Tony Blair verliert den Krieg

Sieg im Irak, Niederlage daheim | Pit Wuhrer

In der britischen Geschichte konnte sich der Premierminister in Kriegszeiten der Unterstützung seiner Landsleute immer sicher sein. Doch Tony Blair hat nicht nur die Friedensbewegung gegen sich. Auch große Teile von Labour überlegen, wie sie den Premier loswerden können. Den Tories ist so etwas mit Margaret Thatcher immerhin schon einmal gelungen.

Ganz langsam und im flachen Winkel schwebt der graue Koloss über Wiesen und Hecken hinweg auf die Landebahn zu, dann stauben die Reifen, der Bremsfallschirm knallt auf und die B-52 verschwindet in der Ferne. Nick Barry kramt ein Buch mit schwarzem Umschlag hervor und trägt ein: 10 Uhr 50, alle Bomben abgeworfen, keine besonderen Vorkommnisse. Einmal, sagt er, sei eine B-52 mit Motorschaden zurückgekehrt, mit den Bomben noch unter den Flügeln: »Die muss was abgekriegt haben.« Während 200 Meter entfernt Soldaten einen Hänger mit zwei JDAM-Bomben unter eine B-52 schieben, rekapituliert Barry die letzten Ereignisse: 20. März, Kriegsbeginn, 10 Uhr 20, acht B-52 abgeflogen; danach durchschnittlich vier Starts pro Tag; Ladung jeweils 50 Bomben. »Wenn die Angaben über die Gesamtmenge aller Bomben auf den Irak stimmen, dann hat rund ein Viertel aller Abwürfe hier seinen Ausgang genommen«, sagt Drew Withington. Die US-britische Luftwaffenbasis Fairford spielt damit im angloamerikanischen Angriffskrieg eine wesentliche Rolle. Denn für die B-52, die schon Vietnam mit Bombenteppichen eindeckten, gibt es außerhalb der USA nur drei Stützpunkte – Guam im Pazifik, Diego Garcia im Indischen Ozean und Fairford in der westenglischen Grafschaft Gloucestershire.

Deswegen sind sie hier. Nick Barry war einer der ersten. Noch bevor die Bomber aus den USA eingeflogen waren, hatten er und andere am Tor Nummer 10 ein Friedenscamp aufgeschlagen. »Man muss doch etwas tun gegen diesen Wahnsinn«, sagt der 35jährige, der seine Arbeit als Krankenpfleger auf zwei Tage in der Woche reduziert hat und die übrige Zeit hier verbringt. Auch Withington kehrt regelmäßig an seinen Arbeitsplatz in einem Altersheim zurück. Der 24jährige Splash hingegen hat seinen Verkäuferjob gleich hingeschmissen und das kleine Lager mit den 14 Zelten zu seinem Wohnsitz gemacht (mit Genehmigung der Regionalverwaltung, die das Camp trotz politischen Drucks von oben toleriert und ihm sogar eine eigene Postleitzahl zuwies). Viele der rund 20 CamperInnen im Alter zwischen 15 und 50 haben zum ersten Mal einen so weit reichenden Schritt unternommen, der ihr bisheriges Leben über den Haufen warf.

Sie sind hier, um ihren Protest zu demonstrieren, aber auch um zu beobachten. Dabei fiel ihnen so manches auf. »Die B-52 führen unter jedem Flügel sechs gelenkte JDAM-Bomben mit 1 000-Kilo-Sprengköpfen«, erläutert Drew Withington. Das ist bekannt. »Weniger bekannt aber ist, dass auch Mk-82-Bomben geladen werden, für die es keine Steuerung gibt. Die fallen einfach herunter, die unterscheiden nicht zwischen Palästen und Hütten. Vielleicht werden die ja nur über der Wüste abgeworfen, aber das glaube ich nicht.«

