Gefährliche Jugend

In afrikanischen Kriegen werden Jugendliche als Killermaschinen oder als Opfer wahrgenommen. Beide Sichtweisen entpolitisieren die gewaltsamen sozialen Konflikte. Von Ruben Eberlein

Kinder und Jugendliche sind in den Kriegen, die die Auflösung der neopatrimonialen Schattenstaaten Afrikas begleiten, die sichtbarsten Protagonisten. Mit einer Mischung aus schauriger Faszination – wie im Falle der Fraueneinheit der Lurd unter der Kommandantin Black Diamond in Liberia –, moralischer Betroffenheit und zur Schau gestelltem Ekel begegnet man ihnen in den populären Erzählungen. Wenn das Ressentiment ganz ungezügelt den Ton angeben darf, säumen »Killermaschinen« und »lebende Zeitbomben« die Straßen Monrovias und die Kleinstädte des östlichen Kongos, illustrieren schon einmal Bilder aus dem Tierreich die Szene: »Schnapsflaschen und Marihuana-Zigaretten (machen) die Runde. Abends kriechen sie auf die Matratzenlager in ihren mit Graffiti beschmierten Zimmern. Sie schlafen ineinander verschlungen wie Knäuel junger Welpen«, hieß es in einem Dossier der Zeit vom August des letzten Jahres zum Thema Kindersoldaten. (1)

Ein anderer und doch ganz ähnlicher Diskurs findet sich bei vielen Akteuren der globalen Hilfsindustrie. Von internationalen Nichtregierungsorganisationen und Gebern werden jugendliche Kämpfer meist als »Opfer skrupelloser Kriegsherren, die ihre Not ausnutzen und sie mit Gewalt und Drogen zu Tätern machen« (2), gezeichnet.

Der jüngst von einer globalen NGO-Koalition vorgestellte »Weltreport Kindersoldaten 2004« konstatiert zwar, viele Minderjährige würden freiwillig Milizen und Regierungsarmeen beitreten, seien aber durch fehlende Alternativen zum Militärdienst gezwungen worden, letztlich also doch Opfer ohne jede Entscheidungsfreiheit. Eine Studie der ILO zufolge erklärten zwei Drittel der befragten minderjährigen Ex-Kämpfer in Zentralafrika, aus freien Stücken in die bewaffneten Milizen eingetreten zu sein. (3)

Statt dieses Statement ernst zu nehmen, sprechen die Autoren mit dem Hinweis auf strukturelle Zwänge den Befragten jedoch ab, selbst zu definieren, was sie unter »freiwillig« verstehen.

Sowohl der hasserfüllte Blick auf das »Lumpenmilitariat« als auch der Diskurs, den Mats Utas in seinem Beitrag dieses Dossiers als victimcy bezeichnet, entpolitisieren bewaffnete Konflikte. Hier kennt man nur den mit Crack vollgepumpten, von materieller Gier und nie gekannter Macht besessenen kleinen Derwisch, dort lediglich das verführte oder gezwungene unschuldige Wesen, Spielball skrupelloser Kommandeure und der gesellschaftlichen Gegebenheiten.

Es steht freilich außer Frage, dass politische Unternehmer unter brutalem Zwang rekrutieren. Natürlich treibt die gescheiterte Modernisierung in den postkolonialen Staaten Afrikas den Privatarmeen Kämpfer zu, und Beispiele für grausame Gewalt lassen sich zuhauf finden. Doch die ugandische Lord’s Resistance Army, die »Jungen Patrioten« in der Côte d’Ivoire oder die Milizen des Nigerdeltas in einen Topf zu werfen, verstellt den Blick auf die jeweiligen sozialen Strukturen und die Handlungsmächtigkeit auch junger Menschen.

Jugend gleich Marginalisierung?

Auch in den tiefen sozialen Krisen Afrikas, in denen Zeiten relativer Stabilität mehr oder weniger regelmäßig von zum Teil extremer Gewalt unterbrochen werden, geht es im Kern um den über Identitäten verhandelten Zugang zu materiellen Ressourcen und bürgerlichen Rechten. Kinder und Jugendliche sind in diesen gesellschaftlichen Umwälzungen Akteure, die im Rahmen ganz unterschiedlich strukturierter Zwänge handeln und über verschieden große Handlungsspielräume verfügen. (4) Dass »Youth/Jeunesse« eine der zentralen Identitäten ist, die heute über eine enorme Mobilisierungskraft verfügt, sollte angesichts der gerontokratischen Machtverhältnisse, die in vielen westafrikanischen Gesellschaften anzutreffen sind, nicht überraschen.

