RZ-Ermittlungen in Hagen

Play it again, BKA

Man muss so radikal sein wie die Wirklichkeit, forderten die Revolutionären Zellen. Ein paar Staatsschützer haben sie beim Wort genommen. Eine Polit-Posse aus der westfälischen Provinz.

Seit einigen Monaten ist in der westfälischen Provinz eine Tradition wieder aaufgekommen, die an Zeiten erinnert, als Terrorist für einen Teil der westdeutschen Jugend ein durchaus angesehener Lehrberuf war. Gehörte es in linken Wohngemeinschaften der Siebziger und Achtziger noch zum Alltag, dass gelegentlich die Polizei vorbeischaute, ist dieses Ritual mittlerweile aus der Mode gekommen. Vorbei die Zeit, in der ein Johannes Agnoli formulieren konnte, erst die Ausschreitung mache den demokratischen Charakter einer Demonstration aus.

Seitdem Tarek Mousli und Hans-Joachim Klein in Berlin und Frankfurt jedoch die Kronzeugen geben, erinnern sich staatliche Ordnungsorgane ihrer bewährten Fahndungsmethoden. Dabei soll nicht nur in den Metropolen gegen vermeintliche RZ-Mitglieder, Sympathisanten und andere Linke vorgegangen werden, auch in der westfälischen Provinz hat das BKA seine Putztruppe vorbeigeschickt und möchte so den Nachgeborenen vermitteln, woher einst Gerhard Seyfried die Idee zu seinen Comic-Figuren nahm.

Aber der Reihe nach: Bekanntermaßen hat Klein-Klein über Gott und die Welt geplaudert, so hat er auch Hinweise gegeben, die die Fahnder auf die Spur von Sonja S. und Christian G. brachte. Den beiden mutmaßlichen RZ-Mitgliedern im Rentenalter wird u.a. vorgeworfen, in den Jahren 1977/78 an Brand- bzw. Sprengstoff-Anschlägen auf Zulieferfirmen der Atom-Industrie beteiligt gewesen zu sein. Über zwanzig Jahre hatten die Fahnder keinen blassen Schimmer, wo sich die Gesuchten aufhielten - bis zum 16. Januar 2000. Am 67. Geburtstag von Sonja S. schlugen die Fahnder im Pariser Hotel Central zu. Sie hatten deren angereiste Freunde aus der BRD beschattet und ließen die Party sofort platzen. Vielleicht hätten französische Ermittler taktvoll bis zum Morgen danach gewartet, die BKAler aber hatten es eilig. Und sie machten einen vielversprechenden Fund, der den Namen »Werner R.« ins Spiel brachte. Christian G. hatte sich im Hotel mit einem Pass eingemietet, der auf diesen Namen ausgestellt war. Die Beamten schauten in ihre Datensammlung und beschlossen, gleich am nächsten Tag bei dem auf »Werner R.« angemeldeten Wohnsitz vorbeizuschauen, und so reiste das BKA am 17. Januar nach Hagen, in die Stadt, die auch das Tor zum Sauerland genannt wird.

»Einzigartig und zugleich widersprüchlich mag die Stadt Hagen auf den ersten Blick für ihre Besucher anmuten«, heißt es in der Werbung des Fremdenverkehrsamtes. Und dass die Stadt am südöstlichen Rand des Ruhrgebietes mit einen Wald-Anteil »von sage und schreibe 42 Prozent das Prädikat grünste Großstadt in Nordrhein-Westfalen« verdient. Hagen ist auch die »quirlige Einkaufsstadt«, in der Nena, Extrabreit und Grobschnitt ihre Karriere begonnen haben.

Hagen in Westfalen also. Hier wohnt und arbeitet Werner R., 46, Künstler, Mitglied der IG Medien und der stadtbekannten KünstlerINNENkooperative K und Ehrenbürger der Stadt Hagen. Werner R. hat nie versucht, sich als unauffälliger FDP.-Wähler darzustellen, sondern ist jemand in der »linken Szene« Hagens.

Das linke Milieu Hagens ist überschaubar, seine Fixpunkte sind der 1978 gegründete Buchladen Quadrux, ein Dritte-Welt-Laden, das soziokulturelle Zentrum Pelmke mit Programmkino und Kneipe und die Künstler-Kooperative K. Feste Politgruppen existieren derzeit nicht. Eine Antifa gibt's nur alle paar Jahre mal, eine Anti-AKW-Gruppe, ein Mittelamerika-Kreis und eine Gruppe zur NS-Zwangsarbeit treffen sich gewissermaßen nach Bedarf. Wenn was ansteht, fragt man rum, wer mitmacht, denn man kennt sich ja, die Altspontis, die Grünen, die Gewerkschafter und die Kirchenleute. Eine starke Fraktionierung ist in Hagen unbekannt, die gelegentlich entstehenden Bündnisse sind breit und unkompliziert. Leute, die damit nicht klarkamen, sind in die Metropolen gegangen. Mangels Masse ist man vernünftig. In diesem Milieu ist Werner R. mehr oder weniger aktiv.

Hätten die Beamten des BKA vor ihrer Fahrt ins Grüne ihre Kollegen in Hagen angerufen, hätten sie schnell in Erfahrung bringen können, dass es »Werner R.« tatsächlich gibt. So aber scheinen die BKA-Leute überrascht, dass sie Werner R. antreffen, und zwar nicht in einer konspirativen Wohnung mit Sprengstofflager, wie es sich die Beamten wohl ausgemalt haben.

Am Abend des 17. Januar stürmen Beamte des BKA und des Staatsschutzes in Zivil die Wohngemeinschaft, in der Werner R. seit 20 Jahren lebt. Eine Mitbewohnerin und eine Besucherin müssen sich an die Wand stellen und durchsuchen lassen. Waffen werden entsichert, »zur Eigensicherung der Beamten«. Der Künstler aber ist gar nicht da. Die ganze Inszenierung wiederholt sich also noch mal im Atelier der Kooperative K im Stadtteil Haspe, wo sich Werner R. aufhält.

R. fühlt sich massiv bedroht. Jetzt eine falsche Bewegung, der unachtsame Griff zum Tabak, und der Polizeisprecher wird die Formulierung von der putativen Notwehr bemühen müssen. Weil im Atelier nichts Verdächtiges zu finden ist, werden die sieben Zimmer der WG durchwühlt. Im Zweifelsfall gilt »Gefahr im Verzug«. Der Durchsuchungsbeschluss ist entsprechend weit gefasst: »Ergreifen von Beschuldigten/Gesuchten, Auffinden von Beweismitteln«.

Durchwühlt, gelesen, kopiert, fotografiert und mitgenommen wird in dieser für die Bewohner völlig unkontrollierbaren Situation alles, was den Beamten wichtig erscheint: Fotos, Negative, private Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, Kontoauszüge und Rechnungen, Schmierzettel und Kritzeleien. Immer wieder stoßen sich die Beamten grinsend an: Guck mal hier, guck mal da! Als sich einer der Zivilen auf dem Klo von der Fototapete, die einen Steinewerfer zeigt, provoziert fühlt, wird auch schon mal demonstrativ vor die Schüssel gepisst.

Werner R. geht zunächst von einem Missverständnis aus, das sich hoffentlich bald aufklären werde. Deshalb ruft er zunächst keinen Anwalt an. Wen auch? Hagen hat keinen mit diesen Dingen erfahrenen Juristen. »Hausdurchsuchungen« des Staatsschutzes gehören hier nicht zum Alltag, sogar der Buchladen kam immer ungeschoren davon. Während er hofft, dass der Spuk bald wieder vorbei ist, muss Werner R. sich vor den BKAlern rechtfertigen. Besonders interessieren sie sich für die Unterlagen zu seinem Schweizer Pass, den R. seit 1992 besitzt. R., dessen Mutter Schweizerin ist, beantragte den Ausweis nicht zuletzt wegen einer kleinen Hütte im Tessin.

Der Pass selbst aber ist weg. R. hat ihn seit vielen Jahren nicht mehr benutzt und deshalb auch nicht vermisst. Einen Verdacht, wer ihn entwendet haben könnte, hat R. nicht. Schließlich gehen in Wohngemeinschaften viele Menschen ein und aus, vielleicht habe er ihn auch nur verlegt. Es wäre nicht das erste Dokument, das R. verschlampt hätte.

Den Beamten reicht diese Erklärung nicht aus. Sie wollen R. jetzt - es ist mittlerweile 0.30 Uhr - auf der Stelle zum Verhör mit nach Frankfurt nehmen, wofür R. überhaupt kein Verständnis aufbringen kann. Jetzt sei erstmal gut. Man könne auch anders, lassen die Beamten durchblicken. Nach einigem Hin und Her einigt man sich darauf, dass er im örtlichen Polizeipräsidium Hoheleye in Anwesenheit einer Freundin vernommen wird, und zwar jetzt gleich.

Im Verhör das bekannte Muster: Good cop, bad cop. Ob er Kontakte zur linken Szene habe? Etwas später wird bereits von der »terroristischen Szene« gesprochen. Das Streit-Thema unzähliger Diskursgrüppchen, was denn nun links resp. die Linke sei. Die Beamten scheinen das Rätsel gelöst zu haben und wissen, dass ein Linker ein Mensch ist, der Mitglieder terroristischer Organisationen kennt, kannte oder noch kennenlernen wird.

R. erzählt von seinen »Kontakten zur linksterroristischen Szene«. Mit 16 Jahren habe er in einer Kneipe einen Menschen kennengelernt, der später wegen Mitgliedschaft in der Bewegung 2. Juni verurteilt worden sei. Dann sei da noch die frühere Freundin gewesen, die 1989 verhaftet wurde und für das BKA zum »terroristischen Umfeld« zählt. Und 1975 hat in seiner Kölner Wohngemeinschaft für zwei Wochen Klaus Croissant gewohnt, der zu dieser Zeit in Düsseldorf arbeitete. Es wird sehr viel geredet, die Cops zeigen sich neugierig, konfrontieren R. aber nicht mit konkreten Namen und Fotos.

Um 2.30 Uhr dürfen R. und seine Begleiterin gehen. So richtig glücklich scheinen die Hagener Polizisten über den Auftritt des BKA auch nicht zu sein und fahren die beiden nach Hause. Die Bundespolizisten schauen verständnislos auf soviel Ruhrpott-Solidarität. Anscheinend ist doch nicht alles erfunden, was sich Drehbuchautoren für Schimanski-Tatorte ausgedacht haben.

Am Morgen desselben Tages wird Werner R. erneut zur Vernehmung zitiert. Ob er sich noch etwas zum Pass überlegt habe. Man droht ihm: Wenn er seine Aussage nicht korrigieren würde, könnten ihm im Falle einer Zeugenaussage eines Dritten unangenehme Folgen erwachsen. Unumwunden eröffnen ihm die Beamten, dass sie seine Aussage vom unerklärlichen Verschwinden des Passes für unglaubwürdig halten. Vor allem deshalb, weil er »zahlreiche Kontakte zu terroristischen Personen« habe.

Die Fahnder sind gut gelaunt, der linke Künstler passt nur allzu gut zur Beute-Erwartung der Beamten. Spätestens als einer unmissverständlich droht: »Noch sind Sie Zeuge, das kann sich aber schnell ändern«, ist dies auch R. klar. Er ist nicht mehr der Zeuge, sondern zugleich Verdächtiger, also ein tatverdächtiger Zeuge.

Werner R. beschließt, fortan die Aussage zu verweigern und nimmt sich eine Rechtsanwältin. In Begleitung der Bochumer Anwältin Anne Mayer folgt er einer Vorladung der Staatsanwaltschaft Frankfurt, die ihn vernehmen will. Mayer nimmt an, dass ihr Mandant von BKA und Staatsanwaltschaft nur noch formal im Zeugenstatus gehalten wird. Dass die Ermittlungsbehörden seinen Aussagen keinen Glauben schenken, bedeute, dass er verdächtigt wird, seinen Pass einem mutmaßlichen Straftäter zur Verfügung gestellt zu haben. R. hätte sich damit der Strafvereitelung schuldig gemacht. Als tatverdächtigem Zeugen, so das Argument der Anwältin, stehe R. ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, entsprechend dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand - auch nicht als Zeuge - sich selbst belasten muss.

Als sie diese Begründung dem Staatsanwalt vortragen will, reagiert dieser äußerst ungehalten und fährt ihr über den Mund: »Mit Ihnen red' ich gar nicht!« Die Staatsanwaltschaft will Werner R. auf jeden Fall eine Aussage abpressen und verhängt gegen ihn ein Ordnungsgeld von 1 000 Mark. Nach dem Widerspruch durch die Rechtsanwältin bestätigt das Landgericht Frankfurt am 20. April diese Maßnahme. Werner R. überweist den Betrag am 8. Mai. Die Staatsanwaltschaft lädt ihn wieder nach Frankfurt, der Staatsanwalt droht mit Beugehaft bis zu einem halben Jahr.

Das Amtsgericht weist den Antrag jedoch zurück: »Der Zeuge R. hat das Zeugnis nicht ohne gesetzlichen Grund verweigert.« Die beantragte Beugehaft sei im Übrigen unverhältnismäßig. Von diesem Beschluss erfahren allerdings weder der Betroffene noch seine Anwältin. Die Ermittlungsbehörden scheren sich wenig um den Rechtsstaat und lassen R. über den Gang der Dinge auch weiter im Unklaren. R. wird auch nicht über die Entscheidung des Landgerichts am 4. Juli informiert, wonach die Beugehaft verhältnismäßig sei. Von dem Verfahren und dem Beschluss erfährt die Rechtsanwältin erst durch Nachfrage am 25. Juli. Anne Mayer: »Ein tatverdächtiger Zeuge darf nicht mit Zwangsmitteln belegt werden, sie sind unzulässig und unterfallen der Kategorie der verbotenen Vernehmungsmethoden.«

Was die Methoden betrifft, verfahren die Ermittlungsbehörden nicht zimperlich. Um den Beschluss zur Beugehaft zu vollstrecken, wird nach dem Künstler seither gefahndet. Der drohende Knastaufenthalt nennt sich dann zwar »Zivilhaft«, inwieweit diese sich für den Betroffenen aber von anderen Haftarten unterscheidet, wird wohl nur ein in Distinktionstechniken erfahrener Altknacki wissen. Ob Werner R. in den zweifelhaften Genuss dieser Erfahrung kommen wird, ist offen.

Die Staatsanwaltschaft unterstellt, der Zeuge R. habe »sich der Verhaftung entzogen«. Tatsache ist, dass die Fahnder mal hier klingelten, mal da vorbeischauten, R. aber nicht antrafen. Offensichtlich ist einem deutschen Beamten der Gedanke fremd, jemand könne auch mal ganz spontan in Urlaub fahren, ohne sich ein halbes Jahr vorher beim Dienstherrn die Abwesenheit vom Arbeitsplatz genehmigen zu lassen.

Dass es bisher noch zu keiner Festnahme kam, ist deshalb verwunderlich, weil der Künstler noch bis vor kurzem auf einem Baugerüst in Hagen anzutreffen war, wo er mit einem Wandmalprojekt unter Schirmherrschaft der Unesco beschäftigt war. Die örtliche Presse berichtete regelmäßig darüber, auch über seinen Eintrag ins Goldene Buch der Stadt wegen seines Einsatzes für die »Agenda 21«. Hat ihn das öffentliche Interesse geschützt, oder wollte sich die Stadtverwaltung eine Blamage ersparen? Kaum war das Wandbild fertig, erwachte das Interesse der Fahnder am Aufenthaltsort von R.

Fortan passieren ungewöhnliche Dinge in Hagen. Ermittler schauen mehrmals offiziell in der WG vorbei, fragen, wo sich der Zeuge R. befinde und ob sich der Gesuchte versteckt halte, schauen sich alle Zimmer an und kommen einer Mitbewohnerin mit »Strafvereitelung, falls sich hinterher herausstellen sollte«, sie hätte »doch gewusst ...« Im Übrigen wollen sie nur ihren Vorgang abarbeiten. Nachbarn beobachten drei Leute, die an der Wohnungstür der WG rumfummeln. Zur Rede gestellt, verschwinden sie schnell.

Zwei Zielfahnder besuchen den Polit-Buchladen Quadrux, überwinden ihr anfängliches Fremdeln und versuchen durch haptische Streufahndung alles in die Finger zu bekommen, was nicht niet- und nagelfest ist. Besonders spannend finden sie Arbeiten von R. und Fotos von Ferienhäusern auf Mallorca und Naxos, die am Schwarzen Brett aushängen.

Auch der Staatsanwalt lässt keine Ruhe, er will »die Details über den Weg des Schweizer Passes wissen«, gerade jetzt, wo die RZ-Ermittlungen endlich mehr Geschwindigkeit bekommen hätten. Kann das ein Grund sein, jemanden in Beugehaft zu nehmen?

Christian G. und Sonja S. sind wieder frei. Vorerst zumindest. Beide wurden in Paris am 24. März gegen eine Kaution von je 10 000 Francs aus der Auslieferungshaft entlassen. Das Gericht wertete die bisher von der deutschen Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise zu den 23 Jahre zurückliegenden Anschlägen als zu dünn, sie reichten keinesfalls aus, beide weiterhin in Haft zu halten. Auch der Vorwurf gegen Frau S., sie sei an dem Überfall auf die Opec im Jahre 1975 beteiligt gewesen, konnte nach Ansicht der französischen Richter nicht hinreichend belegt werden. Bis zur endgültigen Entscheidung über den Auslieferungsantrag der Bundesregierung bleiben beide auf freiem Fuß.

Die Hagener Justiz-Posse ist indessen bei der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gegen den Beugehaftbeschluss angelangt. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts hatten kein Verständnis für die Rechtsauffassung ihrer Kollegen vom Landgericht. Diese hätten mit dem Beugehaftbeschluss das im Grundgesetz Art. 2 garantierte Rechtsgut »Freiheit« verletzt. Jetzt dürfen die Landrichter nochmal entscheiden. Ob sie das Kunststück fertigbringen, verfassungskonform dieselbe Entscheidung nochmal zu fällen?