den Nationalisten keine Nahrung. Auch die Abschaffung der Todesstrafe mehrere Jahre zuvor, als der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, bereits auf der Gefängnisinsel Imralı einsaß, rief keinen nennenswerten faschistischen Protest hervor.

Die neue Gesellschaft

Seit dem Militärputsch von 1980 ist die türkische Gesellschaft nicht zur Ruhe gekommen. Das herrschende politische Regime meinte, ein uniformes nationalistisches Gesellschaftsmodell begründen zu können. Die großen Feindbilder – Kommunismus, kurdischer Sezessionismus und politischer Islam – wurden ständig gepflegt. Der zentralistische Staat versuchte, jedwede politische Regung der Gesellschaft zu ersticken. Die »kommunistische Gefahr« löste sich durch den Gang der Weltpolitik in Luft auf, von Sezessionismus sprechen heute selbst radikale Kurdenführer nicht mehr, und diejenigen, die einst den politischen Islam verkörperten, sitzen jetzt in der Regierung. Das Gesellschaftsmodell, das die Generäle sich einst ausgedacht hatten, ist spätestens nach dem Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 zur anachronistischen Farce verkommen.

Es gehört zu den Skurrilitäten der türkischen Geschichte, dass ein einst islamistischer Politiker wie Erdogan in seinem Wahlkampf eine ausgesprochen prowestliche, europafreundliche Programmatik angepriesen hat. Bei den Wahlen eroberte sich die Partei die bürgerliche Mitte. Politiker aus den einst etablierten bürgerlichen Parteien sitzen heute für die AKP im Parlament und nur eine Minderheit der Wähler ist dem politischen Islam zuzurechnen. Die Türken wählten die AKP nicht, weil sie die Chance auf einen Gottesstaat witterten, sondern weil sie korrupte Politiker satt hatten. Einige der Wähler und Funktionäre der AKP mögen fromm sein, doch sie sind nicht daran interessiert, ein religiöses Koordinatensystem in der Politik zu errichten. Ihnen geht es um Steuerpolitik und um Energiepreise, um Intervention bei wirtschaftlichen Verteilungskämpfen. Nach drei Jahren AKP-Regierung redet niemand mehr davon, dass die Machthaber ein alternatives politisches Regime anstrebten. Kemalistische Grundsätze, wie die Trennung von Staat und Religion, bürgerliche Rechtsnormen im öffentlichen und privaten Recht, Wahlrecht für Frauen, die einst in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts vom Staat oktroyiert wurden, gehören nach über 80 Jahren republikanischer Geschichte zur Alltagsrealität (kein Politiker der AKP würde auf die Idee kommen, statt auf dem Standesamt vor einem Imam zu heiraten).

Was heute vonstatten geht, könnte als Normalisierungsprozess, der den Islam als kulturelles Moment in die Gesellschaft integriert, begriffen werden.

Normalisierung bedeutet auch, dass die ethnische oder religiöse Identität zunehmend weniger zum Kriterium für eine politische Orientierung wird. Reiche Kurden wählen anders als arme Kurden. Nicht von ungefähr wurden kurdische Frauenorganisationen, die Männergewalt thematisieren, nach dem Ende des Krieges stärker. Im Feuergefecht zwischen der Armee und der PKK hätten sie keine Chance gehabt. Das Anwachsen der NGO in den vergangenen Jahren ist unter anderem auch der politischen Deeskalation geschuldet. Auch die Stärkung der Kommunen und die Zurückdrängung der Kompetenzen der Zentralregierung konnten noch vor wenigen Jahren nicht angegangen werden. Die demokratischen Reformen der letzten Jahre haben gezeigt, dass das Ende des repressiven Staates nicht zwangsläufig zum Auseinanderdriften der türkischen Gesellschaft entlang religiöser oder ethnischer Linien führen muss. Die einst mächtigen ideologischen Blöcke – türkischer und kurdischer Nationalismus, politischer Islam – brechen auseinander.

Ömer Erzeren ist Autor und Journalist und betreibt das Café »Kaktüs«. Zuletzt erschien von ihm »Eisbein in Alanya« (Körber).