Politik an der Wand

Über das sardische Dorf Orgosolo und seine politischen Gemälde. Von Eva Schmid (Text und Fotos)

Orgosolo ist ein kleines Dorf in den Bergen Sardiniens, ein typisches Dorf. Früher war es eines von Sardiniens berühmt-berüchtigten Banditendörfern der Barbagia. Heute leben die fast 5 000 Einwohner überwiegend von der Milchwirtschaft, viele von ihnen sind Schafhirten. Und jeder Fünfte ist arbeitslos.

Untypisch ist, dass Orgosolo der Charme eines kleinen italienischen Dorfes, den Touristen so lieben, völlig fehlt. Der Ortskern und die Bausubstanz der Häuser wirken alt und bröckelig, die Neubauten am Ortsrand sind so hässlich, wie es Neubauten nur sein können. Lediglich einige schäbige Bars sind zu sehen. Das Dorf ist nicht schön, und mit 45 Kilometern Entfernung zur nächsten Küste (etwa eine Stunde Autofahrt) liegt es auch nicht im Einzugsgebiet des Tourismus.

Trotzdem ist Orgosolo ein touristischer Anziehungspunkt. Im Sommer halten täglich Reisebusse auf dem einzigen zentralen Platz des Dorfes, der Piazza Caduti in Guerra (Platz der Kriegsgefallenen), und bringen – für ein so kleines Dorf – Massen an Menschen. Sie kommen wegen der »murales«. Das sind Wandmalereien mit meist politischem Inhalt, entstanden im Laufe der letzten 30 Jahre.

Ende der sechziger Jahre, als Italiens linke Bewegungen stärker wurden, fanden die ersten politischen Bilder den Weg an die Hauswände. Nicht nur in Orgosolo, sondern in vielen Dörfern Sardiniens, wo der Analphabetismus damals noch weit verbreitet war. Doch in keinem anderen Dorf entstanden so viele »murales« wie in Orgosolo. Im Zentrum gibt es kein Haus ohne ein solches Bild; sie prägen den Charakter des gesamten Dorfes.

Der Ursprung dieser Arbeiten in Orgosolo geht zurück ins Jahr 1968. Damals malte die anarchistische Theatergruppe »Dioniso« aus Mailand das erste politische Bild an eine Wand. Anschließend passierte mit den »murales« erst einmal bis ins Jahr 1975 nichts. Dann aber, am 30. Jahrestag des Tages der Befreiung vom Faschismus, griffen Schüler und Lehrer diese Idee wieder auf. Das Interesse der Schüler war anfangs nur auf die Widerstandsbewegung der Partisanen gerichtet, schnell aber ging es auch um lokale politische Themen; zunächst entstanden Flugblätter, schließlich wurde direkt auf die Hauswände gemalt.

Bei der Dorfbevölkerung fanden die Arbeiten schnell Anklang, weitere private und öffentliche Gebäude konnten bemalt werden. Neben den »italienischen« kamen immer häufiger auch internationale Themen hinzu. Viele Arbeiten wurden von Gruppen (Schülergruppen, der Frauengruppe »le api«, d.h. die Bienen) gemalt, andere stammen vom örtlichen Kunstlehrer Francesco del Casino, der sich deutlich an Picasso und den Kubisten orientiert. Die meisten anderen Künstler sind Autodidakten, die Stile sind naiv, die meisten Motive wurden einfach mit Farbe an die Wand gemalt, aber in den letzten Jahren tauchten auch neuere Methoden wie Graffiti-Malerei und Cut-Up-Techniken auf.

Mit den Touristen wurden die »murales« nach und nach zu Sehenswürdigkeiten, und plötzlich begann auch die Gemeinde, sich dafür zu interessieren. Die Folge waren einerseits neue unpolitische Auftragsarbeiten mit dekorativ-folkloristischen Bildern wie der Darstellung des häuslichen Lebens oder der Herden auf der Weide, andererseits aber brachte es das Interesse der Gemeinde mit sich, dass die alten, langsam abblätternden »murales« restauriert werden konnten.

Viel zu verdienen ist am »murales«-Tourismus bis heute nicht. Die meisten Besucher laufen ein, zwei Stunden durchs Dorf, trinken einen Kaffee, und schon geht es weiter. Vor einigen Jahren versuchte die Gemeinde, Orgosolo für den Tourismus attraktiver zu machen. Man wollte das Image des alten Banditendorfes nutzen, um Erlebnistouristen anzuziehen. Geplant wurde ein inszenierter Überfall auf einen Touristenbus mit anschließendem gemeinsamem Picknick der Angreifer und der Überfallenen. Doch es blieb bei einem einzigen Überfall, da der Bus von angeheuerten arbeitslosen Hirten mit echten Gewehren beschossen wurde.

Heute bietet die örtliche Tourismuszentrale neben dem üblichen Blick auf Traditionen und Bräuche nur noch Trekkingtouren und Fotosafaris ins nahe gelegene Naturschutzgebiet des Gennargentu-Gebirges an. Und ein Mittagessen mit echten Hirten, ohne Überfall.

Auch wenn Orgosolo heute kein Banditendorf mehr ist, lässt sich in vielen der »murales« der Geist des Widerstands finden. Ein Beispiel dafür ist der »Kampf um Pratobello«, den einige der »murales« zeigen. Im Juni 1969 wollte die Nato auf dem Pratobello, dem öffentlichen Weideland oberhalb von Orgosolo, einen Truppenübungsplatz errichten. Als das Militär mit zwei Divisionen und Panzerfahrzeugen anrückte, blockierten die Einwohner Orgosolos zusammen mit Menschen aus der Umgebung die Zufahrtswege, Hirten trieben ihre Herden auf die Straßen und vertauschten Wegweiser. Der Widerstand kam aus der gesamten Bevölkerung und war erfolgreich. Der Beschluss musste zurückgenommen werden.

Bis heute prägen aktuelle politische Themen die »murales«. Der 11. September 2001 ist ebenso abgebildet wie der Sturz Saddam Husseins. Die Mehrzahl der Bilder hat einen klaren linken Charakter, wie das Bild der Ermordung Carlo Giulianis während des G 8-Gipfels in Genua. Und manchmal werden sogar alte Bilder mit neuen verknüpft, wie das Porträt Che Guevaras, in dessen Hintergrund eine Demonstration gegen den Irak-Krieg abgebildet ist.