»Für die Engländer ist Oscar Wilde zuerst ein Homosexuelle«

Gespräch mit dem Oscar Wilde-Enkel Merlin Holland

Sie beschäftigen sich seit zwanzig Jahren mit der Biographie und den Werken Oscar Wildes. Was wissen Sie über Ihren Großvater, was wir noch nicht wissen?

Ich arbeite schon seit längerem an einer umfassenden Ausgabe des Briefwechsels von Oscar Wilde. Und seit 15 Jahren habe ich die Idee im Kopf zu einem Buch, das sich mit dem Vermächtnis von Wilde beschäftigt. Ich wandte mich an einen Verleger. Der sagte: "Ich werde die beiden Bücher gerne veröffentlichen. Aber ich brauche dringend für das Weihnachtsgeschäft 1997 ein Bilderbuch über Wilde."

... das jetzt auch in Deutschland erschienen ist unter dem Titel "Oscar-Wilde-Album".

Man kann Oscar Wilde schlecht von seinem Werk trennen, das natürlich durch die Emotionen der Jahre zwischen 1885 und 1897 gezeichnet ist (1895 wurde Wilde wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus verurteil; d. Red.) Das habe ich ausgewertet. Nichts sensationell Neues. Wichtig sind die 250 Fotos und Karikaturen von Oscar und seiner Familie.

Wie ist die Familie mit dem berühmten Großvater umgegangen, und wie ist sie mit dem Skandal fertig geworden?

Meinen Vater hat die ganze Sache emotional sehr bewegt. 1945 hat er sein Buch "Erbe eines Urteils" veröffentlicht, und bis zu seinem Tod 1967 hat er nicht verwunden, daß Constance, seine Mutter, wegen der ganzen Aufregung früher als Oscar gestorben ist - daß Oscars Verhalten zu ihrem frühen Tod beigetragen hatte.

Verglichen mit meinem Vater war für mich das Ganze viel unspektakulärer. Ich habe es zwar immer noch herumtragen müssen, hatte aber den Vorteil, den Namen Holland zu tragen und nicht den Namen Wilde. Es ist schlimm genug, der Enkel von Oscar Wilde zu sein. Da ist ein Erwartungsdruck. Ich habe meinen eigenen Weg gewählt. Dennoch beschäftige ich mich seit Jahren mit Oscar Wilde.

Die Biographen von Wilde erfinden immer weitere Skandale, was gar nicht notwendig ist, denn sein Leben war skandalös genug. In Richard Allmans Biographie findet sich beispielsweise ein Foto, das Oscar als Salome verkleidet zeigen soll. In Wirklichkeit handelt es sich um eine ungarische Opernsängerin, fotografiert 1906 in Köln. Da wurden spektakuläre Geschichten von renommierten Historikern einfach erfunden, um etwas scheinbar Neues zu präsentieren.

Seit den Tagen der Königin Victoria hat sich anscheinend nicht viel geändert. Im Sunday Telegraph wurde darüber spekuliert, daß auch Sie schwul sind, weil Sie mit einem Ballettänzer in einer Wohngemeinschaft lebten. Die englische Öffentlichkeit scheint anzunehmen, Homosexualität sei erblich.

Ich glaube, die Franzosen oder die Deutschen haben Wilde immer in erster Linie als Künstler angesehen. Die Engländer sehen ihn zuerst als Homosexuellen. Auf dem Kontinent wird der Künstler viel heftiger verehrt als in England. Der Künstler gilt in England nicht sehr viel. Die Engländer sind von der Idee der erblichen Homosexualität besessen. Ich habe keine homosexuellen Neigungen.

Ich war vielleicht fünf Jahre alt, als ich in der Schule meinen Arm um die Schultern meines besten Freundes gelegt hatte. Die Lehrerin wußte, wer ich bin, und dachte vermutlich: "Da kommt das schlechte Blut, die bösen Wilde-Gene!" Und sie hat uns so weit wie möglich im Klassenraum auseinander gesetzt.

Wilde inszenierte sich wie nach ihm Andy Warhol oder Joseph Beuys, der bei sengender Sommerhitze in einem dicken Bärenpelzmantel durch die Gassen von Neapel spazierte. Posen und Imagepflege sind so wichtig wie das Kunstwerk ...

