Er rettete unsere Seelen

Zum Tod von John Peel. von jörg sundermeier

Nun ist er also tot. Dass der bei seinem Ableben 65jährige John Peel nicht ewig leben würde, war klar, doch niemand dachte daran. Denn er war, nein, ist unsterblich. Und das, obschon er kein Künstler war. Er war, wenn man so will, Kurator für Popmusik. Und daher war er unsterblich. Denn er hat Seelen aus dem Feuer gebetet, mehr als je durch Ablassbriefe hätten gerettet werden können.

Das Feuer, das war die Provinz, die Vorstadt, die Stadt, der Mainstream, der schlechte Geschmack, der gute Geschmack, das verhärmte Stilbewusstsein, das Besserwissen, vor allem das Bescheidwissen, das Feuer war der Terror der unangepassten Angepasstheit, der leeren Revolte. Das Feuer war das Elend der falschen Jugendlichkeit, die einen einfach deshalb, weil man jung war, per se entschuldete und die falsche Befreiung versprach. Die Hölle, das war und ist der Terror des Weitermachens, des sich Einnistens, der fortwährenden Schläfrigkeit, der Selbst- und Geschichtsvergessenheit, die ebenfalls müde, jetzt schon sehr müde existenzielle Erbärmlichkeit jener, die sich immer beraubt wähnen. Der Himmel, das ist und bleibt: das Aufwachen, Aufschrecken sogar, das Wachsein.

John Peel war wach, und er hat geweckt. Mich etwa, vorher allerdings meinen Bruder. Wir, er ist sieben Jahre älter, wuchsen auf in der früheren britischen Zone, nahe Gütersloh, eingelullt von den damals noch halbwegs erträglichen Jugendradioprogrammen des WDR, in denen manchmal Alan Banks, Felix Parbs oder auch Mel Sandock mit seiner »Hitparade« einen Lichtblick darstellten, Moderatoren, die sich zu der von ihnen gespielten Musik verhielten, sie kommentierten. Und doch war es schon ein Ereignis, wenn man bei Sandock mal ein Stück von Madness hören konnte, wo doch sonst nur Mike Oldfields »Moonlight Shadow« lief, Woche um Woche. Banks immerhin machte Verknüpfungen, konnte diesen oder jenen Schachzug von Elvis Costello mit Bob Dylan erklären, oder einen bestimmten Punksong mit Glamrock.

Sie alle aber kamen nicht an gegen John Peel, einmal die Woche auf BFBS, am Wochenende, spät abends, drei Stunden. Mein Bruder nahm einige Sendungen auf Kassette auf, kam so weg von Genesis, Manfred Mann und Pink Floyd, plötzlich schlug sein Herz für Gun Club, Stranglers oder The Specials, gleichzeitig lernte er, dass man die Beatles nicht dafür verachten sollte, dass auch die Eltern dazu mal getanzt hatten. Der jüngere Bruder, ich, lernte mit, verstand aber nicht, er war auch erst zwölf und ein bisschen verliebt in Nena.

Später dann rettete John Peel auch mich. Ich saß im Auto, auf der Rückfahrt aus Bielefeld, allein, nachts, nüchtern und beleidigt, John Peel im Radio, er spielte Franz Beckenbauer, einen peinlichen Fußballsong aus den Siebzigern, und bekam einen Lachkrampf. Oder, ich wieder im Auto, Peel stellte eine »Hey, Mr. Tambourine Man«-Version von William Shatner, genau, dem ewigen Mantafahrer des Universums, Cpt. Kirk, vor und lachte wieder, fuhr mitten im Stück die Regler herunter und lachte, lachte Tränen. Wer kann da sauer sein? Wer kann sich da scheiße fühlen? Oder aber man stand auf dem Parkplatz vorm Forum Enger, die Leute nervten, das Konzert hatte noch nicht angefangen, man liebte die Gitarre, wartete auf Blumfeld, dieses komische »One-Hit-Wonder« Tocotronic trat als Vorband auf, entsetzlich damals, grausamer Sound, also ins Auto, was rauchen, und dann Peel hören, er spielt dieses bescheuerte Berliner Terrortrio Atari Teenage Riot, fünf Minuten wurde versucht, die Bässe der billigen Autolautsprecher zu vernichten, man hörte es laut, und draußen brüllte einer: »Technoarschloch!« Wow!