Krieg, Gewalt, Aids, Vertreibungen und Hunger, heißt es im oben zitierten Zeit-Dossier, hätten »das wichtigste Netz der sozialen Sicherung, die traditionelle afrikanische Großfamilie, zerstört«. (5) Einige neuere sozialwissenschaftliche Studien zu Westafrika legen genau das Gegenteil nahe. Die stark hierarchischen, gerontokratisch geprägten Herrschaftsstrukturen sind ein auslösender Faktor in den andauernden Kriegen Afrikas. Zu diesen Herrschaftsstrukturen gehören Aspekte der »traditionellen afrikanischen Großfamilie« ebenso wie die ungleichen Beziehungen zwischen Big Men und ihren regionalen Klienten sowie die in der Zeit der kolonialen Verwaltung vorgenommene Ermächtigung von dominierenden Familienlinien. (6)

»Jugend« bezeichnet nur zum Teil die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe. Auch ein 35jähriger kann als Jugendlicher gelten. Die Kategorie dient jenen, die an den Rändern der postkolonialen Gesellschaften leben oder sich selbst dort verorten, als angemessene gegenhegemoniale Argumentation in der Auseinandersetzung um den Zugang zu Ressourcen und Macht. »Gewalttätige lokale Reaktionen von Jugendgruppen, die um Themen wie Ressourcenkontrolle und Sicherheit in den Gemeinden mobilisiert werden, sind eine weit verbreitete Reaktion auf die ›Politik der Plünderung‹« in einer »politischen Ökonomie des Raubes«, resümieren Gore und Pratten mit Blick auf Milizen, Wachschutzgruppen und Kulte an Universitäten in Nigeria. (7)

Die Plünderung des gesellschaftlichen Reichtums ist die Domäne der Staatsklasse. Sie besteht zum großen Teil noch heute aus denselben Akteuren, die bereits vor und seit der Unabhängigkeit in Politik und Wirtschaft afrikanischer Länder mitmischen. Unter anderem mit dem Rekurs auf die Vorzüge und Erfahrungen des Alters versuchen sie, ihre Macht zu legitimieren. Bündnisse mit der »verantwortlichen Jugend«, unter neopatrimonialen Bedingungen freilich äußerst ungleich strukturiert, sind Teil ihrer Taktiken.

Im Nigerdelta bilden zum einen politische Unternehmer aus dem im Zerfall begriffenen Staatsapparat in den Gemeinden und Stadtteilen Jugendgruppen, um vor Ort Dominanz zu organisieren. Insbesondere vor den Wahlen rekrutieren Politiker Jugendliche als militante Wahlhelfer, die sich nicht selten nach dem Urnengang, um ausstehenden Lohn einzutreiben, gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber wenden und somit weniger beherrschbar und manipulierbar sind, als es den Anschein haben mag. Zum anderen organisierten sich Mitte der neunziger Jahre junge Männer (und wenige Frauen) in Wach- und Milizengruppen, um Ressourcen bereitzustellen, die der Staat nicht zu bieten hat: körperliche Unversehrtheit und ein gewisses Maß an sozialem Schutz.

Individualisierte Revolte

Jugendliche in Westafrika sind heute in einer Weise politisiert, wie das in westlichen Gesellschaften kaum vorstellbar ist. Jeder redet über Politik, hat etwas zur Geschichte des Landes zu sagen und eine dezidierte Meinung zu aktuellen Ereignissen und neuesten Gerüchten. Warum, so fragte kürzlich der Politikwissenschaftler William Reno auf einer Konferenz US-amerikanischer Afrikanisten, bleibt die Revolution trotzdem aus? Warum schlägt das, was im Norden der Côte d’Ivoire, in Sierra Leone, in Liberia oder der Demokratischen Republik Kongo als legitime Revolte gegen soziale und politische Ausgrenzung beginnt, innerhalb kürzester Zeit in marodierendes Bandenwesen und Terror gegen jene Zivilbevölkerung um, die zu schützen man angeblich zu den Waffen gegriffen hat?