Zucker in den Tank. Während Nick und Drew erzählen, bemalt Brenda ihre Gesichter. Heute hat das Camp Geburtstag, und der muss gefeiert werden, erst mit einer Demonstration und dann mit Bier und Kuchen. Und da es hier »meist schrecklich langweilig ist« (Nick) – an das mächtige Polizeiaufgebot haben sie sich schnell gewöhnt –, schlüpfen die Jungs mit dem Friedenszeichen im Gesicht in Frauenkleider und begeben sich auf einen filmreifen Marsch: vorne ein Mannschaftswagen der Polizei, hinten ein Mannschaftswagen, und dazwischen acht Leute, die den Soldaten innerhalb der mehrfach verstärkten Umzäunung zurufen: »Hallo Süßer!« – »Willst du meine Telefonnummer?« – »Ich habe mir extra die Beine rasiert!« Das US-Wachpersonal reagiert weniger amüsiert. »Die sind verunsichert«, sagt Nick. Vor einigen Wochen schlich sich ein älteres Paar, beide Quäker, auf den Stützpunkt und beschädigte 30 Fahrzeuge (Zucker in den Tank, Sand ins Öl); kurz danach war ein Demonstrant, der sich durch den Zaun geschnitten hatte, mit einem Vorschlaghammer in der Hand auf eine B-52 losgegangen. Auch die Besuche der Waffeninspektoren von Gloucestershire, die allmonatlich in weiße Overalls gekleidet vor dem Haupttor des Stützpunktes auftauchen und die Massenvernichtungswaffen sehen wollen, sorgten für Aufregung. »Ab Herbst wurden hier klimatisierte Hangars für B-2-Tarnkappenbomber gebaut«, sagt Drew, »aber wegen der Proteste haben sie die B-2 dann doch nur in Diego Garcia stationiert.«

Kriegsverbrecher Blair. Kate Shuckburgh ist eine freundliche alte Dame. Die Rentnerin steht seit Stunden allein am Haupttor der Basis und hält ein Schild mit der Aufschrift »US Air Force go home«. Sie komme jeden Tag hierher, das sei halt ihre Form des Protests. »Blair hätte den Krieg verhindern können«, sagt sie. Wird sie wieder Labour wählen? »Es kommt darauf an, wer die Partei bei der nächsten Wahl anführt.«

Nicht alle formulieren ihren Widerspruch so dezent. »Ich habe mich noch nie so sehr für diese Regierung geschämt«, sagt Diane Abbott, die 1987 als erste schwarze Abgeordnete ins Unterhaus gewählt wurde, auf einer Antikriegsveranstaltung in ihrem Wahlkreis Hackney. »Das ist Mister Blairs Krieg, und das Blut, das jetzt vergossen wird, klebt an seinen Händen.« Noch einen Schritt weiter geht das Magazin Labour Left Briefing, das sich vor allem an Parteimitglieder richtet. Sein letztes Titelbild zeigt ein Foto des Premiers, darunter: »Kriegsverbrecher«. Das sehen viele genauso – jedenfalls gibt es derzeit kaum eine Versammlung, kaum eine Kundgebung, auf der nicht verlangt wird, Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.

Die Empörung über den Krieg hat »Schwarze und Weiße, Christen und Muslims, Stadt und Land geeint«, sagt die Abgeordnete Abbott. Am 15. Februar war die größte Demonstration in der Geschichte des Landes, am 22. März die größte Demonstration, die es je zu Kriegszeiten gegeben hat, dazu massiver Widerstand in der Labour-Fraktion, und ein Ende der Proteste ist nicht absehbar. Vor allem die Minderheiten im Land sind wütend. Tony Blair habe doch seine Argumente gewechselt wie andere ihre Hemden, nur um rechtzeitig in den Krieg zu ziehen, sagt Mehmet Berker. »Er will, dass man seinem Urteil vertraut, aber er hat zu oft gelogen.« Im Büro des Architekten Berker denken alle so. Der Premier verliert derzeit offenbar nicht nur die Unterstützung der ImmigrantInnen, die seit je für Labour votierten, sondern auch jener Schichten, die er einst heftig umworben und an deren Interessen er seine Politik ausgerichtet hat.

Diese Stimmung zeigt sich auch in Meinungsumfragen. Vor dem Krieg hatten sich über 70 Prozent der Befragten gegen einen Krieg ohne Uno-Mandat ausgesprochen. Als der Angriff begann, stellten sich jedoch 59 Prozent hinter Blair – und für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde dessen Rechnung aufgehen. Einen Großteil der Medien hat er auf seiner Seite: die TV-Anstalten inklusive BBC (»Blair’s Broadcasting Corporation« wird sie von Kriegsgegnern mittlerweile genannt), die auflagenstarken Zeitungen von Rupert Murdoch (Times, Sunday Times, Sun, News of the World), den erzkonservativen Daily Telegraph, die Revolverblätter Daily Express und Daily Mail. Dieser Seite mit einer Gesamtauflage von zehn Millionen Exemplaren pro Tag stehen nur drei Zeitungen mit knapp drei Millionen Auflage gegenüber: der Daily Mirror, der Guardian und der Independent. Zu Jahresbeginn haben sich viele gefragt, wieso Blair, der doch so viel auf Umfragen gibt, die weit verbreitete Skepsis der Bevölkerung ignoriert. Nun wissen sie es: Noch viel wichtiger als die Meinung der Menschen ist für Blair die Meinung der Verleger.

