Milan Kundera stellt die W-Fragen

Der Roman zum Identitätsproblem.

Treu geblieben ist sich Milan Kundera mit seinem ersten Roman, den er in französischer Sprache geschrieben hat, in der Wahl seiner Motive - Frauen, die durch die Gunst der Männer den Status des unfertigen Menschen hinter sich zu lassen glauben, eine mitunter doch großartige Schwadroniererei über den Lauf der Dinge, Nachdenkliches über die Liebe, welche im fortgeschrittenen Alter dem Autor nur noch eine traurige Einsamkeit ist, die den Tod vorwegnimmt.

Chantal ist eine hochdotierte Werbemanagerin Mitte Fünfzig. Kundera läßt sie im Roman "Die Identität" am Strand spazierengehen und vor sich hin träumen. Sie könnte z.B. Familienvätern, die mit ihren Kindern Drachen steigen lassen, "mit den obszönsten Worten eine erotische Aufforderung ins Ohr flüstern". Aber keiner findet sie mehr sexy, deshalb läßt sie von ihrem Plan ab. Die Männer würden sagen: "Laß mich in Ruhe, ich bin beschäftigt." Sie erkennt: "Die Männer drehen sich nicht mehr nach mir um."

Ihr Freund Jean Marc, ein auch nicht mehr ganz junger gescheiterter Medizinstudent, hat nach dem Ende seiner Karrierepläne alle Ambitionen verloren und Chantal nunmehr zum Gravitationszentrum seines freudlosen Daseins bestimmt. Aus dem Gleichgewicht gerät Jean-Marc, als er eines Tages seine Geliebte mit einer völlig Fremden verwechselt, die allerdings, aus der Nähe betrachtet, nicht nur deutlich älter wirkt als Chantal, sondern auch sehr häßlich ist.

Die Verwechslung beschäftigt Jean-Marc fortan. "Wie kann es sein, daß er die Gestalt des am meisten geliebten Menschen, des Menschen, den er für unvergleichlich hält, nicht zu erkennen vermag?" Chantal offenbart ihm ihre Existenzängste, die sich noch lustvoll steigern, als sie einen anonymen Brief aus der Post fischt: "Ich folge Ihnen wie ein Spion. Sie sind sehr schön", schreibt ihr Jean-Marc, der in die Rolle des fremden Bewunderers geschlüpft ist.

Jean-Marc plagt plötzlich die Eifersucht, denn Chantal hält diese Briefe vor ihm versteckt. In einem Anfall von Raserei durchwühlt er, der moderne Cyrano de Bergerac, die Unterwäsche im Schrank seiner Freundin. Als sein Spiel auffliegt, gerät die Beziehung aus den Fugen. Weder die involvierten Personen noch die Leser können zwischen realer Handlungs- und Traumebene unterscheiden, wenn Jean-Marc und Chantal sich plötzlich auf einer Sex-Party des Vergessens im Londoner Rotlicht-Milieu wiederfinden. Plötzlich scheint für die Figuren alles anders zu sein.

Entspricht das Bild, das sich Jean-Marc von seiner Geliebten macht, tatsächlich der Wirklichkeit? Oder ist es das Bild, das er entworfen hat, um sich selbst, der am Rand der Gesellschaft lebt, eine warme Stube und den Aufenthalt in teuren Restaurants zu finanzieren? "Wenn er sie nur mit dem Gesicht gekannt hätte, das sie ihren Kollegen, ihren Chefs, ihren Untergebenen zeigt, hätte dieses Gesicht ihn berührt und entzückt? Auf diese Frage hat er keine Antwort." Jean-Marc erklärt sich die Einzigartigkeit seiner Geliebten so: "Geheim ist das Allgemeinste, das Banalste, das Repetitivste und allen Eigene: der Körper und seine Bedürfnisse, seine Krankheiten, seine Eigenheiten, zum Beispiel Verstopfung oder die Periode. Wenn wir diese Intimität schamhaft verbergen, so nicht, weil sie derartig persönlich sind, sondern im Gegenteil, weil sie so beklagenswert unpersönlich sind. Wie kann er es Chantal übelnehmen, daß sie ihrem Geschlecht angehört, daß sie anderen Frauen gleicht, daß sie einen Büstenhalter hat und damit die Psychologie des Büstenhalters?"

Auch Chantal, die sich fragt, was sie zu dem macht, was sie ist, verliert den Boden unter den Füßen. An einem unbekannten Ort, in einem fremden Haus wird sie nicht nur ihrer Kleider, sondern auch ihres Namens beraubt, als einziger Beweis ihrer Existenz verbleibt ihr Körper, nackt, unter Dutzenden von anderen. Der Tod, so schließt der Roman, ist der Verlust von Identität. Und umgekehrt.

Kundera begleitet die Handlung, indem er wichtige W-Fragen stellt: "Aber wenn es so ist, wozu sind wir dann hinieden? Wozu leben wir?" Und "Wie konnte ein Trotzkist gläubig werden? Wo ist die Logik?" Fragen über Fragen. Die Antwort kennt nur - und schon ist der Roman zu Ende.

Aber das Leben, erfährt man, ist ein "Baum der Möglichkeiten", deren Aufhebung die eine große Liebe mit sich bringt. Auch überlebt keine Liebe die Sprachlosigkeit. Poetische Bilder aber machen noch keinen Roman. Kunderas Protagonisten bleiben einer skurrilen Welt der philosophierenden Marketing-Designer verhaftet, und selbst dort fühlen sie sich nicht wirklich zu Hause. Mit ihren realen Vorbildern teilen sie deren Ausstrahlung der Belanglosigkeit. Daß sie gleichzeitig auch die großen Fragen der Menschheitsgeschichte bearbeiten, bewirkt, daß sie an ihrer eigenen Konstruiertheit scheitern.

Als Gegenspieler stehen sich Marx und Gott gegenüber: Soll der Mensch die Welt verändern, oder ist es ihm auf das Strengste untersagt? Am Ende zieht Marx den kürzeren: Alle Veränderungen sind unheilvoll, im rasenden Fluß der Dinge ist der Mensch nur ein Werkzeug, das Geheimste ist das Allgemeinste, Banalste, der Körper, und als Lebenszweck bleibt: ficken, ficken, ficken. "Die Bibel verlangt nämlich nicht von uns, den Sinn des Lebens zu suchen. Sie verlangt von uns, sich zu vermehren." Oder sind wir damit nicht doch nur alle "Maskenbildner der Jämmerlichkeit"? Kundera bejaht, nicht ohne aus der Not eine Tugend zu machen: "Während sie in Jämmerlichkeit leben, können sie unglücklich oder glücklich sein. In dieser Wahl besteht ihre Freiheit."

Milan Kundera: Die Identität. Hanser, München 1998. 162 S., DM 29,80