Redigieren und Schreiben IV

Y2K 1/2

So kann man den Silvesterabend auch verbringen: Im Krisenstab des Innenministeriums sitzen und zugucken, wie nichts passiert.

22.12: Hinter mir Geböller und Grölen Betrunkener, vor mir ein 14stöckiger Glaspalast - das Bundesministerium des Innern. Das Zentrum der Macht. Hinter den Fenstern ist es merkwürdig dunkel, nur in den oberen Etagen brennt Licht. Da sitzt der Y2K-Krisenstab. Wenn in dieser Silvesternacht etwas Unvorhergesehenes passiert, dann wissen die darüber Bescheid. Und ich muss alles daran setzen, es herauszukriegen, es den Stabsmitarbeitern zu entlocken, sie notfalls bestechen. Hauptsache, am Ende kommt eine gute Story heraus.

22.14: Durch zwei Glastüren betrete ich das Haus. An einem Tisch sitzen drei Frauen: eine ältere und zwei Uniformierte des Bundesgrenzschutzes (BGS). Die eine trägt sogar einen Nasenring und überhaupt sind sie sehr fröhlich. Viel zu fröhlich für einen Krisenstab. Die werden doch keinen Alkohol konsumiert haben? Dürfen sie nicht! Ich sage meinen Namen, sie vergleichen mit der Akkreditierungsliste, und schon darf ich hinein.

22.15: Fassungslos sage ich leise zu mir selbst: »Ich bin drin. Das war ja einfach.« Im nächsten Moment ärgere ich mich. Wäre ich berühmt, hätte ich mit diesem Satz viel Geld machen können.

22.16: Mir fällt ein: Der Jahreswechsel ist die Zeit der Vorsätze. Ich beschließe, im Jahr 2000 berühmt zu werden. Fernseh-Erfahrung habe ich ja schon, und wenn heute alles zusammenbricht, bin ich einer der wenigen, die es direkt im Innenministerium mitbekommen. Und bin gut darauf vorbereitet: Bricht das Stromnetz zusammen, haben Radio und Fernsehen keine Chance mehr, und auch die meisten Print-Kollegen sind bestimmt mit ihren Jahr-2000-gefährdeten Laptops angerückt. Ich dagegen habe Papier und Stifte. Viele Stifte. Damit mir die Story meines Lebens nicht entgeht, bloß weil eine Kugelschreibermine den Geist aufgibt.

22.19: Das Pressezentrum des Krisenstabs ist ernüchternd. Etwa 20 Journalisten hängen herum. Den geleerten Flaschen und Gläsern sowie den Tellern mit Essensresten nach zu urteilen, haben sie aber schon für 50 Leute gegessen.

22.26: Habe mich mal umgehört, besser gesagt: recherchiert. Der Krisenstab meldet »keine besonderen Vorkommnisse«. In den Ländern, die wegen der Zeitverschiebung den Datumswechsel schon hinter sich haben, funktioniert alles wie gewohnt. Das kann sich noch ändern: Deutschland gilt als mit am schlechtesten vorbereitet. Schon als das Technische Hilfswerk vor dem Innenministerium einen Notstromgenerator aufbaute, kam es zu einer Panne: Der Generator funktionierte nicht.

22.34: Der Kollege Stoltenberg kämpft mit seinem Handy. »Der Empfang ist hier so schlecht«, beschwert er sich lautstark. Er hat Angst, dass sein D2-Netz zusammenbricht und er seinen Nachrichtentext nicht per E-Mail an die Agentur senden kann. Ich stelle fest: das D1-Netz funktioniert hervorragend. Aber ich biete Stoltenberg bestimmt nicht an, mein Telefon zu benutzen!

