1. Mai als Pop-Event?

Mainstream statt Subkultur

Die autonome Kiez-Romantik zum 1. Mai hatte nie viel mit der Wirklichkeit zu tun.

Wer hört, was Autonome über den 1. Mai sagen, der weiß mehr über den Zustand dieser Bewegung als über das Ereignis. Die Substanz der Autonomen ist die Substanzlosigkeit, ihre politischen Ziele sind jene Ideale von Unabhängigkeit und Individualität, von denen auch die FDP träumt. Sie verschlafen - ob Krieg oder Frieden - jede gesellschaftliche Debatte, die für eine Protestbewegung links der PDS wichtig wäre, weil sie sich für Politik nicht interessieren.

Statt in gesellschaftliche Konflikte einzugreifen, schaffen sie sich selbst Konflikte: Sie verwechseln ihr Privatleben mit Politik und führen unerbittliche Richtungskämpfe, die doch nur soziale Zerwürfnisse sind. An ihren absoluten Ansprüchen gehen sie zu Grunde, um später, angekommen in der bürgerlichen Vernunft, überhaupt keine mehr zu haben. Komplettiert wird diese unangenehme Mischung durch ein exzessives Cowboy- und Indianerspiel: In ihrer Bullenwanne sind sie Kapitän.

Angesichts dieser Anti-Präsenz im politischen Leben wollen die »Unabhängigen« wenigstens einmal im Jahr auf die Kacke hauen. Dann geht es zum Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Das Politische ist freilich auch hier privat: Es handelt sich um erbärmliche Bandenkriegsrituale, in denen die Wortführer der jeweiligen Cliquen mit ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber den falschen Positionen der anderen angeben können wie eine Tüte Mücken. Dieser Strategie liegt offenbar die irrige Vorstellung zu Grunde, eine Protestbewegung sei umso effektiver, je weniger Menschen sich ihr anschließen.

Auch in diesem Jahr haben die Autonomen eine Gefahr entdeckt: Die Beliebtheit der 1. Mai-Demonstration. Denn eine neue Generation von radikalen Linken hat es in den letzten Jahren geschafft, das von den Autonomen längst totgesagte Datum zum wichtigsten linksradikalen Protestfanal zu machen. Die Mittel dazu waren Offenheit statt Abgrenzung, Modernität statt Altbackenheit, Mainstream statt Subkultur. Für die Autonomen kein Grund zur Freude, sondern zur Beschwerde über die Gefahr einer »autonomen Love-Parade«.

Wer selber nichts im Kopf hat, der kann sich immer noch über die »Inhaltslosigkeit« der anderen beschweren, auch wenn dieser Vorwurf nur als Hilfe zur eigenen Identitätsfindung dient. Entsprechend frei von gedanklicher Stringenz ist die Argumentation: In konsequenter Verkennung von Realität und eigener Biografie klagen die Autonomen darüber, dass sich die sozial Benachteiligten verarscht vorkommen könnten, wenn Schüler beim Demonstrieren Markenkleidung tragen und arme Rentner - die man sonst massenhaft beim Steinewerfen sehen konnte - der Demo fernbleiben.

Derlei Kiez-Klassenkampf-Romantik hat natürlich mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Die radikale Linke steht nicht für Machbarkeit, sondern für die konsequente Ablehnung jeder Ungleichheit, die sozial, rassistisch oder geschlechtlich begründet wird. Sie steht für die moralisch richtige Forderung nach der Gleichheit aller Menschen und die Herbeiführung eines Zustandes, in der sie verwirklichbar ist. Die Entscheidung für diese Haltung wird hier auf absehbare Zeit eine moralische und kulturelle bleiben, aber keine, die aus der Not geboren ist. Die radikale Linke steht nicht für Realpolitik: Ihre Anhänger versprechen sich nichts außer der Gewissheit, für die richtige Sache eingestanden zu sein, nicht für Sachpolitik, die den Erniedrigten und Beleidigten ein paar mehr Mark zuwenig in die Tasche wirtschaftet. Wer in zwei Jahren vier Mark mehr Sozialhilfe haben will, geht zur PDS oder ins Spielcasino, aber nicht zum revolutionären 1. Mai.

Dass trotzdem so viele kommen und damit ihre diffuse Unzufriedenheit mit den Verhältnissen symbolisch artikulieren, ist gut und nicht schlecht. Dass ein Grund für ihre Teilnahme auch im Event-Charakter der Demonstration liegt, ist in Zeiten, in denen jede andere linksradikale Demonstration ein organisatorisches, intellektuelles und kulturelles Anti-Event ist, nur verständlich. Nichts ist dümmlicher als das Lamentieren über ein »Pop-Event«. Pop kommt von populär, und Popularität wünscht sich natürlich jede Bewegung, die sich tatsächlich als politisch begreift.

In Wirklichkeit aber ist es die Verbitterung, die die Autonomen aufjaulen lässt. Es ist die Verbitterung darüber, dass sie, die sich einst vor allem als kulturelle Bewegung von einem vermeintlichen Mainstream abgegrenzt haben, kulturell noch so attraktiv sind wie ein Abend mit katholischen Pfadfindern und ihre politischen Aussagen sich als so intellektuell ansprechend erweisen wie ein Esoterik-Kurs. Nichts führt das so sehr vor Augen wie der Erfolg der 1. Mai-Demonstration, die sich von dieser Kultur verabschiedet hat. Und zu allem Ärger wird auf der Demo neuerdings sogar moderne Musik abgespielt, die auch für andere kulturelle Szenen attraktiv ist. Das hätte es in den Achtzigern nicht gegeben.