Kumpel ohne Illusionen

Fröhliche Prostituierte, Clown, Jewish Beatnik, emanzipierte Mutti - ein Rückblick auf das Lebenswerk von Shirley MacLaine.

Im Zirkel der Hollywood-Diven der späten Fünfziger und frühen Sechziger war Shirley MacLaine die Lässige ohne Allüren. Irdischer als die Liebesgöttinnen Elizabeth Taylor oder Marilyn Monroe - deren Glanz ohnehin schon am Verblassen war - haben ihre Rollen stets auch etwas von einem clownesken Tomboy. Zwar mit wahrnehmbarem Sexappeal, aber dabei immer schon mit der Camouflage als drolliger, tapsiger Kobold kokettierend, der schon im nächsten Moment beinah so traurig dreinschaut wie Giulietta Masina.

Aber das sind nur Momente, in denen Shirley MacLaines Mimik plötzlich erstarrt und ihr hibbeliges tänzelndes Temperament zum Stillstand kommt. Der sanft geschwungene Mund sinkt herab, als wollte er sich auf dem vorgestreckten Kinn niederlassen, der Blick geht nach innen oder in unbestimmte Ferne. Verschwunden die ostentative Naivität und die schelmische Schlagfertigkeit, die MacLaines Charaktere häufig zur Vorwärtsverteidigung einsetzen.

Die zwei Filme, die Shirley MacLaine unter der Regie von Billy Wilder, und beide Male als Partnerin von Jack Lemmon, drehte, zeigen am deutlichsten die von quirlig, manieriert und sophisticated bis kummervoll reichende Palette dieser ambivalenten Clownsfigur. In "The Apartment" von 1960 spielt sie die auf den ersten Blick stets aufgeräumt und witzig wirkende Fahrstuhlführerin Fran Kubelik, in der drei Jahre später gedrehten pastellfarbenen und notorischen Milieukomödie "Irma La Douce" die fröhliche Nutte mit goldenem Herzen.

Ganz weiblicher Kumpel, führt Fran in dem schwarzweißen "The Apartment" das bescheidene Dasein einer kleinen Angestellten, deren Privatleben sich als heimliche und zum Scheitern verurteilte Affäre mit ihrem verheirateten Chef gestaltet. Zugleich ist es eine exemplarische Geschichte über großstädtische Einsamkeit, die nicht zufällig zwischen Weihnachten und Neujahr und in einem unwirtlichen New York angesiedelt ist. Jack Lemmon spielt ihren hilflosen und ihr devot ergebenen Kollegen C.C. Baxter aus dem neunzehnten Stock des Versicherungsgebäudes, der sie schüchtern verehrt.

Ausgerechnet in seinem Junggesellen-Appartement, das zahlreiche seiner Kollegen häufig als kostenloses Stundenhotel nutzen, will Fran ihrem Leben und ihrer trostlosen Affäre ein Ende setzen. MacLaine gibt die Figur - um soziale Realistik bemüht - als Mädchen von nebenan, mit fransigem nichtblondem Kurzhaarschnitt, eine unbehauste Existenz trotzdem. Die sich verändernde Rollenverteilung von Männern und Frauen im modernen Berufsleben wird angedeutet, ebenso wie die sexuellen Implikationen der Situation.

Denn es geht hier nicht um aufgespoilte Ladenmädchen, sondern um die Durchschnittsexistenz einer alleinstehenden berufstätigen Großstädterin, die sich weder von Karriere noch von Ehe und Familie viel verspricht. Verglichen mit anderen Filmen der Ära paßt sie dabei weder in die landläufige Karikatur der bärbeißigen Karrieristin, noch bietet sie Optik und Gehabe des Ladentheken-Vamps, der eine Affäre aus materiellen Motiven eingeht. Fran ist eher eine Außenseiterin, und es ist ungewöhnlich, daß das Drehbuch sie nicht frühzeitig eliminiert oder zu moralischer Einsicht bekehrt, sondern sogar die Möglichkeit eines Happy End einräumt.

In ihrem wohl mit Abstand bekanntesten Film "Irma La Douce" (1963) setzte sich die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Wilder fort, obwohl eigentlich Elizabeth Taylor für die Rolle vorgesehen war. Hier bilden MacLaine als professionelle Straßenpflanze und Jack Lemmon als leicht verklemmter, neurotischer Streifenpolizist ein seltsames Paar; vor der detailverliebten Kulisse eines imaginären Paris, das allen philanthropischen Klischees des ach so lustigen Bohemelebens zwischen Straßenstrich und pittoresken Stundenhotels entspricht. Massen an antiker Ausstattung und Mobiliar wurden aus Paris herangekarrt, um im Studio die berühmte "Rue Casanova" aufzubauen. MacLaine, die für ihre Rolle eigens das Rotlichtmilieu des Distrikts rund um Les Halles inspizierte und die lokalen Verhältnisse studierte, entsteigt im Film dieser Umgebung als ihre legitime Gossenkönigin in grünen Strümpfen und provokanten Fähnchen.

