Ah, diese Nichtstuer!

Dirk Wittenborns Roman »Unter Wilden« handelt vom wahren Leben im falschen. Von Peter Praschl

Wie ein gutes Leben geht, wissen nur die Kommunisten und die Reichen. Irgendwo in der »Deutschen Ideologie« gibt Karl Marx Auskunft darüber. Die kommunistische Gesellschaft, heißt es, »macht mir möglich, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu sein«. Das klingt nach einer Mitgliedschaft in einem Country Club. Oder bei den glücklichen Arbeitslosen.

Leider aber hat der durchschnittliche Linke vom Kommunismus ebenso wenig Ahnung wie vom Reichsein. Ersterer ist ihm ein Vorwand, sein moralisches Distinktionsbedürfnis und seinen Sinn fürs Allgemeine heraushängen zu lassen, zweiteres ein beständiger Anlass für Abscheu und Empörung. Ah, diese Nichtstuer, die nur an sich selbst denken! Ah, diese Blutsauger, die mit ihren Privilegien nichts anzufangen wissen! Ah, diese Schnösel, die nicht einmal eine anständige Dekadenz hinbekommen! Und wahrhaft glücklich, das weiß man ja, werden sie auch nicht. Wahrscheinlich gibt es kein strengeres Verbot in der Literatur (ohnehin oft genug die symbolische Rache des Kleinbürgers an den höheren Ständen) als jenes, niemanden gut finden zu dürfen, der es sich umstandslos gut gehen lassen kann. Am Ende muss der Reiche sich entweder läutern oder untergehen, triumphieren immer die wahren, die inneren Werte.

Dabei ist der Reiche schon längst in dem Paradies, in das der Kommunist erst hinein will. Weil er so viel Tauschwerte besitzt, muss er sich nur noch über Gebrauchswerte den Kopf zerbrechen (welcher Privatjet, welche Droge, welcher Swimmingpool ist am allerbesten?) und kann sich ansonsten den wirklich wichtigen Dingen widmen, bei denem einem Geld und Macht tatsächlich nicht helfen, dem Verliebtsein etwa, der Freundschaft, der ästhetischen Selbstvervollkommnung oder der Bekämpfung von existenzieller Langeweile. Reiche unter sich sind, tendenziell jedenfalls, die einzige egalitäre Bruderschaft, in der der ganze Besitzscheiß niemanden beeindruckt und in der es nur noch darauf ankommt, einander möglichst gelungen zu unterhalten.

So ungefähr geht es auch in der Gesellschaft zu, in die es den 15jährigen New Yorker Finn Earl in Dirk Wittenborns Roman »Unter Wilden« verschlägt. Finns Mutter, eine Eso-Masseuse mit Hippie-Ethos, sorgenfreiem Sexleben und gigantischem Koks-Konsum (das Buch spielt 1978, als die diversen Lüste noch safe waren), gerät in Schwierigkeiten mit der Polizei und muss in eine Superreichen-Kolonie in New Jersey fliehen, die von ihrem besten Klienten, dem greisen Milliardär Ogden C. Osborne, betrieben wird.

Die Rasen sind streichholzkurz geschnitten, die Anwesen kommen ohne Klingelschilder aus und sind von jenem unaufdringlichen Geschmack, der Landhaus-Zeitschriften durchweht, und die Tage sind ein langer ruhiger Fluss aus Sport, Partys, ein bisschen Kiffen, ein bisschen Flirten.

Zu seiner eigenen Verwunderung wird Finn, der so unschuldig durch Wittenborns Roman stapft wie eine Salinger-Figur oder Huckleberry Finn (ja, der Name ist eine Anspielung), von den Rich Kids am Ort als ihresgleichen adoptiert. Sie haben dasselbe Interesse: das eigene Entertainment befördern, dem ewigen Kreislauf von Golfturnieren und Geburtstagsparties im Country Club entkommen. Finn verliebt sich in Osbornes Enkelin Maya, und ein paar Monate lang umtanzen die beiden einander so sehnsüchtig, dass man sich wünscht, sofort wieder fünfzehn zu sein, nach Apfelshampoo und endlosen Sommernachmittagen zu riechen und all den desillusionierenden Liebeskram erst noch vor sich zu haben.

Es ist eine grandios naive Welt, die Wittenborn vorführt. In ihr kommt es nicht darauf an, was man hat (man hat ja, und zwar alles), sondern einzig und allein, wie man ist: Wie soll man miteinander reden, wie geht Freundschaft, wie geht Liebe, wie gibt man einander zu erkennen, wie unterhält man einander? Und immer wieder fragt man sich, wann denn diese verwöhnten trust fund babies endlich so statusbewusst und warenfetischistisch sind, wie sie zum Beispiel in der Popliteratur permanent beschrieben werden. Aber es fällt kein einziger Turnschuhname, es kommt zu keinem einzigen Meine-CDs-sind-cooler-als-deine-Wettbewerb, es gibt kein Trophäen-Geprotze. Da oben braucht man so etwas nicht.

Schon klar, dass so etwas nicht gut gehen kann. Niemand würde ein Buch lesen wollen, in dem die happy few am Ende nicht bestraft werden, und ein Bildungsroman ist bekanntlich ohnehin dazu da, dass die Moral triumphiert und nicht die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft. Und so macht sich denn Wittenborn in der zweiten Hälfte seinen Romans daran, das Paradies, in das er seinen Holden-Nachfolger geworfen hat, mit aller Gründlichkeit wieder zu zerstören.

Der Bruder der Geliebten entpuppt sich als Bösewicht, vergewaltigt Finn, schläft mit der eigenen Mutter, tut alles, um das Liebespaar wieder auseinanderzubringen, wird schließlich zum Brandstifter und beinahe zum Mörder. Fast ist es, als wollte Wittenborn 200 Seiten lang Buße tun dafür, sich einen halben Roman lang etwas gegönnt zu haben, was sich beispielsweise die deutsche Literatur in all ihrer Kleinlichkeit nie und nimmer gönnen würde: das Leben der Superreichen zu einem Modell des angenehmen Lebens zu machen.

Man hat ihm verziehen: In den US-Feuilletons gilt Wittenborn aus unerfindlichen Gründen als eine Art zeitgenössischer Dickens und Kronzeuge gegen die super rich, und dankbar sagt man ihm all die Klischees nach, die sich immer dann einstellen, wenn es um Leute geht, die so vermögend sind, dass sie nie wieder arbeiten müssen: Er hätte gezeigt, dass die Reichen innerlich verrottet sind und all das viele Geld nicht bessere Menschen macht.

Dabei hat sich der Mann nur einen Bösewicht ausgedacht, der zufällig aus der vermögenden Klasse stammt. Am Ende von »Unter Wilden« erbt der junge Finn, der in seinem Sommer bei den Reichen glücklich defloriert wurde, sich unsterblich verknallt und die ersten abgründigen Gespräche seines Lebens geführt hat, das Vermögen des Milliardärs und kann weiter machen. Weiter machen heißt: ein Leben führen, in dem es um Gebrauchswerte geht und Geld keine Rolle mehr spielt. Ganz, wie es sein sollte.

Dirk Wittenborn: Unter Wilden. Aus dem Amerikanischen von Hans Wolf. DuMont, Köln 2003, 414 S., 22,90 Euro