Peel spielte elektronische Musik, Reggae und HipHop, als wir arroganten Provinzkids das noch für Verrat hielten, und er erzog uns, indem er uns was auf die Ohren gab, und das nicht zu knapp. Dazwischen selbstverständlich immer das ein oder andere Stück von The Fall, immer, wenn es eine gab, die neueste Single, immer, wenn es ging, eine neue Anekdote aus dem Leben des Mark E. Smith, daher wusste ich, dass dieser kaum noch Zähne im Mund hatte, obschon es so lang kein Konzert mehr gegeben hatte in unserer Gegend.

Wir machten ein Fanzine, What’s that noise, als ich dazukam, erschien es nur noch jährlich, dafür mit Single, und jede Single wurde brav an Mr. Peel geschickt, klar, an wen sonst. Wenn er ein Stück davon spielte, Locust Fudge oder eine seltene Fall-Liveaufnahme, dann waren wir geadelt. Einmal erzählte Peel leicht verwundert im Radio, er habe Fanpost aus der Mongolei bekommen, das war, wussten wir, Florian, er lebte dort gerade für ein halbes Jahr.

Und dann die Peel-Sessions, man konnte sich, wenn sie denn mal auf CD zu haben waren, gar nicht vergreifen, bei FSK oder, selbstverständlich, The Fall genauso wenig wie bei Attwenger oder Rechenzentrum. Peel war wach, hörte alles, so schien es, und Gerüchte – ich habe sie nie überprüft – besagten, dass seine Plattensammlung ein Lagerhaus in London füllen würde. Das war nicht unwahrscheinlich, angesichts dessen, was er von Bielefelder Bands bekommen hatte, damals, als Bielefeld das deutsche Seattle sein wollte, nur dass es kaum Drogen gab und kaum Szene, Bielefeld eben.

Dann seine Stimme. Selbst ein doch irgendwann manieristisches Ding wie »Radio Inferno« von Andreas Ammer und FM Einheit gewann dadurch, dass Peel hier den Moderator gab. Lakonisch, eine tiefe Stimme, Typ Papi, nur das, was er sagte, passte nicht zu Papi, denn dieser Moderator wollte nichts herbeizwingen, niemanden erziehen, es war immer ein bisschen so, als ob einem ein Nerd Platten vorspielt, man sitzt daneben, was soll man schon sagen, man hört den Geschichten zu, und wenn man dieses Stück nicht mag, dann hört man halt nicht hin, kommt ja gleich was neues, besseres, anderes.

Eine Peel-Show ließ die Hörerinnen und Hörer nicht unbefriedigt zurück, hier wurde man satt, und man verspürte nicht einmal blinden, gehorsamen Kaufzwang danach, man war ja zufrieden. Wenn man sich doch diese oder jene Platte holte, vielleicht doch holen musste, dann eher, weil man noch mal so satt, so berührt, so getroffen, so verstört sein wollte.

Wenn wir uns dann trafen später, im Forum, im Sounds, im AJO und wie die Läden alle hießen, dann konnte man bei Michael, bei Monika, bei Florian und all den anderen voraussetzen, dass sie die Show gehört hatten, die Wiederholung, und selbst wenn sie sie verpasst hatten, nicht »mitgeschnitten«, wie man damals sagte, wussten sie doch, wovon man redete, warum man leuchtete.

Später habe ich nicht mehr so oft Peel gehört, insgesamt weniger Radio, doch dann war ich bei Monika, Peel lief, wir redeten dann gar nicht viel, rauchten, tranken, rauchten noch mehr und sagten so unglaublich interessante Sätze wie: »Die waren aber auch schon mal besser.« Oder Monika erzählte, was Peel vor zwei Wochen von sich gegeben hatte, eine gute Anekdote, wir lachten also. Undundund. Unsterblich, wie gesagt, John Peel lebt im Äther weiter, grüßt Kant dort, oder er lebt in uns. Auf jeden Fall lebt er.