Mit somnambuler Laszivität streift sie durch diesen Film, ist zwar kein verlorenes oder gefallenes Mädchen, muß aber statt dessen ein anderes, nur eben etwas moderneres Klischee bedienen. Denn die erfolgreiche Hure Irma, die ganz comme il faut den kleinen weißen Pudel oder für andere Anlässe den durchsichtigen Regenmantel ausführt, aber nie bei der Arbeit zu sehen ist, fungiert nicht nur für den naiven Saubermann Nestor Patou alias Jack Lemmon als Muse der Pariser Unterwelt und Sinnbild französischen Lotterlebens.

MacLaines Tanz auf dem Billardtisch, die burlesken Szenen in der Bar, wo sie ihre Arbeitspausen macht - all dies dient der Ausgestaltung des Traums vom vergnügten Prostituierten-Leben. Weswegen auch Shirley MacLaines Gesicht mit seinem bisweilen kindlichen Schmelz genau das richtige hierfür war und trotz aller moralischen Einwände Unschuld verhieß. Denn wenn auch die lebenskluge Irma für sich und ihren späteren Geliebten Nestor, der seinen Polizeijob an den Nagel hängt, den Unterhalt bestreitet, bleibt sie angreifbar. MacLaines resolut-schnippische und selbstbewußte Darstellung macht die Rolle trotzdem zu einem Paradestück und bewahrt die ironische Komödie davor, zur Verwechslungsposse um herzensgute Zuhälter und heiratswillige Kunden zu geraten.

MacLaine selbst stammt vom entgegengesetzten Ende des sozialen Spektrums. "I was born into a cliché-loving, middleclass Virginia family", beginnt ihr autobiographisches Buch "Don't Fall Off the Mountain", das auch wortreich Auskunft gibt über ihre Reisen u.a. nach China, Japan und Indien. Spätere Bücher berichten von ihren esoterischen Einsichten sowie ihrem politischen Engagement für die Demokraten, für die Wahlkampagnen der Kennedy-Brüder gemeinsam mit der Feministin Bella Abzug, etc.

1934 geboren als Shirley McLean Beaty, trainierte sie wegen schwacher Fußgelenke bereits als Dreijährige im Kinderballett. Beide Eltern sind stolze Südstaatler und bekennende Baptisten, die Mutter ehemals Collegedozentin für Schauspiel, der als Immobilienmakler arbeitende Vater früher Berufsmusiker. Gemeinsam mit dem jüngeren Bruder Warren, dem späteren Schauspieler und Womanizer Warren Beatty, sind sie daheim die "model children", die niemals Kekse im Wohnzimmer verkrümeln, und träumen heimlich von der Rebellion gegen die engen Verhältnisse.

Als sie sich nach Jahren des straff organisierten Mädchenlebens mit einem vollen Stundenplan mit Musik- und Gesangsstunden, Collegesport und Tanzstunden als Sechzehnjährige ausgerechnet bei einer Cinderella-Vorstellung den Knöchel bricht und Monate flachliegt, plant sie, sobald als möglich nach New York zu gehen. Das erste schäbige Appartement in Harlem, retrospektiv "Königreich der Wanzen und Schaben" genannt, mietet sie von ihren Einkünften als Babysitterin. Sie nimmt weiter Tanzstunden und jobbt im Schwanenkostüm als Eistänzerin für eine Kühlschrank-Werbeshow. Monatelang lebt die spätere Kochbuchautorin von einer Diät aus gestreckter Limonade, Crackern und Erdnußbutterbroten.

Ihre erste Filmrolle bekommt sie, als ein Paramount-Produzent sie als Krankheitsvertretung auf der Bühne sieht. Screen-Test und ein Siebenjahres-Vertrag folgen 1954. Wenig später trifft die völlig filmunerfahrene MacLaine Alfred Hitchcock, der für die Rolle der jungen alleinerziehenden Mutter in der makabren Komödie "The Trouble with Harry" eine Besetzung sucht. Der für seinen rüden Umgang mit Schauspielerinnen berüchtigte Regisseur reagiert erfreut über ihren Mangel an professioneller Bühnenerfahrung. So müsse er wenigstens "weniger alte Knoten aufdröseln".

Anders als Hitchcocks Krimis und Thriller bis dahin, hat "The Trouble with Harry" (1955) nur einen Minimal-Plot, der die schwarzhumorige Geschichte am Laufen hält. Ein halbes Dutzend Mal wird die Leiche eines gewissen Harry, die zuerst friedlich im rotgoldenen Herbstlaub liegt, von einer Handvoll Kleinstädter ein- und ausgegraben. Währenddessen bahnen sich zwei Romanzen an, wird Blaubeerpastete verspeist und lakonisch über Gott und die Welt geplaudert. MacLaine überzeugt in ihrem Debütfilm als patente, emanzipierte Twen-Mutti, und profiliert sich damit als Darstellerin burschikoser Frauenfiguren, was ein Aspekt fast all ihrer Rollen bleibt.