Völlig richtig. Oscar kannte natürlich die Macht der neuen Medien, wie z.B. die der Fotografie. In meinem Buch finden Sie die komplette Serie einer Sitzung mit dem New Yorker Fotografen Napoleon Sarony. Als Sarah Bernard nach New York kam, hatte sie von Sarony 1 500 Dollar für das Posieren verlangt. Oscar dagegen hatte keine Gage gefordert. So entstanden eine Vielzahl von Sarony-Fotos. Die Bilder haben eine enorme Verbreitung gefunden, sogar in der Werbung. Oscar Wilde muß ein sehr gutes Gespür für Öffentlichkeit gehabt zu haben. Die Tatsache, daß sein "Dorian Gray" in der englischen Presse kein gnädiges Echo gefunden hatte, machte ihm nichts aus. Ihm war wohl klar, wie man heute sagen würde: All publicity is good publicity!

Wilde machte eine sehr erfolgreiche Vortragsreise durch die USA, und zwar als Schriftsteller, der bis dahin kaum geschrieben hatte.

In England hatte die Operette "Patience" großen Erfolg, in der die neue Bewegung des Ästhetizismus ein wenig auf die Schippe genommen wurde. Als "Patience" in den USA anlief, wollte man den Amerikanern einen leibhaftigen englischen Ästhetizisten vorführen. Diese Vorstellung ist ihm aber doch sehr gut gelungen. Es wurde viel in der englischen Presse darüber berichtet, und er kam nach einem Jahr wieder nach Hause und war berühmt.

Dem Klischee nach ist Oscar Wilde der extravagante Poet im Morgenmantel, der an seiner Opiumzigarette zieht. Sie zeigen einen anderen Oscar Wilde, der selbst den größten Raufbold des Gymnasiums k.o. schlägt oder die Kohle-Kumpel unter den Tisch säuft. Wie paßt beides zusammen?

Oscar Wilde ist eben ein sehr paradoxer Charakter.

Ein bekennender Sünder, der das Papst-Bild in seinem Zimmer hängen hatte.

Wilde war Protestant, hatte aber lebenslängliche Neigungen zur katholischen Kirche. 1899 ist Wilde nach Rom gefahren, und der Papst hat ihn persönlich gesegnet. Man kann bei Oscar Wilde nie von Entweder-Oder sprechen. Er ist Sowohl-als-Auch.

Wenn man versucht, Wilde in die homosexuelle Ecke zu stellen, würde er sagen: Well, ich habe auch eine Ehefrau und zwei Kinder gehabt. Den Iren ist Wilde zu englisch. Aber in seinen Briefen gibt es Passagen, in denen er sich als irischer Nationalist erklärt.

Eine weniger bekannte Seite Wildes können wir in dessen Essay "Die Seele der Menschen im Sozialismus" entdecken. Er erweist sich als brillanter und klarsichtiger Analytiker der kapitalistischen Gesellschaft. Seine Anschauungen changieren zwischen Marx, Bakunin und Hegel. Woher rührte das Interesse für soziale und politischen Thematiken?

Sein Vater, Sir William Wilde, war ein bedeutender Arzt seiner Zeit. Die mittellosen Patienten behandelte er kostenlos oder ließ sich als Honorar eine irische Sage erzählen.

Die Mutter Speranza schrieb selbst in den neunziger Jahren noch politische Aufsätze, u.a. "On the Bondage of Women". Sie stellt hier die Frage, warum Frauen nicht auch Diplomatinnen sein sollen. 1996 habe ich zu Speranzas Todestag in Dublin ein neues Denkmal für sie errichten lassen. Zu diesem Anlaß kamen hochrangige Diplomatinnen, für England Veronica Sutherland und Jeanne Kennedy Smith für die USA - Speranzas Vision wurde Wirklichkeit. Im Trinity College, wo Oscar studiert hatte, liegt im Archiv eine Unterschriftenliste, die die Zugangsberechtigung für Frauen fordert. Die ersten beiden Unterschriften stammen von Speranza und Oscars Frau Constance.

Warum hat man Oscar Wilde so unerbittlich verfolgt, Homosexualität war ja nicht gerade ein seltenes Delikt im Königreich?

