Atombunker als Museum der siebziger Jahre

Falls mal was passiert

In der »Dienststelle Marienthal« sollte das Leben nach dem Atomkrieg für 3 000 Politiker und Beamte 30 Tage weitergehen. Heute ist der Bunker ein Museum deutscher Mentalität und Lebensart aus der Zeit des Kalten Kriegs. Bevor es verschwindet, fotografierte Andreas Magdanz das Gebäude.

Als im Oktober 1973 ägyptische und syrische Truppen einen Überraschungsangriff auf Israel starteten, spitzte sich die weltpolitische Lage zu. Unser Klassenlehrer berichtete zu Beginn einer Deutschstunde, die USA und die Sowjetunion hätten ihre strategischen Atomraketen in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Der Dritte Weltkrieg lag aber außerhalb unserer Interessengebiete, und deshalb machten wir uns über die Nervosität unseres Lehrers keine Gedanken.

Für den Fall, dass sich die Lage weiter verschärft hätte, gab es einen Plan. Ungefähr 3 000 wichtige Leute - die Regierung, der Bundespräsident, die Mitglieder des Bundestages, das notwendige Verwaltungspersonal sowie militärische Funktionsträger - wären in die Dienststelle Marienthal eingefahren. Dabei handelte es sich um eine riesige Bunkeranlage, gelegen im romantischen Ahrtal, zwanzig Kilometer vom damaligen Regierungssitz Bonn entfernt. Sie war so eingerichtet, dass ihre Insassen die ersten 30 Tage nach einem Atomangriff unbeschadet hätten verbringen und sogar ihren Amts- und sonstigen Geschäften hätten nachgehen können. 1973 wäre kein schlechter Zeitpunkt gewesen, die Anlage einzuweihen; im Jahr zuvor war sie nach zwölfjähriger Bauzeit fertig gestellt worden. Die in der Nähe vorbeiführende Autobahn 61 hatte man im Abschnitt Meckenheim so konstruiert, dass sie in eine Start- und Landebahn für Düsenflugzeuge umgewandelt werden konnte.

Da der »Ernstfall«, so wurde der Atomkrieg in der Alltagssprache codiert, nicht eintrat, blieb der Bunker 25 Jahre lang lediglich in Bereitschaft. Er war so geheim, dass sogar Handwerker, die für Instandhaltungsarbeiten hinein mussten, kurzerhand verbeamtet wurden und einen Eid zu schwören hatten, dass sie keine Informationen über den Bunker und seine Existenz weitergeben. Als die Zeitschrift Quick 1972 einen Artikel über das Bunkerprojekt druckte, wurden Polizisten zu den Kiosken geschickt, um die gesamte Auflage zu beschlagnahmen. Die Leute im Ahrtal wussten trotzdem Bescheid, auch Erich Honecker hatte Kenntnis von der Dienststelle. Gruppen aus der Friedensbewegung protestierten zu Beginn der achtziger Jahre in der Nähe des Bunkereingangs gegen den Wahn, man könne das Überleben im Atomkrieg planen.

Nachdem die Bundesregierung 1997 beschlossen hatte, die militärische Nutzung des Bauwerks zu beenden, dachte man ergebnislos über eine kommerzielle Nutzung nach. Zur Debatte standen z.B. eine Techno-Disko, ein Münzdepot, ein unterirdisches Erlebnishotel und eine Pilzzucht. Dann wurde der Aachener Fotograf Andreas Magdanz, der sich vor allem für den Zusammenhang von Großtechnologie, Architektur, Verwaltung und kleinbürgerlichen Lebensformen interessiert und zuvor eine eindrucksvolle Dokumentation über die sozialen Zustände im Gebiet des Braunkohletagebaus Garzweiler gemacht hatte, durch eine Notiz im Handelsblatt auf die Liegenschaft aufmerksam.

Ohne größere Probleme erhielt Magdanz von den zuständigen Behörden die Genehmigung, in Marienthal zu fotografieren. Die ursprüngliche dreitägige Frist wurde bald aufgehoben, und zwischen Oktober 1998 und Juni 1999 war Magdanz viermal wöchentlich im Bunker und belichtete zirka 1 000 Großbild- sowie 500 Mittelformatnegative, die meisten schwarzweiß. Arrangiert oder zusätzlich ausgeleuchtet hat er nichts. »Mich interessiert«, so Magdanz, »nur der Ist-Zustand. Oder so etwas wie die Beseeltheit leerer Räume.«

Das Stollensystem hat eine Gesamtlänge von 19 000 Metern, es gibt 25 000 Türen. Die in fünf autarke Sektionen unterteilte unterirdische Fläche umfasst 83 000 Quadratmeter mit 936 Schlafzellen, 897 Büros, fünf Großkantinen, fünf Kommandozentralen, fünf Sanitätskomplexen, zwei Fahrradhallen, einer Druckerei, einem Friseursalon und einem Raum für ökumenische Gottesdienste. Hinzu kommen Werkstätten, Fahrstühle, Treppenhäuser, Fernmeldezentralen, Versorgungsschächte sowie Lager für Nahrungsmittel und für technische Ersatzteile, von denen 20 000 Stück bereitgehalten wurden. Der »Ausweichsitz für die Verfassungsorgane des Bundes«, so hieß das Bunkersystem im amtlichen Sprachgebrauch, verfügt auch über einen »Plenarsaal«. Einzelkammern waren nur für den Kanzler und den Bundespräsidenten vorgesehen, alle anderen hatten auf doppelstöckigen Pritschen zu nächtigen. »Marienthal«, so Magdanz, »erschließt sich nicht. Noch kürzlich habe ich eine riesige Postzentrale entdeckt, auf die ich zuvor nie gestoßen war.«