Es folgen Filme wie "Some Came Running" (Vincente Minelli, 1958) an der Seite von Dean Martin und Frank Sinatra, eine ihrer ersten Rollen als gestraucheltes Mädchen, das sich nach Kräften wehrt, ein Opfer puritanischer Doppelmoral zu werden. Musical-Adaptionen wie "Can-Can" (Walter Lang, 1960), wo MacLaine von einer Cole Porter-Nummer zu nächsten hetzt, oder wesentlich später die völlig hysterische Puff-Klamotte "Sweet Charity" (Peter Stone, 1968) - mit einer frisch verliebten MacLaine, die in roten Lackstiefeln manisch mit ihrer Tänzergruppe um die Wette exerziert - zeigen vor allem die Entertainerin.

Anfang der Achtziger hat sie nach einer erfolglosen Fernsehshow und einigen Filmflops ein überraschendes Comeback in Hal Ashbys Satire "Being There" (dt. "Willkommen, Mr. Chance", 1979). Zu sehen ist Peter Sellers als Gärtner, der in einer Second-Hand-Realität lebt: dem Fernsehen. MacLaine brilliert hier in dem eigentlich als Nebenrolle angelegten Part der unterbeschäftigten Ehefrau eines treulosen Industriekapitäns. Darstellerisch reifer und versierter, mit Verzicht auf frühere Manierismen und fernab oberflächlicher Komik geht sie auch die Mainstream-Produktion "Terms of Endearment" an, ebenso wie die Rolle der exzentrischen Klavierlehrerin "Madame Sousatzka" (John Schlesinger, 1988).

Die ihr gewidmete Hommage während der diesjährigen Berlinale zeigt zwei seltene Werke, die vielleicht ihre schönsten Arbeiten sind: "Two for the Seesaw" (Robert Wise, 1962; dt. "Spiel zu Zweit") und "The Children's Hour" (William Wyler, 1962; dt. "Infam"). Die erste ist ein in schwarzweiß gedrehter Anti-Liebesfilm, bei dem neben MacLaine als "jewish beatnik" - einer schrulligen und warmherzigen kleinen Tänzerin namens Gittel Mosca - und Robert Mitchum als eheflüchtigem Provinzanwalt, die Architektur und die Stadt die dritte Hauptrolle spielen. Die Lebenskünstlerin aus dem Village mit der Überdosis an Common sense und der entwurzelte Provinzler aus dem Mittelwesten wollen nicht recht zusammenpassen.

Nicht einmal einen gemeinsamen Ort hat das Paar in den entscheidenden Szenen des Films. Schräg gefilmte Aufnahmen beider in ihren Wohnungen sind in der Bildmitte als split screen zusammenmontiert. Links sie, rechts er, jeder an seinem Telefonhörer. Streckenweise wirkt der Film wie eine Reprise einiger aus Wilders "The Apartment" bekannter Motive. Fran und Gittel sind beides Vorläuferinnen der Heldinnen späterer feministischer Aufbruchsfilme, dabei um einiges charmanter. Wie viele von MacLaines Frauencharakteren suchen sie "Liebe ohne romantische Illusionen", so die Filmwissenschaftlerin Patricia Erens.

Eine ihrer besten Leinwandrollen aber spielte MacLaine in Wylers Drama "The Children's Hour", in der konzentrierten Charakterstudie der jungen Lehrerin Martha Dobie, die an Gerüchten, sie habe eine lesbische Beziehung zu ihrer Kollegin und besten Freundin Karen (Audrey Hepburn) zerbricht. Obgleich der Film einige Stereotype über lesbische Leinwandcharaktere unbesehen reproduziert, ist die Verfilmung von Lillian Hellmans Theaterstück ein meisterhaft mit Blickwechseln zwischen Hepburn und MacLaine arbeitendes psychologisches Drama vor dem Hintergrund einer Kleinstadt-Intrige.

Subtil steigert MacLaines Spiel dabei die schließlich für sie selbstzerstörerische Spannung ihres inneren Konflikts zwischen Unterstellung und ihren wahren Gefühlen. Sind die beiden Lehrerinnen augenscheinlich unschuldige Opfer übler Nachrede, zwei sympathische junge Frauen, so zieht das Drehbuch dennoch die Schlinge zu und macht Martha zu einer gewissermaßen ähnlich anachronistischen Figur wie Fran Kubelik oder die kapriziöse New Yorkerin Gittel Mosca. Zwar nicht ohne Allüren, aber modern.

Zur Hommage auf der Berlinale erscheint bei Jovis, Berlin, eine von der Stiftung Deutsche Kinemathek herausgegebene Monographie, "Shirley MacLaine", 126 S., DM 29,80