Oscar war der Prügelknabe für eine Regierung, die gerade vor den Wahlen stand. Wilde wurde im Mai 1895 verurteilt, gewählt wurde im Juli 1895. Er ist nicht das Opfer eines Justizirrtums. Er verstieß gegen das Gesetz. Das Gesetz gegen männliche Homosexualität galt seit zehn Jahren.

Einige Zeit vorher war eine große Anzahl Adliger in die sogenannte Telegraph-Boys-Affäre verwickelt gewesen. Damals wurde alles vertuscht. Diesmal wollte die Regierung beweisen, daß sie nicht nur bellen, sondern auch beißen kann. Da kam Wilde gerade recht.

Wilde hatte sich in der Öffentlichkeit mit Lord Alfred Douglas gezeigt.

Die Welt glaubt immer noch, Wilde sei ins Gefängnis gekommen, weil er mit Lord Alfred Douglas eine Beziehung hatte. Oscar hatte einen Prozeß gegen den Vater von Alfred Douglas angestrengt. Dabei kam heraus, daß Oscar Beziehungen zu männlichen Prostituierten am Piccadilly hatte. Das, und nicht die Beziehung zu Alfred Douglas, war der Grund, daß der Staat Wilde anklagte.

Mußte Wilde nicht auch dafür büßen, daß er der Exponent einer Kunst war, die die Gesellschaft für krank, morbid und degeneriert hielt?

Ohne Zweifel. England war zu jener Zeit das mächtigste Land der Welt, die englische Gesellschaft die korrupteste. Die Dekadenz von Wilde war subversiv. In "The Importance of Being Earnest" reden Algy und Jack miteinander. Und Algy sagt: "Jede Frau wird wie ihre Mutter: Das ist ihre Tragödie! Jeder Mann wird nicht wie seine Mutter." Alle lachen darüber, aber wer weiß eigentlich, was damit gemeint ist? Ich glaube, er will sagen: Gwendolyn wird wie Lady Bracknell, also ganz schlimm. Männer sollen entsprechend nicht zu Lady Bracknell werden, aber ihre empfindsame weibliche Seite akzeptieren, damit wir zu einer sanfteren besseren Welt gelangen, nicht diese au-toritäre koloniale Macht, die für Gefühle keine Zeit hat. Deswegen wollte man Oscar ausradieren.

Sie wollen Ihren Namen im Jahr 2000 in Wilde umbenennen.

Jahrelang habe ich gesagt, daß ich meinen Namen nicht ändern möchte, es bräuchte sehr viel Mut, dies zu tun. Am besten täte ich das auf meinem Sterbebett, dann müßte ich nicht die Konsequenzen tragen. Ich werde meinen Namen nicht ändern, bis ich meine beiden geplanten Bücher herausgegeben habe, damit mir niemand vorwerfen kann, ich wolle aus dem Namen Oscar Wildes einen Vorteil ziehen. Am 30. November 2000 wird der 100. Todestag von Oscar Wilde sein. Das wäre vielleicht ein Anlaß.

Zurück zu Ihren Buch-Plänen ...

Da ist erstmal dieses Buch, "The Legacy of Oscar Wilde" ("Das Vermächtnis des Oscar Wilde"), der Nachhall der Streitigkeiten von Freunden und Feinden mindestens bis 1945. Es war, als ob für die Leute Oscar als Marionettenspieler die Fäden immer noch gezogen hätte. Unter den Wilde-Biographen kam es fast zu Prügeleien: Frank Harris, George Bernard Shaw, Robert Sherad haben sich sozusagen mit Worten geschlagen. Diese Geschichten sind teilweise haarsträubend, und nur die wenigsten sind bisher bekannt.

Eine Geschichte der Wilde-Biographen?

Ja, und das hört nicht 1945 mit dem Tod von Alfred Douglas auf. Da lebte mein Vater noch, und es gibt Geschichten, die mit meinem Vater eng verbunden sind. Geschichten, die kaum zu glauben sind. Das sind Sachen, die niemand außerhalb der Familie weiß. Der ferne Widerhall, der sogar heute noch die Familien angeht.

Merlin Holland: Das Oscar-Wilde-Album. Karl Blessing Verlag, München 1998, 195 S., 250 Abb., DM 39,90