Karaoke und Nation

Die chinesischen Intellektuellen seit 1989

Als die chinesischen Studenten im Frühjahr 1989 den Trauermarsch anlässlich des Todes des Reformers und abgesetzten Ministerpräsidenten Hu Yaobang zu Demonstrationen für bessere Studienbedingungen und weniger Bürokratie nutzten und sich diese Demonstrationen bald zu einer politischen Bewegung von landesweiter Tragweite entwickelten, wandelten sie auf historischen Spuren.

Schon einmal, 1919, hatten chinesische Studenten ein politisches Ereignis zum Anlass genommen, in diesem Falle die Vergabe der ehemaligen deutschen Kolonie Qingdao an Japan infolge des Versailler Vertrags, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Die »Vierte-Mai-Bewegung«, die sich daraus entwickelte, gilt als die Geburtshelferin des modernen China. Auch wenn die Initiatoren der Besetzung des Platzes des Himmlischen Friedens (Tian’anmen) sicherlich nicht mit dem Ziel antraten, Geschichte zu schreiben, gab ihnen die plötzliche Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, das lange ersehnte Gefühl historischer Wichtigkeit.

Denn die Studentengeneration von 1989 war im 20. Jahrhundert bis dahin die einzige, die nicht chinesische Geschichte geschrieben hatte. Die Studentengeneration der dreißiger Jahre kämpfte gegen die Japaner und war maßgeblich am Erfolg der Kommunisten im Bürgerkrieg beteiligt. Anfangs der fünfziger Jahre waren es die jungen Intellektuellen, die entscheidend für den Erfolg der frühen Aufbaujahre der Volksrepublik China waren. Die Studenten der Sechziger verschrieben sich Mao Zedong und der permanenten Revolution, sie stürmten die Universitäten und Schulen, verprügelten ihre Lehrer und fanden sich ein paar Monate später in den den Bauernhöfen, den Keimzellen der Revolution, wieder. Die postkulturrevolutionäre Generation schließlich war mit ihrem Enthusiasmus maßgeblich am Erfolg der ersten Reformdekade beteiligt.

Es blieben die »89er«, die sich als erste Generation seit 80 Jahren stabiler Studienbedingungen erfreute, sich andererseits jedoch in einer gesellschaftlichen Situation befanden, die ihnen jeglichen Einfluss verwehrte. Die Revolutionshelden um Deng Xiaoping waren Vorbilder, der Lange Marsch war ein Heldenepos und die Revolution sowie die Geschichte der KP wirkten dank Groschenromanen und Filmen in der Fantasie der Studenten. Sie bedienten sich des Duktus der historischen Vorbilder, traten auf wie sie und träumten von ihrer eigenen Revolution.

Bezeichnend dafür ist die Wortwahl von Chai Ling, einer der Wortführerinnen der Tian’anmen-Besetzung, die sich als Oberbefehlshaberin des Hauptquartiers zur Verteidigung des Tian’anmenplatzes in der Pose einer Revolutionsführerin an die Demonstranten wandte und zum Sturz der illegalen Regierung unter Li Peng aufrief. An dieser Stelle sei auf den Film »The Gate of Heavenly Peace« hingewiesen, der bis heute die beste Dokumentation der Ereignisse von 1989 ist und ein unvoreingenommenes Portrait der Proteste und ihrer Protagonisten zeigt (das komplette Transskript findet sich im Internet unter www.tsquare.tv/film/transcript.html).

Es ist die traurige Ironie der Ereignisse von 1989, dass die Studenten im Bestreben, ihre Vorgänger nachzuahmen, mit ihnen auf Konfrontation gingen. Bis zuletzt hofften sie auf das Verständnis der Regierung und waren umso geschockter, als die Demonstrationen mit militärischer Gewalt niedergeschlagen wurden. Von diesem Schock haben sich die damaligen Studenten, die heute um die 40 sind und häufig zum intellektuellen Mittelstand gehören, nicht mehr erholt. In den frühen neunziger Jahren witzelten viele Pekinger, die Studenten hätten sich in zwei Fraktionen gespalten: in eine, die nur noch Mahjong spiele, und eine andere, die ausschließlich für den Toefl-Test büffele, um das Land in Richtung USA zu verlassen.

Politisch jedenfalls war mit dieser Generation nichts mehr anzufangen. Das war nur anfangs dem Schock von 1989 zuzuschreiben. Mit der Forcierung der Wirtschaftsreformen im Jahr 1993 ergaben sich für Hochschulabsolventen nicht selten ausgezeichnete Karrierechancen im In- und Ausland. Gleichzeitig bot das zuvor eher beschauliche Nachtleben in den chinesischen Städten Möglichkeiten, die Mao Zedong mehr als ein Traktat gegen den bürgerlichen Liberalismus abgenötigt hätten.