22.53: Auf den großen Toshiba-Bildschirmen im Pressezentrum läuft das Programm von RTL und dem Berliner ARD-Sender B1. Das ödet. Ich verlasse den Raum und entdecke die Tür, durch die die Stabsmitarbeiter ein- und ausgehen. »Machen Sie doch bitte mal die Tür auf«, flöte ich dem Pförtner zu. Er macht es tatsächlich. Die Freude währt kurz. Hinter der Tür sitzt ein wachsamer BGS-Beamter. Auf einem Tisch liegen mehr als 50 unbenutzte grüne, rote und weiße Namensschilder der Stabsmitarbeiter herum. Der BGSler schickt mich zwar wieder hinaus, aber ich habe eines genau gesehen: Die etwa 220 Mitarbeiter des Krisenstabes sind gar nicht alle im Haus. Wenn tatsächlich was passiert, wäre das ein Riesenskandal.

22.58: Triumphierend schlendere ich zurück Richtung Pressezentrum. Muss wieder an den ausgelassenen Damen vorbei. Auf dem Tisch entdecke ich ein Glas mit einer sprudelnden gelblichen Flüssigkeit. Sekt im Krisenstab? Schon wieder ein Skandal? Mein Informationsvorsprung wächst ins Unermessliche. Jetzt müsste nur endlich das Chaos ausbrechen!

23.03: Das ZDF schlägt Alarm: Die Telefone im Pressezentrum funktionieren nicht mehr. Geht es los mit dem Millenniumsbug?

23.11: Das ZDF hat entweder gelogen oder kann nicht mit Technik umgehen. Die Telefone funktionieren.

23.27: Stoltenberg macht sich große Sorgen. Er hat schon mal seine Null-Uhr-Meldung fertiggeschrieben und schickt sie der Agentur. »Für den Fall, dass ich nachher nicht senden kann«, erklärt er.

23.45: Aufbruchstimmung: Der Krisenstab bittet uns in den 12. Stock. Vom dortigen Balkon aus blickt man nach Süden auf die blau leuchtende Siegessäule. Sonst ist kaum etwas zu erkennen, wegen des Rauches der schon zu Tausenden gezündeten Böller und Raketen.

23.57: »Ist es schon soweit?« quiekt es rechts und links von mir. Ist es nicht.

0.00: Jetzt! Das Jahr 2000 ist angebrochen, das Problem bleibt aus: Soweit man das vor lauter Feuerwerk überhaupt noch erkennen kann, funktioniert die Stromversorgung. Misstrauisch blicke ich mich nach den Beamten des Krisenstabes um. Nicht, dass jetzt alles zusammenbricht und die Regierung es vertuscht! Oder sie uns hier auf dem Balkon aussperren. Aber die Beamten bleiben locker. Meine Story schmilzt dahin.

0.06: Überall kracht und böllert es. Nur das großkotzige Lichtspektakel »Art in Heaven« ist einfach nicht auszumachen.

0.10: Langsam wird's kalt auf dem Balkon. Alle wundern sich, wo das »Art in Heaven»-Spektakel bleibt. Über 70 Kilometer weit sollte man es erkennen können, weiß einer. Wir sind gerade einmal 900 Meter entfernt und sehen nichts.

0.17: Die Stabsmitarbeiter haben »Art in Heaven« umbenannt: »Fog in Heaven« heißt es jetzt. »Die hatten wohl als einzige ein Jahr-2000-Problem«, spottet ein Kollege. Doch noch eine Skandal-Geschichte?

0.21: Wieder im Pressezentrum folgt die Ernüchterung. B 1 zeigt gerade Live-Bilder von »Art in Heaven«. Statt großer Story nun doch Speer-Revival.

0.41: Die Chefs des Krisenstabes, Brigitte Zypries und Alfred Tacke, tauchen auf und vermelden, aus acht Bundesländern gebe es die Rückmeldung, dass alles in Ordnung ist. Was für eine Nachricht: Es ist alles so wie immer. Und dafür arbeite ich an Silvester?

0.52: Stoltenberg muss die Neuigkeit, die keine ist, tatsächlich per Telefon diktieren. Sein blödes D2-Netz funktioniert nicht. Demonstrativ telefoniere ich ein wenig mit meinem D1-Handy und lächle ihn an.