Krach im Hinterhof

Good bye, America!

Durch eine Schwächung der Nato könnte Deutschland wieder zur dominierenden Macht in Europa werden.

Amerika tappte in der Nacht zum 13. Oktober 1998 in die Falle, als es noch so scheinen mochte, daß sich das Gewaltmonopol der UN ganz ohne Risiko ausschalten und die Nato gefahrlos als künftige Wachmannschaft auf dem europäischen Kontinent installieren ließe.

In dieser Nacht konfrontierte der Nato-Rat die Bundesrepublik Jugoslawien das erste Mal mit einem Ultimatum nach jenem Muster, welches sich knapp ein halbes Jahr später als fatal erweisen sollte. Erst einmal aber gab es Entwarnung. Die jugoslawische Armee wurde schon seit Ende September aus den Kampfgebieten abgezogen, die UCK schien besiegt und der Krieg im Kosovo damit zu Ende. So schien es ohne Belang, daß die militärischen Planungen der Nato trotz monatelanger Vorlaufzeit immer noch nicht abgeschlossen waren, denn für den Fall, daß die zur Machtdemonstration geplanten Angriffe aus der Luft ihre politische Wirkung verfehlen würden, waren keine weiteren Eskalationsstufen vorgesehen. Militärs hatten deshalb damals schon vor dem Verlust an Glaubwürdigkeit gewarnt, wenn die Nato dann nicht bereit sei, die direkte Konfrontation mit der jugoslawischen Armee zu suchen.

Gleichwohl verstärkte auch das Timing, die Vereinbarung mit der jugoslawischen Regierung noch wenige Stunden vor der Entscheidung des Nato-Rats bekanntzugeben, den Eindruck, dieses sei während der seit Tag und Nacht andauernden Verhandlungen zwischen dem US-amerikanischen Sonderbeauftragten Richard Holbrooke und Präsident Slobodan Milosevic so abgestimmt gewesen.

Beide Seiten wollten anscheinend keinerlei Risiko eingehen und glaubten sich dabei auf die militärisch geklärte Lage im Kosovo verlassen zu können. Schließlich hatte die amerikanische Regierung längst zu erkennen gegeben, daß sie Jugoslawien freie Hand bei der Bekämpfung der UCK gewähren würde.

Als einer der ersten hatte Holbrooke selbst im Frühjahr 1998 die Öffentlichkeit auf einen von amerikanischen Außenpolitikern besonders aufmerksam verfolgten Faktor der zunehmenden Eskalation des Kosovo-Konflikts hingewiesen. Die sich seit März zuspitzende militärische Konfrontation sei vor allem darauf zurückzuführen, daß die UCK eine stets zunehmende Menge Waffen via Albanien in das Kriegsgebiet bringen würde; die albanische Regierung sowie "Geldgeber im Ausland" jedoch seien darum bemüht, diese Tatsache zu vertuschen. Die albanische Regierung übe offenbar keine sachgemäße Kontrolle über die Grenze zum Kosovo aus.

Der ranghöchste Nato-Militärbeamte in Europa, der amerikanische General Wesley Clark, hatte in einem inoffiziellen Gespräch mit Journalisten in Washington noch vor dem Treffen der Nato-Außenminister in Luxemburg Ende Mai die sich mehrenden Berichte über eine mögliche Stationierung von amerikanischen Soldaten entlang der jugoslawisch-albanischen Grenze bestätigt. Innerhalb der Nato würde diese Möglichkeit wegen des besorgniserregenden Ausmaßes von Waffenschmuggel ausgelotet. Während einer gemeinsamen Pressekonferenz des amerikanischen und des deutschen Verteidigungsministers in Washington wollte auch William Cohen einen Militäreinsatz zur Unterbindung des Waffenschmuggels nicht ausschließen. Volker Rühe widersprach: "Das eigentliche Problem im Kosovo ist die Diktatur, der Polizeistaat und die fehlende Autonomie für die Kosovo-Albaner. Das eigentliche Problem ist nicht die Grenze zwischen Albanien und dem Kosovo."

Rühe hatte unmittelbar vor dem Nato-Außenministertreffen vor dem Außen- und Verteidigungsausschuß des Bundestages einen Einsatz der Bundeswehr in Albanien oder Mazedonien zur Kontrolle der Grenzen zum Kosovo rundherum abgelehnt. Solche "symbolischen Einsätze" seien gefährlich und führten nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Die Bundeswehr würde sich an keinen Einsätzen beteiligen, "die in ihrer Wirkung darauf hinauslaufen, das serbische Unterdrückungssystem gegen die Kosovo-Albaner zu unterstützen". Im Gegensatz zu der in deutschen Medien verbreiteten Meldung, die Nato plane eine "Intervention" im Kosovo, hatten sich die deutschen Minister in Luxemburg nicht durchsetzen können.