Eine Auswahl seiner Fotos hat Magdanz in einem Buch versammelt, das er im Eigenverlag herausgibt. Außerdem drehte er einen einstündigen Videofilm, eine Kamerafahrt durch die endlosen Gänge, unterlegt mit Originalgeräuschen, industrial noise, der von hydraulischen Türen, akkustischen Warnsignalen und anderen technischen Apparaturen erzeugt wird. »Marienthal«, sagt Magdanz, »ist eingefrorene Kulturgeschichte, Technikgeschichte und Militärgeschichte. Ein gigantisches Museum.«

In der Tat dokumentiert das gesamte Ensemble die soziale und mentale Verfassung Westdeutschlands während der sechziger und siebziger Jahre. Die in Rot und Orange gehaltene Sitzecke repräsentiert das moderne Wohnzimmer, die technischen Apparaturen stehen für die fordistisch geprägte Ingenieurskunst der letzten Wirtschaftwunderjahre, der weiß-blaue Friseursalon zeigt den Siegeszug des Kunststoffs an, und die Kargheit der Büroräume erinnert an die schiere Zweckförmigkeit moderner Staatsverwaltung.

Die Wände des Saals, der die »Nukleare Lagezelle« beherbergt, sind mit großformatigen Landkarten bestückt. Die Landstriche, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg abtreten musste, stehen dort »unter fremder Verwaltung«. In einem Stahlschrank lagern zahllose orangefarbene Magnetsticker, mit denen die militärische Lage markiert werden sollte. Sie tragen Aufschriften wie »Strat. Reserve«, »Abriegelungsoperation«, »Verstärkungslandung« oder »Terroristen / Extremisten«.

Als Magdanz den Bunker besichtigte, war er bald davon überzeugt, dass man dieses Biotop oder zumindest Teile davon konservieren und der Öffentlichkeit zugänglich machen müsse. Er schrieb an den damaligen Kulturminister Michael Naumann, erhielt aber den Bescheid, eine Förderung des Projektes sei »nicht von bundespolitischer Bedeutung«. Auch bei anderen Politikern fand Magdanz kein Gehör, machte dafür aber die Erfahrung, dass ungern über Marienthal gesprochen wird. Manche prominente Teilnehmer der jährlich abgehaltenen Übungen leugneten sogar, den Bunker je betreten zu haben.

Mehr Aufmerksamkeit fand Magdanz bei den Medien. Zeitungen und Fernsehsender berichteten ausgiebig, ein TV-Beitrag des britischen Militärsenders BFBS stellte fest, »deep inside the Marienthal hills« gehe es zu wie am »James Bond filmset«. Das Rheinische Landesmuseum Bonn zeigte eine Ausstellung zum Thema, die vielleicht demnächst auch in anderen Städten zu sehen sein wird. Auch Magdanz' Homepage zum Projekt wird häufig besucht.

Diese Resonanz lässt ihn hoffen, dass der Beschluss, den Bunker zu fluten, vielleicht doch noch überdacht wird. In der Sache Marienthal sei noch einiges zu erforschen. Etwa der Stellenwert demokratischer Prozeduren. Schließlich wurde das drei bis fünf Millarden Mark teure Bauwerk ohne jede parlamentarische Behandlung beschlossen, und interessant sei doch auch die Frage, wer eigentlich die Befugnis hatte zu entscheiden, welche Personen im Ernstfall in den Bunker gehen durften. Interessant ist auch, dass - nach Angaben der Welt - der ehemalige SS-Offizier Erich Priebke, der später wegen der Erschießung italienischer Zivilisten verurteilt wurde, der erste Sicherheitschef in Marienthal war.

Die zweifellos reizvolle Befragung der Bunkergeschichte wird allerdings künftig ohne Anschauung des Objektes auskommen müssen. Die Räumung der Anlage, 60 Millionen Mark teuer, ist beinahe abgeschlossen, das Interieur bis auf wenige Stücke verschrottet. Demnächst wird die unterirdische Geisterstadt zugeschüttet und geflutet. »Mit welchem Recht«, fragte die taz, »empören wir uns sonst über die verbrecherischen Zerstörungen von Kulturgut durch die Taliban, wenn wir uns der Denkmäler der eigenen Geschichte berauben?« Diese Frage stellt sich auch Andreas Magdanz.

Befremdlich ist noch ein anderer Aspekt. In der Berichterstattung über Magdanz' Projekt wird der »Kalte Krieg« fast durchweg als eine Epoche kollektiven Denkversagens dargestellt. Ironische Distanz dominiert. Die Schlagzeile in der Welt lautete: »Im Gasthaus zum letzten Stündchen«, in der Süddeutschen Zeitung hieß es: »Der Bunker ist eine architektonische, politische und militärische Planungs- und Denkgroteske.« Der aufgeklärte Ton legt den Gedanken nahe, der militärische Wahn mit all seinen Absurditäten und seinen verbrecherischen Potenzialen sei aus dem Leben verbannt. In Wirklichkeit hat er sich nur den politischen Erfordernissen angepasst. Falls einst die Kommandozentralen und die Planspiele der gerade entstehenden europäischen Interventionsarmee zugänglich werden, wird wahrscheinlich wieder viel gestaunt. Zum Beispiel über den Schwindel, der im Begriff der humanitären Intervention verborgen war.

Andreas Magdanz: Dienststelle Marienthal. Eine Gebäudemonographie. DM 198. Informationen, Buch und Video unter www.dienststellemarienthal.de