Extreme Gewalt gegen Zivilisten wird vor allem in jenen Konflikten angewendet, in denen Milizionäre von außen eine tragende Rolle spielen, so Reno. Im Laufe der neunziger Jahre bildete sich in Westafrika eine transnationale Kaste von jugendlichen Söldnern, die ihre Dienste dem anbieten, der sie dafür bezahlt. Die Revolte im Norden der Côte d’Ivoire ist beispielhaft für diese Dynamik. Fand im Jahr 2002 der Aufstand gegen die Regierung Gbagbo unter der Bevölkerung im Norden der Côte d’Ivoire noch starke Unterstützung, schwand diese mit der zunehmenden Aktivität von Milizionären aus Liberia oder Sierra Leone, die von der lokalen Bevölkerung nicht verantwortlich gemacht werden können.

Thandika Mkandawire argumentiert ähnlich, betont aber besonders die urbanen Wurzeln der Rebellionen gegen die postkolonialen Regime. Die meisten Aufstandsbewegungen verfügen über keine oder schwache soziale Bindungen in den ländlichen Gebieten, in die sie sich zurückziehen müssen, falls der Versuch, die Macht zu übernehmen, zunächst misslingt. (8) Zudem sind sie in denselben klientelistischen Organisationsformen gefangen, die auch jene Herrschaft kennzeichnen, die sie bekämpfen; ihre ideologische Basis ist in allen Fällen dürftig.

Viele Jugendliche aus den Diamantenfeldern und ländlichen Gebieten Sierra Leones haben bewusst mit ihren Familien und der Dorfgemeinschaft gebrochen, die ihnen keine Perspektive auf ein respektables Leben boten. Die Legitimation für den Krieg gegen die wechselnden Regierungen wurde in der Folge nicht aus der Bevölkerung gezogen, sondern innerhalb der RUF allein nach dem Vorbild einer Sekte geschaffen. Befreiung war vor allem eine individuelle Angelegenheit. Die Aktivisten der sozialen Bewegungen im Nigerdelta sind angesichts des fortschreitenden Zerfalls des Staates heute vollauf damit beschäftigt, aufstrebende Warlords unter Kontrolle zu bringen, also verantwortlich zu machen.

Ein zweiter Grund für die Tendenz zur Kriminalisierung von Aufstandsbewegungen ist das Vermögen von Akteuren aus der Staatsklasse, die Kategorie Jugend mit ethnischen oder nationalistischen Mobilisierungen zu vermengen und – zumindest zeitweise – in ihren Dienst zu stellen. Die in den vergangenen Jahren äußerst erfolgreiche Mobilisierung der xenophoben »Jungen Patrioten« im Süden der Côte d’Ivoire ist dafür das offensichtlichste Beispiel. Hier findet die Legitimationslogik der Gerontokratie ihre Verlängerung im paranoiden Diskurs zu Indigenen und Siedlern, wenn »Alteingesessene«, nicht selten unter Bezugnahme auf koloniale Anthropologie und den linken Kulturnationalismus der siebziger Jahre, als Zugezogene klassifizierten Bevölkerungsgruppen politische, wirtschaftliche und soziale Rechte absprechen.

Auch im Low-intensity-Krieg des Nigerdeltas droht sich der soziale Widerstand der neunziger Jahre vor allem dort in ethnoregional aufgeladene Machtkämpfe aufzulösen, wo politische Unternehmer und Ölgesellschaften nicht über den Staat, sondern mit Hilfe privater Milizen Dominanz zu organisieren versuchen. Der Bruch mit der alten Staatsklasse und die Schaffung von interner Legitimation war die Voraussetzung für die relativen Erfolge der Kampagne des zivilen Ungehorsams der Movement for the Survival of the Ogoni People (Mosop) unter der Abacha-Diktatur. Der Aufstand der Mosop richtete sich sowohl gegen die Allianz aus Petrobusiness und Staatsklasse als auch gegen die lokale Herrschaft der Chiefs, die sich jeder demokratischen Kontrolle entzogen.

