Einer fiel ins Kuckucksnest

Benjamin Leberts Roman "Crazy" ist eine ganz normale Internatsgeschichte

"Hallo, Leute. Ich heiße Benjamin Lebert, bin sechzehn Jahre alt, und ich bin ein Krüppel. Nur damit ihr es wißt. Ich dachte, es wäre von beiderseitigem Interesse." So stellt er sich seiner neuen Klasse im Internat vor. Den Spruch sagt er mittlerweile zum fünften Mal auf. Die Reaktionen sind überall gleich: Bei den Jungs ist er nur einer von den "alltäglichen Idioten" und bei den Mädels ist er schon "gestorben".

Benjamin, das ist der Kleine, Zurückhaltende. Er zieht wegen seiner halbseitigen Lähmung den Fuß nach, geht langsam und kommt nicht mit. Nicht in der Schule, nicht im Leben, nicht bei den Frauen. Ein Versager und Außenseiter, der sich ein besseres Leben erträumt. Er haßt Leonardo DiCaprio, weil alle Frauen ihn lieben. Benjamin finden sie nur seltsam, crazy eben.

"Crazy" ist auch der Titel von Benjamin Leberts Pubertäts-Roman. Erzählt wird die Geschichte von sechs Jungen im Internat Neuseelen in Bayern. Sie alle sind auf ihre Weise ein bißchen seltsam. Janosch, der dicke und der dünne Felix, Florian, Troy und eben Benjamin. Der dicke Felix zum Beispiel frißt dauernd Süßigkeiten, schwärmt für die Spice Girls und redet nur über Fußball. Florian, den "alle nur Mädchen nennen", kommt zwar beim weiblichen Geschlecht gut an, ist aber immer nur der "treue Kumpel" und nie der "richtige Lover". Troy steht wie der Besenhäuptling Bromden aus Ken Keseys "Einer flog übers Kuckucksnest" meist in der Ecke und sagt kein Wort.

Janosch ist der McMurphy unter den Internatsschülern. Er makiert den Starken und stiftet zu gemeinsamen Besuchen auf dem Mädchen-Korridor an. Den anderen ist es etwas unangenehm, sie wollen aber nicht uncool sein und machen mit. Der dicke Felix weiß, daß er sowieso keine Chance bei den Frauen hat. "Deswegen hasse ich mich auch so", sagt er und füllt sich mit Bier ab. Janosch versucht sein Bestes, und an Benjamin macht sich auch gleich ein Mädchen ran. "Denn nur in Menschen, die von Grund auf verschieden sind, wächst etwas Neues", flüstert sie ihm ins Ohr. Bei Gelegenheit werde er schon sehen, was da wachse, sagt sie und grinst. Die Gelegenheit läßt nicht lange auf sich warten. Im Waschraum wächst was, Lebert kommt und findet's crazy. Für den zweiten Tag im Internat ist das natürlich alles ein bißchen viel. "Anstatt zu schlafen, (Ö) zu saufen, was das Zeug hält, mal eben ein bißchen zu vögeln und nebenbei erwachsen zu werden. Das reicht für eine Nacht. Da würde jeder kotzen."

Darum geht es in "Crazy": Lebert, selbst erst siebzehn, thematisiert die Nebenbeschäftigung vieler Jugendlicher: das Erwachsenwerden. Dabei schaut er genau hin, prägt sich die Details ein, die Umgangsformen und Codes der Jugend. Und bringt mit einer vielleicht ungewollten Leichtigkeit so einfache Sätze in die Literatur zurück wie: "Ich finde dieses Mädchen schön." Wo andere sich mit allen möglichen Drogen zudröhnen, da bleibt der Autor Lebert nüchtern und zurückhaltend und notiert: "'Die Jugend ist Scheiße', antwortet Kugli. 'Man hat viel zu wenig Zeit. Immer muß man etwas machen.'"

Schreiben mußte er den Roman zwar nicht, aber er fragt sich schon: "Wen interessiert das?" Das deutsche Feuilleton zum Beispiel. Allein, daß ein Sechzehnjähriger ein Buch schreibt, ist schon crazy genug. Ob es dann gut oder schlecht ist, spielt gar keine Rolle mehr. Elke Heidenreich kriegt sich im Spiegel gar nicht wieder ein, ringt nach Worten, aber außer "wunderbar" und "bezaubernd" fällt ihr nicht viel ein. Die Woche schrieb über das "Boy-Wonder", und der Tagesspiegel erhob Lebert gleich zum "Hoffnungsträger der U-30-Literatur-Nationalmannschaft". Inzwischen sind die Filmrechte schon an die Produzenten von "Jenseits der Stille" und "23" verkauft, und Hans Christian Schmid hat sich bereit erklärt, "Crazy" zu verfilmen. Das kann Lebert alles egal sein. Das Buch hat sich in den ersten drei Tagen 10 000 mal verkauft. Berühmt werden wollte er sicher, der Grund, warum er "Crazy" geschrieben hat, ist aber ein anderer: "Alles, was ich wollte, war, etwas zu erzählen, um damit fertig zu werden." Lebert will kein "Hosenscheißer" mehr sein, der nur am Spielfeldrand des Lebens steht, er will selbst mitspielen und Tore schießen. So will der Roman auch gar keine Authentizität vortäuschen. Die Geschichte ist Autobiographie und Imagination zugleich, denn "Schriftsteller müssen immer schreiben, wie es ist, an etwas Tollem nicht teilnehmen zu dürfen".

In "Crazy" darf Lebert teilnehmen. Er ist der Held, der schließlich mit den Jungs aus dem Internat nach München flüchtet, um sich dort in einer Strip-Bar bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken. "Leben heißt soviel wie: nie darüber nachdenken", sagt er einmal. Dabei denken sie die ganze Zeit darüber nach, reflektieren und analysieren jede Kleinigkeit und werfen mit schlauen Sprüchen um sich: "Wir werden solange leben, bis es nichts mehr zu leben gibt." Oder: "Ich werde nicht alles erreichen, was ich will, aber ich werde alles ausprobieren, was ich kann." Diese altklugen Aphorismen wirken manchmal ein bißchen gewollt, wie abgeschrieben. An bekannte Vorlagen wie Robert Musils "Törleß", Hermann Hesses "Unterm Rad" oder J.D. Salingers "Fänger im Roggen" reicht "Crazy" dann doch nicht heran.

Obwohl es vermutlich nichts Schlimmeres gibt, als siebzehn zu sein, bleibt der Konflikt mit den Autoritäten aus. Die Jungs brechen für eine Nacht aus, um ihren Spaß zu haben, und kehren am nächsten Tag brav ins gemachte Nest zurück, weil sie eigentlich kleine Jungs bleiben wollen. Lebert selbst beschreibt sich als "Anfänger im Roggen" und hält das Buch für "keine superwahnsinnige Arbeit". "Es war eine Internatsgeschichte." Genau. Mehr eben auch nicht.

Benjamin Lebert: Crazy. Kiepenhauer & Witsch, Köln 1999, 175 S., DM 14,90