Auf dem Sprung

Zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der Volksrepublik China

Seit dem Beginn der chinesischen Modernisierungsdebatte haben äußere Einflüsse eine große Rolle gespielt. Es war der Schock der technischen und militärischen Überlegenheit des Westens, der Mitte des 19. Jahrhunderts chinesische Intellektuelle veranlasste, die eigene Gesellschaft kritisch zu betrachten und den Westen zum Vorbild zu nehmen. Gegen die Theorie der »Totalen Verwestlichung«, die der chinesischen Kultur jegliches Modernisierungspotenzial absprach, setzte sich über die Jahre, wenn auch nie vollständig, ein Ansatz der pragmatischen Nutzung der westlichen Modernisierung durch, der die Möglichkeiten einer technokratischen Moderne bei Beibehaltung der eigenen kulturellen Identität postulierte.

Besonders deutlich wurde das, als mit dem 3. Plenum des XI. Zentralkomitees Ende des Jahres 1978 Deng Xiaoping zum neuen starken Mann der Volksrepublik wurde, der sich für politische Reformen und eine Öffnung aussprach. Nach mehr als zwei Jahrzehnten ideologischem und administrativem Chaos wurde die Regierung wieder pragmatisch. Nach den Desastern des »Großen Sprungs« (1957) und der Kulturrevolution (1966 bis 1969) versuchte die neue Regierung, an die Politik der frühen fünfziger Jahre anzuknüpfen.

Damals hatte die Regierung die so genannte Neue Ökonomische Politik der Sowjetunion vor Augen, und durch die kontrollierte Einbeziehung privatwirtschaftlicher Elemente in kleinen und mittelständischen Unternehmen sollte eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung herbeigeführt werden. Die großen Erfolge, die diese Politik bis Mitte der fünfziger Jahre zeigte, ließ Mao Zedong befürchten, die Kräfte um Deng Xiaoping und Liu Shaoqi würden China zum Kapitalismus führen.

Neben der Angst Maos, an Einfluss in der KP zu verlieren, war der Kampf gegen die so genannten »rechten Kräfte« um Deng der Hauptanstoß für die Kampagnen des »Großen Sprungs« und der Kulturrevolution, die die Volksrepublik in ein politisches und ökonomisches Chaos stürzten. Anfang der siebziger Jahre war China nicht nur wirtschaftlich ruiniert, sondern auch außenpolitisch isoliert.

Trotz großer Anstrengungen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre brachte erst der Tod Maos im Jahr 1976 sowie der Sturz der so genannten Viererbande im gleichen Jahr eine grundlegende Wende in der Politik des Landes. Es dauerte weitere zwei Jahre, bis Deng Xiaoping, in der Kulturrevolution aller Ämter enthoben und interniert, den Großteil seiner Gegner in der Partei ausschaltete und seine Machtbasis als breit genug einschätzte, um seine Politik zu realisieren.

Das bereits erwähnte 3. Plenum war dabei entscheidend. Es wandte sich zum ersten Mal ausdrücklich gegen die Politik Maos (ohne ihn beim Namen zu nennen) und machte mit der Festschreibung der »Vier Modernisierungen« (der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft und Technik sowie der Landesverteidigung) als Leitlinien der Politik der chinesischen Bevölkerung klar, dass die »schrecklichen zehn Jahre« der Kulturrevolution vorbei waren und nun Stabilität in der Regierungspolitik zu erwarten sei.

Den Ausspruch Dengs, dass mit der neuen Politik einige Chinesen zuerst reich würden, nahmen viele als Anreiz, zu dieser elitären Gruppe gehören zu wollen. Die ersten, die diese Möglichkeit bekamen, waren die Bauern. Da ihnen nun erlaubt wurde, wieder eigenen Grund und Boden zu bestellen und einen Teil der Produkte auf so genannten Freimärkten zu verkaufen, erlebte die landwirtschaftliche Produktion rasch eine enorme Steigerung. Dies führte zu einer verstärkten Nachfrage der Bauern nach Konsumgütern, die wiederum zum Wachstum der nicht landwirtschaftlichen Produktion führte.

Bis Mitte der achtziger Jahre kamen vor allem in den fruchtbaren Gebieten Chinas viele Bauern zu bescheidenem Wohlstand. In dieser Zeit fühlten sich jedoch die Städter als Verlierer der Reformpolitik. Ständig steigenden Preisen – während der ersten 15 Jahre der Reformpolitik lag die Inflationsrate selten unter zehn Prozent – standen stagnierende Löhne und Gehälter gegenüber.

Zudem ließ die mit der Machtübernahme Dengs erhoffte politische Liberalisierung, die so genannte »Fünfte Modernisierung« des politischen Systems, auf sich warten. Statt von Meinungsfreiheit waren die ersten Jahre der Reformpolitik von Kampagnen gegen die »geistige Verschmutzung« und die »bürgerliche Liberalisierung« geprägt, die vor allem bei der städtischen Intelligenz unangenehme Erinnerungen an die Kulturrevolution hervorriefen. Es waren also die ökonomische und die politische Unzufriedenheit der städtischen Bevölkerung, die zu den Demonstrationen von 1989 führten.

Entgegen der westlichen Darstellung handelt es sich bei jenen Menschen, welche die Ereignisse von 1989 ausgelöst haben, nur am Rande um eine »Demokratiebewegung«. Zwar forderten die zumeist studentischen Demonstranten auch größere politische Freiheiten. Vor allem aber ging es um höhere Stipendien, bessere Studienbedingungen und weniger Bürokratie, allesamt Forderungen, die schnell von Lehrern und Professoren unterstützt wurden und schließlich auch Widerhall in der städtischen Bevölkerung fanden. Die Städte forderten ihren Anteil an den Reformerfolgen.

Auch wenn das Militär die Demonstrationen im ganzen Land am 4. Juni blutig niederschlug, gehören die Ereignisse von 1989 zu den wichtigsten Wendepunkten einer forcierten Reformpolitik. Der KP war seither klar, dass sie die Stadtbevölkerung nicht auf längere Zeit ruhig halten konnte. Wenn schon keine politischen Freiheiten, so musste man ihr ökonomische Chancen bieten.

Die Rechnung ging auf. Mit seiner Reise in die Sonderwirtschaftszonen des Südens im Jahre 1992 setze Deng ein letztes Zeichen, wie die weitere Reformpolitik auszusehen habe, indem er diese Zonen als Modelle für das ganze Land pries. Die Folgen waren bedeutende Verbesserungen der Investitionsbedingungen für ausländische Unternehmen sowie für chinesische Privatpersonen, die deutliche Anhebung der staatlichen Löhne und Gehälter sowie eine Politik des »Deficit Spending«.

In den folgenden Jahren bis 1998 fiel das chinesische Wirtschaftswachstum jeweils zweistellig aus. In den großen Städten entwickelte sich ein Mittelstand, dessen Lebensstandard durchaus mit dem westlicher Städte zu vergleichen war. Der »Sozialismus mit chinesischen Charakteristika« sah mehr und mehr wie eine soziale Marktwirtschaft aus. Widerstand der Reformgegner um den langjährigen Ministerpräsidenten Li Peng war kaum noch zu erwarten. Obwohl er 1989 formal Oberbefehlshaber der Streitkräfte war, hatte Deng es geschafft, den Mythos zu verbreiten, er sei damals gegen die blutige Niederschlagung der Demonstrationen gewesen.

Die Bevölkerung zeigte sich pragmatisch, versprach Deng doch Stabilität und eine Fortsetzung der Reformen. Als er 1996 starb, stand mit Jiang Zemin ein Nachfolger parat, der wie er zu den »Zentristen« gehörte, jener Gruppe in der KP, die für eine Politik der kontrollierten Öffnung zum Westen stand, weit reichende demokratische Reformen jedoch ablehnte.

Als Staats- und Parteichef schaffte sich Jiang eine Machtbasis, die zuvor nur Mao hatte. Dabei gelang es ihm, die verschiedenen Fraktionen der KP im Gleichgewicht zu halten. Seit dem 16. Parteitag in diesem Jahr haben die Reformgegner zum ersten Mal seit dem Beginn der Reformen keinen maßgeblichen Vertreter mehr im Zentralkomitee, in der Partei haben sie ihre Basis verloren.

Dennoch fällt Jiangs politische Bilanz ambivalent aus. In den zehn Jahren als Ministerpräsident gelang es ihm, gestützt auf einen sorgsam ausgesuchten Regierungsapparat, die richtige Balance von wirtschaftlicher Öffnung und staatlichem Protektionismus zu finden. Auch wagte seine Regierung erste demokratische Ansätze auf kommunaler Ebene und brachte die institutionelle Integration des Landes in die WTO und andere multinationale Gremien ein bedeutendes Stück voran.

Die dringendsten Probleme des Reformprozesses wurden jedoch auch von ihm nicht gelöst. Die Staatsbetriebe sind so defizitär wie vor fünf Jahren, die Arbeitslosigkeit in den Städten steigt, das Gefälle zwischen Reich und Arm, Stadt und Land, Küste und Binnenland (und die daraus resultierende Landflucht) haben die sozialen Probleme in der Volksrepublik drastisch verschärft. Patriotische Appelle und ein gegen den Westen und gegen Japan gerichteter Nationalismus können das kaum verdecken.

Wegen Korruption und Vetternwirtschaft fallen die Steuereinnahmen schon seit Jahren deutlich niedriger als erwartet aus, was die Politik des »Deficit Spending« immer riskanter macht. Zum ersten Mal seit 15 Jahren ging es vielen Chinesen zum Ende der Ära Jiang schlechter als im Vorjahr. Große Veränderungen erwarten die meisten Chinesen von der neuen Regierung unter Hu Jintao nicht. Er gilt als Bürokrat, von ihm wird allenfalls Kontinuität erwartet.

Mit einer Tradition hat die neue Regierung jedoch bereits gebrochen. In der Festlegung ihrer Ziele ist vom Sozialismus nicht mehr die Rede. Einer anderen Tradition bleibt sie jedoch treu. Mit der Theorie der »Drei Vertretungen« ruft sie alle gesellschaftlichen Kräfte zur nationalen Einheit auf, um das chinesische Modernisierungsprojekt zu vollenden.