»Dealende Analphabeten«

Glaubt man afrikanischen Politikern, ist die Jugend gefährlich, unverantwortlich, neigt zu unvermittelten Gewaltexzessen und muss gebändigt werden. Die Mitte dieses Jahres von der Regierung in Sierra Leone herausgegebene National Youth Policy charakterisiert jugendliche Ex-Kombattanten so: »Sie sind zum größten Teil Analphabeten und Schulabbrecher, die sich mit Klein- und Drogenhandel, Prostitution und Diebstahl über Wasser halten, (…) sie konsumieren in den allgegenwärtigen Videokinos stündlich westliche Gewalt- und Pornofilme. Das ›neue Opium‹ sind europäische Fußballspiele im Satellitenfernsehen.«

Diese Perzeption einer »gefährlichen Jugend«, verdorben vom »westlichen Kulturimperialismus« und einer imaginierten »afrikanischen Lebensweise« entfremdet, gibt die Richtung für die Demobilisierungs- und Integrationsprogramme vor. Nach dem Ende der ersten Phase des liberianischen Bürgerkrieges und auch in Sierra Leone nach 2002 erfuhren die meisten der ehemaligen jungen Milizionäre eine Wiedereingliederung in genau jenes Leben, dem sie mit ihrer Teilnahme am Krieg entfliehen wollten. »Für Mädchen, die mit dem Eintritt in die Armee oder bewaffnete Gruppen nach Gleichheit oder einer nicht traditionellen Rolle suchten, mag die ›Reintegration‹ in eine Gesellschaft, die sich nicht gewandelt hat, als ein Schritt zurück statt nach vorn erscheinen«, resümieren Brett und Specht. (9)

Ihre Reintegration nehmen einige ehemalige Kämpfer wie auch Kriegsopfer deshalb lieber in die eigene Hand. In Sierra Leone vereinigten sich seit dem offiziellen Ende des Bürgerkrieges beispielsweise viele der jugendlichen Ex-Kämpfer von RUF und CDF in Kooperativen, die den Handel mit Musikkassetten oder den Verleih von Motorrädern organisieren. Frauen in den ehemaligen Brennpunkten des Krieges wie den Diamantenfeldern von Tongo Field, die Männer und Kinder verloren haben, schließen sich in landwirtschaftlichen Organisationen zusammen und bearbeiten Felder, die sie sich oft gegen den Widerstand der Chiefs und lokalen Big Men erkämpfen müssen. Wie unabgeschlossen ihre Emanzipation bleibt, zeigt sich auch daran, dass sie in ihren Vorstand mehrere Männer »als Schutzschild« aufgenommen haben.

Die Mobilisierungen um den Topos Jugend sind tatsächlich gefährlich für die Staatsklasse, die ihre Legitimation vor allem von außen, von internationalen Organisationen, bezieht. Jedoch nicht deshalb, da Jugendbewegungen generell unverantwortlich und unberechenbar handeln würden, sondern weil sie beständig und penetrant Verantwortlichkeit von einem Staat einfordern, der im Austausch für die Befugnis, Regeln zu schaffen und durchzusetzen, Steuern einzutreiben und Rente für die Förderung von Mineralien zu kassieren, wenig bis nichts vorzuweisen hat.

Anmerkungen

(1) Birgit Virnich/Bartholomäus Grill: Krieg der Kinder. Die Zeit, 28. August 2003. www.zeit.de/2003/ 36/Kindersoldaten.

(2) Kampf der Kinder. Unicef-Nachrichten, 3/2003, S. 6.

(3) www.ilo.org/public/english/standards/ipec/publ/childsoldiers/woundedchi…

(4) Vgl. u.a. Rachel Brett, Irma Specht 2004. Young Soldiers. Why They Choose to Fight. Boulder: Lynne Rienner; Krijn Peters, Paul Richards 1998. Why we fight: Voices of youth combatants in Sierra Leone, Africa 68 (2), S. 183–210.

(5) Virnich/Grill

(6) So zum Beispiel Paul Richards u.a. 2004. Social Capital and Survival: Prospects for Community-Driven Development in Post-Conflict Sierra Leone. World Bank Social Development Papers 12; Michael Jackson 2004. In Sierra Leone. Duke University Press; Mats Utas 2003. Sweet battlefields: Youth and the Liberian Civil War. Uppsala: Dissertations in Cultural Anthropology.

(7) Charles Gore, David Pratten 2003. The Politics of Plunder: The Rhetorics of Order and Disorder in Southern Nigeria, African Affairs 102, S. 212.

(8) Thandika Mkandawire 2002. The terrible toll of post-colonial »rebel movements« in Africa: Towards an explanation of the violence against the peasantry, Journal of Modern African Affairs, 40 (2), S. 181–215.

(9) Brett/Specht 2004: S. 134.