Im April fiel die Unterstützung für den Kriegskurs des Premiers auf unter 50 Prozent. Tony Blair, der für Labour die letzten Wahlen gewann, fällt der Partei immer mehr zur Last. Bestenfalls ein Viertel der Mitglieder stehe noch hinter ihm, schätzt Barckley Sumner, stellvertretender Chefredakteur der parteinahen Wochenschrift Tribune. Die Lage ist dramatisch. In den letzten sechs Jahren verlor die Labour Party über die Hälfte ihrer Mitglieder, seit Kriegsbeginn haben die Austritte nochmals zugenommen. Da viele Gewerkschaften zudem ihre Zahlungen eingestellt haben, droht der Organisation der Bankrott. Ein schneller Kurswechsel und ein Sturz der Führung sind jedoch nicht absehbar. »Labour hat noch nie einen regierenden Premier abgesetzt«, sagt Sumner – dafür gebe es kein Drehbuch. Aber hat nicht Margaret Thatcher nach anhaltenden Protesten gegen geplante Steuererhöhungen für die Ärmsten und nach einer Parteirevolte ihren Hut nehmen müssen? Die Konservativen, sagt Sumner, »sind in dieser Hinsicht demokratischer als Labour«.

Die Suche nach einem Nachfolger. Um Blair zu stürzen, muss eine eigens dafür einberufene Parteikonferenz einen Sonderparteitag beschließen, auf dem die Gewerkschaften, die Unterhausabgeordneten und die derzeit rebellierende Parteibasis über je ein Drittel der Stimmen verfügen. Die Abgeordneten stehen trotz der letzten Revolten mehrheitlich hinter dem Vorsitzenden, die Gewerkschaften sind gespalten. Die Gewerkschaftslinke, deren Vertreter in den letzten zwei Jahren sämtliche Wahlen gewinnen konnten, schaffte es nicht einmal, im Generalrat des Dachverbandes TUC eine Mehrheit für einen gewerkschaftlichen Antikriegskongress zu finden. Angesichts dieser Kräfteverhältnisse sei eine direkte Herausforderung kaum möglich, so Sumner. Nur der innere Zirkel, die »men in grey suits«, könnten Blair einen Rücktritt nahe legen. Die Männer mit Macht sitzen jedoch im Kabinett.

Und wer käme als Gegenkandidat in Frage? Robin Cook, der aus Protest gegen den Irak-Krieg das Kabinett verließ, musste als Außenminister in Blairs erstem Kabinett zu oft zurückstecken und ist zu häufig eingeknickt. Ein netter Kerl, mehr nicht. Clare Short, als Labours linkes Gewissen apostrophierte Entwicklungsministerin, hat mit ihrer erst großartig angekündigten, dann aber stornierten Demission jede Glaubwürdigkeit verloren. Bleibt Gordon Brown, Blairs ewiger Konkurrent. Doch der steht nicht links von Blair. Die Sonderkredite für die Kriegsführung (bisher rund 11,5 Milliarden Euro) stellte er fraglos bereit, als Schatzkanzler ist Brown der Hauptarchitekt einer neuen Privatisierungswelle.

Dennoch glaubt Sumner, Blairs Tage seien gezählt. Über den Krieg aber werde Blair nicht stolpern, sagt er, der Krieg habe den schwelenden Widerwillen gegen Blairs Politik nur auf den Punkt gebracht: »Das ist der Anfang vom Ende.« Gut möglich, dass der Sieg im Irak den Premier beflügelt – und dass auch kein Reporter danach fragt, wo denn die irakischen Massenvernichtungswaffen geblieben sind. Die Rebellion der 139 Labour-Abgeordneten, die den Krieg als illegal und illegitim ablehnten, hat ihre Wirkung jedoch nicht verfehlt. Im April vertagte die Regierung die zweite Lesung eines Gesetzentwurfes zur weiteren Privatisierung des nationalen Gesundheitswesens. »Abgeordnete, die sich einmal gegen die eigene Regierung aufgelehnt haben, tun das beim zweiten Mal viel leichter«, sagt Sumner.

Tony Blair hat mit seinem Kriegskurs viele Scherben hinterlassen. Wie er den Bruch mit den früheren EU-Verbündeten in Paris und Berlin kitten will, ist allen schleierhaft, die seine verbalen Ausfälle gegen Frankreich und Deutschland gehört haben. Im Umkreis des konservativen Oppositionsführers Duncan Smith wird sogar davon gesprochen, dass es wohl besser sei, die EU-Mitgliedschaft gegen einen Beitritt zum nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta einzutauschen – eine ziemlich verrückte Idee, aber nicht ganz abwegig angesichts der Politik der Regierung.

Pit Wuhrer ist Redakteur der Wochenzeitung in Zürich.