Das am 28. Mai veröffentlichte Kommuniqué referierte vielmehr fast wörtlich die amerikanische Position. Die beschlossenen militärischen Maßnahmen der Nato zielten darauf ab, "Albanien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien bei der Sicherung ihrer Grenzen zu unterstützen". Die International Herald Tribune hatte schon tags zuvor von Plänen der US- Militärs berichtet, in Mazedonien in unmittelbarer Nähe der Grenze zum Kosovo ein Haupquartier zu errichten. Außerdem sollte eine multinationale Truppe nach Albanien entsandt werden, "um den dortigen Verantwortlichen bei der Kontrolle der Grenze zu helfen".

Auch Außenministerin Madeleine Albright hatte die Notwendigkeit derartiger Maßnahmen nicht nur mit der Möglichkeit begründet, daß die Kämpfe im Kosovo sich auf die Nachbarstaaten ausweiten könnten; die Grenzsicherung solle vor allem "Kräfte von außerhalb daran hindern, den Konflikt weiter zu eskalieren". Holbrooke hatte das militärische Vorgehen Jugoslawiens gegen die UCK entlang der Grenze zu Albanien schon Ende April indirekt damit gerechtfertigt, hier sei es darum gegangen, den Nachschub von Waffen und Terroristen zu unterbinden.

Ob die amerikanische Regierung auch die einer Offensive der UCK Mitte Mai folgende jugoslawische Gegenoffensive gebilligt hatte, läßt sich im nachhinein nur vermuten. Denn auch Anfang Juni bestätigte ein Treffen der Nato-Botschafter lediglich die zuvor in Luxemburg gefaßten Beschlüsse. Während Klaus Kinkel eine "zügige Entscheidung der Nato" einforderte, zitierten US-Zeitungen namentlich nicht genannte Nato-Beamte mit der Einschätzung, auch die Juni-Offensive gegen die UCK habe eine klar umrissene Zielsetzung gehabt: "Die Serben setzen die Armee zur Säuberung der Grenzregion ein. Man benötigt eine acht bis zehn Kilometer breite Zone, in der sich keine Leute mehr aufhalten; jeder dort ist ein potentieller Feind. Die dortigen Bewohner müssen ihre Dörfer verlassen, weil sie sonst den Waffenschmuggel unterstützen könnten." Damit stand spätestens Anfang Juli die amerikanische Kosovo-Strategie fest. Man würde dem deutschen Interventionismus trotzen und der jugoslawischen Armee das Feld überlassen. Unter einem Eingreifen der Nato verstand man in den amerikanischen Ministerien ausschließlich die Behinderung des Nachschubs der UCK.

Entsprechend erbost waren die Reaktionen in Deutschland. In einem Gespräch mit der FAZ beanstandete Volker Rühe "das Verhalten derjenigen Außenminister, die öffentlich zwar ein militärisches Eingreifen auf dem Kosovo fordern, innerhalb des Bündnisses aber die dazu notwendigen Schritte verweigern und sich auf symbolische Handlungen beschränken (...). Das Problem Kosovo kann nicht gelöst werden, indem ich Truppen nach Albanien schicke, dort die Grenze zum Kosovo dichtmache und so das Geschäft des Herrn Milosevic betreibe." Wiederholt hätten "Weisungen einiger Länder" den Nato-Rat daran gehindert, die militärischen Stäbe des Bündnisses mit der Überprüfung notwendiger Einsatzpläne zu beauftragen: "Es ist heuchlerisch, öffentlich militärisches Vorgehen im Kosovo zu fordern und hinter verschlossenen Türen in den Nato-Gremien zu verhindern, daß die dafür notwendigen Planungen vorgenommen werden dürfen."

Als der Nato-Rat in der Nacht zum 13. Oktober 1998 die Bundesrepublik Jugoslawien das erste Mal mit einem Ultimatum konfrontierte, schien die amerikanische Strategie tatsächlich aufgegangen zu sein. Das Ultimatum sollte der Öffentlichkeit vorgaukeln, daß nicht die jugoslawische Armee, sondern die Nato selbst die Kosovo-Krise bewältigt habe. Alle Beteiligten konnten zufrieden sein, außer Deutschland und der UCK. Erst nachdem sich diese im Norden Albaniens von ihrer Niederlage soweit erholt hatte, um die jugoslawische Armee im Januar 1999 erneut herauszufordern, schnappte die Falle zu.