Eine Generation von Intellektuellen entdeckte das Vergnügen. In Städten wie Peking oder Shanghai gab es innerhalb weniger Monate plötzlich Nachtbars, Jazzkneipen und schicke Restaurants. Was der Schriftsteller Wang Shuo in den späten achtziger Jahren in der »Pizi-Wenhua«, der »Herumtreiber-Literatur«, beschrieb, war nun für die meisten Intellektuellen erlebbar. Westliche Literatur und ausländische Filme waren Mitte der Neunziger Selbstverständlichkeiten, die man sich in den großen Städten legal oder illegal verschaffte.

Außerdem ließ sich in akademischen Berufen dank einer großzügigen staatlichen Einkommensanpassung und außeruniversitären Jobs gut verdienen. Und wer Geld hatte, konnte in den Westen reisen oder dort studieren. Chinesische Avantgardekunst fand im Ausland reißenden Absatz. Westliche Botschaftsangehörige und Vertreter der Kulturinstitute besuchten die Ateliers der illegalen Avantgardisten des Künstlerdorfes Yuanmingyuan und verhalfen Künstlern zu internationalem Ruhm und bescheidenem Reichtum. Die Filme der so genannten Vierten Generation um Zhang Yimou und Chen Kaige räumten auf den Filmfesten von Cannes bis Berlin zahlreiche Auszeichnungen ab. So ließ sich die politische Bedeutungslosigkeit ertragen.

Trotzdem zeigte sich nach Jahren des Konsums und des Vergnügens, dass der Wille der Intellektuellen zur politischen Partizipation nicht ganz verloren war. Allerdings gelang es der Regierung unter Jiang Zemin, die politischen Ambitionen geschickt auf ein Thema zu fokussieren: auf Chinas Rolle in der Welt. Angesichts des starken internationalen Drucks, dem sich das Land in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wegen der Missachtung der Menschenrechte ausgesetzt sah und den viele chinesische Intellektuelle als ungerecht und überzogen empfanden, wandten sie sich vom Westen ab und einem aggressiven Nationalismus zu.

So war es keine Überraschung, dass der nationalistische Schmöker »China kann nein sagen« zum Kultbuch der späten Neunziger wurde. Die Autoren, mit einer Ausnahme alle Ende 20, Anfang 30, zeichnen in diesem Buch ihren intellektuellen Werdegang nach, von der abgöttischen Verehrung der USA über die emotionale Abhängigkeit von Hollywoodfilmen zu den patriotischen Gefühlen der Gegenwart, die sie zu erbitterten Gegnern der USA und deren Doppelmoral machten. »Nieder mit dem Imperialismus«, »Brennt Hollywood nieder« lauten die Überschriften, und der Leser hat das Gefühl, das Werk käme direkt aus einer Propagandaabteilung der KP.

Tatsächlich gibt es jedoch das Lebensgefühl einer Generation wieder, die nach der Enttäuschung von 1989 und den Jahren der Konsumfixierung auf der Suche nach einem emotionalen Halt den Nationalismus entdeckte, induziert durch die Propaganda der Regierung Jiang, der das nur recht sein konnte.

Der 10. Jahrestag der gewaltsamen Räumung des Platzes des Himmlischen Friedens ging somit auch dank der amerikanischen Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad und den darauf folgenden tagelangen, teils gewaltsamen Demonstrationen in einer Welle des nationalistischen Aufbegehrens fast unbemerkt vorbei.

Auch wenn sich nicht alle chinesischen Intellektuellen dem Nationalismus verschrieben haben, ist er derzeit immer noch vorherrschend. Der Westen wird bestenfalls noch als ökonomisches Vorbild gesehen, die eigene Regierung mangels Alternativen als notwendiges Übel betrachtet. Mit der Verringerung des Altersunterschiedes zwischen der Regierung und der potenziellen Opposition sind auch die ideologischen Differenzen deutlich kleiner geworden.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Zhang Yimou, dessen Filme selten den Weg durch die chinesische Zensur schafften und der mit seiner realistischen Darstellung der chinesischen Geschichte lange Zeit als Nestbeschmutzer galt, im Jahr 2002 mit »Hero« einen Film ablieferte, der mit seiner Glorifizierung des ersten chinesischen Kaisers und des Urvaters der nationalen Idee, Qin Shi Huangdi, ganz nach dem Geschmack der chinesischen Führung ist. Dass es in der jüngeren chinesischen Geschichte kaum ein reaktionäreres Machwerk gibt, kann eine Regierung, die gerade mit der Theorie der »Drei Vertretungen« die nationalen Kapitalisten zum revolutionären Subjekt erhoben hat, nicht stören.

Solange die Intellektuellen keine Macht haben, muss die KP sie nicht fürchten. Trotz der Unzufriedenheit gehören viele Intellektuelle in den Städten immer noch zu den Gewinnern der Reformpolitik. Gefährlich könnten die Intellektuellen der KP nur werden, wenn deren ökonomischer Leidensdruck größer würde. Selbst dann würde es einer potenziellen Opposition jedoch an inhaltlichen Zielen und an einem Programm fehlen. Die Theorie der »Drei Vertretungen« ebnet den Intellektuellen den Weg in die Partei und damit zur politischen Partizipation. Großes Interesse daran ist bis jetzt nicht zu verzeichnen.