Entsicherter Kapitalismus

Die sozialen Auswirkungen der Asien-Krise werden völlig unterschätzt, erklärt die Internationale Arbeitsorganisation in einer neuen Studie

Die Opfer der Asien-Krise sind vor allem die Menschen in der Region. Um diese Tatsache - so banal sie auch klingen mag - will die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Gedankenwelt der Banker und Finanzexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der westlichen Industrienationen erweitern.

Das ist auch notwendig: Die bisherigen Hilfsprogramme sind einseitig auf die Wiederherstellung des Vertrauens der Investoren in die ehemaligen Tigerstaaten und auf finanzielle Stabilität gerichtet. Die soziale Dimension der Asien-Krise wird nach Ansicht der ILO hingegen völlig unterschätzt.

In ihrer jüngsten Studie zum Thema vergleicht die ILO die Situation in Asien mit der Zeit der großen Depression in den dreißiger Jahren. Ähnlich wie damals in den USA und anderen Industriestaaten seien jetzt die südostasiatischen Länder aufgefordert, sich auf einen neuen sozialen Gesellschaftsvertrag zu einigen. Soziale Sicherheit sei eine Vorbedingung für ökonomisches Wachstum.

Wenn das stimmt, sieht es für die ehemaligen Musterknaben der nachholenden Entwicklung düster aus: In Indonesien ging in diesem Jahr jeder fünfte offizielle Arbeitsplatz verloren. Davon sind etwa vier bis fünf Millionen ArbeiterInnen mit ihren Familien betroffen. Weitere 40 Millionen Menschen werden in naher Zukunft unter der Armutsgrenze leben. In Südkorea erwartet man die Verarmung von zwölf Prozent der Bevölkerung; die Arbeitslosenrate dort ist innerhalb von neun Monaten (November 1997 bis Juli 1998) von 2,3 auf 8,2 Prozent gestiegen. In Südkorea gibt es zwar - einzigartig in Südostasien - eine Arbeitslosenversicherung. Die Hilfe vom Staat ist aber äußerst dürftig, reicht kaum für die Existenzsicherung aus und wird nur für kurze Zeit gewährt. In Thailand leben nach ILO-Angaben derzeit 16 Prozent der Bevölkerung in Armut, weitere zwölf Prozent werden durch die weiter steigende Arbeitslosigkeit hinzukommen.

Die südostasiatischen Länder waren auf die große Wirtschaftskrise ganz und gar nicht vorbereitet. In den "goldenen Jahren" der Tigerstaaten schienen soziale Sicherungssysteme unnötig: Enormes Wirtschaftswachstum ermöglichte nahezu Vollbeschäftigung. Wozu also Geld vom Staat, wenn doch alle Arbeit haben? Nach den Vorhersagen der ILO werden diese Zeiten, wenn überhaupt, so bald nicht mehr wiederkehren. Diese neue Realität müsse endlich anerkannt werden, das "asiatische Entwicklungsmodell" sei daher um eine soziale Komponente zu ergänzen. Nur damit sei ein Umbau des wirtschaftlichen und politischen Systems ohne weitere soziale Katastrophen zu bewältigen.

Die Suche nach einem Ausweg aus der Krise wird aus der Sicht der ILO-Autoren auch durch die einseitige Analyse des IWF und der Mainstream-Ökonomen verhindert. Denn die bisherigen Erklärungen, die das Versagen des politischen Systems fast ausschließlich auf die "Vetternwirtschaft" und Korruption ("crony capitalism") in der Region zurückführten (und damit als internes Problem der jeweiligen Staaten definierten), sind unzureichend. Mindestens ebenso wichtig ist nach Ansicht der Autoren die völlig überhöhte Kreditaufnahme im Ausland, die fehlende Kontrolle des Bankensektors und die völlige Liberalisierung der Kapitalmärkte - obwohl in den Ländern kein wirksames Konzept für den Umgang mit den hohen Kapitalzuflüssen existierte.

Ohne den IWF namentlich zu erwähnen, kritisieren die Genfer ILO-Autoren auch die einseitige Fixierung der westlichen Therapeuten der "asiatischen Grippe". Ob das "originelle" und "interessante" Beispiel Malaysia, dessen Wirtschaft sich von den internationalen Kapitalmärkten abgekoppelt hat, besser funktioniere als orthodoxe Methoden - weitere Liberalisierung bei gleichzeitiger Nachhilfe für asiatische Banken und Ratschläge für "gute Regierungspolitik" - sei zwar noch nicht entschieden, zumindest aber müsse die Institution bei derart unterschiedlichen Ansichten etwas mehr Flexibilität als sonst üblich zeigen.

Die bisherigen Versuche des IWF, durch Genehmigung großer Kreditsummen für staatliche Beschäftigungsprogramme wie in Indonesien und Thailand die soziale Situation zu entschärfen, sei jedenfalls gründlich mißlungen. In Thailand fanden nur sieben Prozent der Arbeitslosen, in Indonesien (optimistisch geschätzt) zehn Prozent einen neuen, vom Staat finanzierten Arbeitsplatz. Als einen ersten Schritt für soziale Verbesserungen schlägt die ILO daher den Aufbau einer wirksamen Arbeitslosenversicherung vor.

Die Einführung neuer sozialer Sicherheitssysteme sei auch bezahlbar. Bei einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das größer ist als in einigen OECD-Staaten, steht das für die ILO außer Frage. Die ILO-Ökonomen haben nachgerechnet: Sozialabgaben der Beschäftigten in Höhe von nur 0,4 Prozent der Löhne würden ausreichen, um entlassenen ArbeiterInnen zumindest ein Jahr lang staatliche Unterstützung zu garantieren.

Eine weitere Bedingung für ein neues Sozialsystem in den angeschlagenen Tigerstaaten sieht die ILO in der Respektierung von gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen der Arbeitnehmer. Den Einwand, ein solcher Vorschlag sei zu stark an westlichen Denkschemata orientiert und unvereinbar mit "asiatischen Werten", läßt die ILO nicht gelten. Eine besondere Loyalität gegenüber Staat und Betrieb anstelle des Beharrens auf individuellen Bürgerrechten ließe sich aus der asiatischen Tradition nicht ableiten. Der Vorrang allgemeiner vor den individuellen Rechten sei der Bevölkerung von autoritären Regierungen aufgezwungen worden.

Das Philosophieren über die "asiatischen Werte" - zumindest bis vor zwei Jahren ein Standard in Fortbildungsveranstaltungen für Manager - entpuppt sich also als Schützenhilfe für die Unterdrückung der unter der Asien-Krise leidenden Bevölkerung.

Wie weit die Tigerstaaten von einem neuen Gesellschaftsvertrag nach den Vorstellungen der ILO entfernt sind, zeigte sich zuerst brutal in diesem Sommer auf dem Firmengelände der Hyundai-Werke in Südkorea: Erst durch die Drohung mit einem Militäreinsatz schaffte es die südkoreanische Regierung, einen Streik der Hyundai-Arbeiter gegen Massenentlassungen aufzulösen.