Jetzt sah sich die Nato selber genötigt, das den UN entzogene Gewaltmonopol in Europa wahrzunehmen. Die Glaubwürdigkeit der Nato, im Klartext: die Rechtfertigung einer weiteren amerikanischen Militärpräsenz in Europa, stand auf dem Spiel und wurde zum alles beherrschenden Thema in Washington: "Jetzt gibt es keine Alternative mehr zur Fortsetzung und Intensivierung des Krieges, wenn nötig bis zum Einsatz von Bodentruppen - eine Lösung, gegen die ich bisher leidenschaftlich gekämpft habe, aber die jetzt erwogen werden muß, um die Glaubwürdigkeit der Nato zu wahren" (Ex-Außenminister Henry Kissinger am 2. April) und: "Wir machen weiter bis zum Sieg" (US-Präsident Clinton am 5. April).

Nun also führen die USA einen Krieg, den sie nicht nur nicht gewollt hatten, den sie auch schon deshalb nicht gewinnen können, weil sie auf der falschen Seite kämpfen. Als Luftwaffe der UCK spielen die USA jetzt genau die Rolle, in die sie Deutschland vor einem Jahr noch vergeblich zu drängen versuchte. Gleichwohl schwindet das amerikanische Ansehen nur noch mit jedem weiteren Versuch, die Glaubwürdigkeit der Nato durch täglich gesteigerten Bombenterror zu retten. Das ist wahrlich die Taktik, mit der ein zweites Vietnam gemacht wird.

Und so wird gleichzeitig das Klima geschaffen, in der die großalbanische Karte ausgespielt wird und sich ein Schreckensszenario verwirklichen könnte, vor dem die think tanks des US-Verteidigungsministeriums ihre Regierung gewarnt hatten: "Im schlimmsten Fall würde ein Konflikt im Kosovo sämtliche angrenzenden Staaten involvieren. Albaner würden massenweise aus dem Kosovo nach Mazedonien flüchten. Serbien könnte im Norden Mazedoniens eindringen, um aufständische Kosovo-Albaner, die dort ihre Stellungen haben, aufzuspüren. Griechenland würde Flüchtlingen aus dem Kosovo die Einreise verweigern. Da das kleine Mazedonien nicht in der Lage wäre, sich zu verteidigen, würde Bulgarien wahrscheinlich intervenieren, um die Mazedonier zu beschützen, denen sich die Bulgaren ethnisch verwandt fühlen. Albanien würde Kämpfer und Waffen in den Norden schicken, um der albanischen Minderheit in Mazedonien zu helfen. Die Türkei würde sich möglicherweise mit Aktionen gegen Griechen in Mazedonien oder in der Ägäis einmischen, wodurch die Südflanke der Nato zerbrechen und die Nato selbst in eine Krise gestürzt würde." (National Defense University, September 1994).

Schon melden sich die ersten deutschen Kriegsgegner zu Wort, um den blamierten Amerikanern ein hämisches "Ami, go home" hinterherzurufen: "Militärs denken an den Zusammenhalt der Nato und die USA daran, daß sie die geborene Führungsmacht sind. Das mag bisher so gewesen sein, aber bleiben darf es so nicht. Der jetzige verheerende Feldzug hat es gezeigt. Es geht hier nicht um Dank oder Undank. Wir Deutschen zumal hatten und haben den Amerikanern viel zu verdanken. Es geht um eine weltpolitische Strömung, an der wir teilhaben und in der wir mitrudern müssen. Aber nicht noch einmal darf man uns Deutsche in einen Krieg hineinzwingen. (...) Für die Deutschen sollte es das letzte Mal sein, daß sie bei einem 'Fehler' dieser Art mitmachen. Wir haben auf dem Balkan nur humanitär, nicht aber militärisch etwas zu suchen." (Rudolf Augstein im Spiegel vom 6. April 1999)

Im Kosovo steht heute nicht mehr bloß die Zerstörung Jugoslawiens auf der Tagesordnung, sondern die offene Blamage Amerikas und mithin die Zerschlagung der Nato als der letzten Bastion der europäischen Nachkriegsordnung. Durch die Beseitigung der Nato, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem amerikanischen Versprechen einer "dauerhaften Beendigung der Gefahr einer deutschen Vorherrschaft" (Brief des US-Außenministers Dean Acheson an den französichen Außenminister Robert Schumann vom 29. November 1949) gegründet worden war, könnte Deutschland selbst wieder zur allein bestimmenden Macht Europas heranwachsen.

Der Beitrag für eine Veranstaltung der Zeitschrift konkret wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt.